Drohende Entführung vietnamesischer Frau: Die Verfolgte
Vor sechs Jahren entführte der vietnamesische Geheimdienst in Berlin einen abtrünnigen Funktionär. Nun droht einer Frau ein ähnliches Schicksal.
Es war das erste Mal seit dem Kalten Krieg, dass eine Entführung durch einen ausländischen Geheimdienst auf deutschem Boden öffentlich bekannt wurde: Im Sommer 2017 entführte der vietnamesische Geheimdienst am helllichten Tag mitten in Berlin einen abtrünnigen vietnamesischen Wirtschaftsfunktionär, Trinh Xuan Thanh. In einer filmreifen Aktion wurde er bis nach Hanoi gebracht. Dort sitzt er nun eine lebenslange Haftstrafe ab.
Das Auswärtige Amt reagierte damals empört, bestellte den vietnamesischen Botschafter ein und wies zwei Diplomaten aus. Doch nun könnte sich der Fall auf ähnliche Weise wiederholen. Denn erneut hat sich jemand nach Deutschland geflüchtet, der von Hanoi mit Hochdruck gesucht wird, diesmal ist es eine Frau: Nguyễn Thị Thanh Nhàn.
Der 54-Jährigen kam bis vor Kurzem in Vietnam eine wichtige Rolle zu: Sie brachte Waren ins Land, die der südostasiatische Staat eigentlich nicht bekommen dürfte, hauptsächlich Rüstungsgüter. Die Außenhandelskauffrau, die neben ihrer Muttersprache Vietnamesisch fließend Englisch, Russisch und Japanisch sowie ein wenig Chinesisch spricht, war bis zu ihrer Flucht aus Vietnam Vorstandsvorsitzende der Progressive International Corporation AIC, eines vietnamesischen Unternehmens, das im Außenhandel, in der Vermittlung vietnamesischer Arbeitskräfte ins Ausland, aber auch in Bauprojekten im Inland tätig ist.
Auch international ist Nguyễn Thị Thanh Nhàn angesehen. Eine russische Akademie hat ihr zwei Ehrendoktorwürden verliehen. 2018 ehrte sie zudem die japanische Regierung mit dem Orden der aufgehenden Sonne, einer der höchsten Auszeichnungen Japans. Ihr werden hervorragende Beziehungen auch nach Israel nachgesagt.
Im Mai 2022 aber gab es dann Haftbefehle gegen Nguyễn Thị Thanh Nhàn, mehrere Mitarbeiter*innen ihres Unternehmens AIC sowie lokale Gesundheitspolitiker*innen. Es geht um Betrug und Korruption bei den Ausschreibungen für den Bau eines Krankenhauses. Nhàn und sieben ihrer Mitarbeiter*innen schienen vorab informiert worden zu sein und waren da bereits ins Ausland geflohen. Ihr Hauptbuchhalter Do Van Son wurde nun im Juni 2023 von seinem Exilland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, nach Vietnam ausgeliefert. Grundlage war eine Fahndungsausschreibung der vietnamesischen Regierung via Interpol, eine „Red Notice“, wie die Botschaft der Emirate der taz bestätigte. Nun sitzt der Mann in Vietnam in Haft.
Von einem weiteren geflohenen Mitarbeiter ist bekannt, dass sich Vietnam erfolglos in den USA, wo er lebt, um eine Auslieferung bemüht hat. Das Schicksal der anderen fünf Geflohenen ist nicht bekannt. Vietnam aber hat die Gesuchten im Januar in Abwesenheit zu langjährigen Haftstrafen verurteilen lassen. Nguyễn Thị Thanh Nhàn, die AIC-Chefin, wurde zu 30 Jahren wegen Betrugs und Korruption in Ausschreibungsverfahren verurteilt. Mindestens ein weiteres Verfahren gegen sie ist noch offen. Ihre nicht unerheblichen Vermögenswerte, darunter eine Villa an einem See in Hanoi, wurden eingezogen.
Aber: Sind diese Vorwürfe tatsächlich der Grund für die Verfolgung – oder sind sie nur ein Vorwand? Vor einem halben Jahr wurde der taz aus Hanoi ein Papier von anonymen Kritikern aus dem Regierungsapparat zugespielt, das eine andere Geschichte erzählt, warum die Frau und ihr Team verfolgt werden. Das zwölfseitige Papier beschreibt einen Machtkampf um die Nachfolge des 79-jährigen vietnamesischen Parteichefs Nguyễn Phú Trọng, des mächtigsten Mannes in Vietnam.
Als einer, der es auf die Nachfolge abgesehen hat, wird der 64-jährige Premierminister Phạm Minh Chính beschrieben. Die nach Deutschland geflohene Nguyễn Thị Thanh Nhàn wird in dem Papier als seine langjährige Geliebte genannt, beide sollen eine gemeinsame Tochter haben. Zudem seien die außenwirtschaftlichen Kontakte der Frau ein wichtiger Machtfaktor des Premiers. Konkurrenten des Premiers um die Nachfolge des Parteichefs hätten dem Papier zufolge die Frau und ihre Firma AIC verfolgt, um den Widersacher zu schwächen.
Vietnam sucht die Geflohene mit Hochdruck
Israelische Medien wiederum vermuten hinter den Haftbefehlen auch einen Machtkampf zwischen dem Parteichef und dem Premierminister um Waffenkäufe. Israel hat sich zu einem wichtigen Waffenlieferanten Vietnams entwickelt, Nguyễn Thị Thanh Nhàn hat hier zentrale Geschäfte vermittelt. Es geht um Drohnen, Luftverteidigungssysteme, Panzer oder Raketen. Der Parteichef Nguyễn Phú Trong und der mächtige Sicherheitsminister To Lam würden allerdings Waffengeschäfte mit den traditionellen Partnern Russland und China präferieren – auch weil ihre Leute als Zwischenhändler dort gute Geschäfte machen und weil Russland bei der Ausbildung der vietnamesischen Marine unentbehrlich ist.
Nun sucht Vietnam die geflohene Nguyễn Thị Thanh Nhàn mit Hochdruck. „Jede Person hat das Recht, die gesuchte Person festzunehmen und sie sofort zur nächsten Polizeistation, Staatsanwaltschaft oder Behörde zu bringen“, zitieren seit Mai 2022 vietnamesische Medien immer wieder aus dem Fahndungsbescheid. Es folgen Daten wie ihre Passnummer und Erkennungszeichen wie Narben am Körper. In einem aktuellen Medienbericht heißt es, Nhàn entziehe sich mit ihrer Flucht ihrer persönlichen Verantwortung – „daher muss streng gehandelt werden, um Abschreckung und allgemeine Prävention zu gewährleisten“. Mit ähnlichen Aufrufen wurde 2016 und 2017 der gesuchte und später entführte Trinh Xuan Thanh für vogelfrei erklärt. In beiden Fällen wussten die vietnamesischen Behörden längst, dass die Gesuchten im Ausland waren.
Nach taz-Informationen ist Nguyễn Thị Thanh Nhàn seit einigen Monaten in Deutschland und lebt hier in einer Großstadt. Zuvor soll sie nach Japan und dann nach London geflüchtet sein, wo ihre Tochter leben soll. Auch der vietnamesische Geheimdienst soll von ihrem Aufenthalt in Deutschland inzwischen wissen. Anfragen dazu beantwortet die vietnamesische Botschaft nicht. Nguyễn Thị Thanh Nhàn selbst ist nicht zu erreichen.
Den deutschen Behörden ist die heikle Lage der 54-Jährigen durchaus bewusst. Konkret wollen sich zwar weder das Auswärtige Amt noch Sicherheitsbehörden zu dem Fall äußern. Personenbezogene Daten gebe man grundsätzlich nicht heraus. Nach taz-Informationen sind aber mehrere Stellen mit dem Fall Nguyễn Thị Thanh Nhàn beschäftigt, die eine reale Gefährdung sehen.
Auslieferungen an Vietnam grundsätzlich abgelehnt
Auch ein Auslieferungsersuchen Vietnams erreichte Deutschland – das vom Bundesamt für Justiz abgelehnt wurde. Seit der Entführung von Trinh Xuan Thanh im Jahr 2017 werden Auslieferungen nach Vietnam grundsätzlich abgelehnt, heißt es in Regierungskreisen. Und das Auswärtige Amt soll Vietnam bereits vor weiteren illegalen Aktionen gewarnt haben. „Die Bundesregierung duldet keine Eingriffe fremder Staaten auf deutschem Staatsgebiet“, heißt es aus dem Amt.
Nicht ausgeschlossen ist aber, dass Vietnam noch einmal eine Entführung wagt – trotz des diplomatischen Desasters nach dem Fall Trinh Xuan Thanh. Dafür spricht die Vehemenz der Suche nach der Frau, die derzeit die meistgesuchte Vietnamesin ist. Dafür spricht auch, dass der vietnamesische Geheimdienst in jüngerer Zeit zwei andere vietnamesische Staatsbürger entführte, aus Thailand. 2019 traf es den Journalisten Trong Duy Nhat, der für einen US-Sender von Thailand aus über Vietnam berichtete, und in diesem Jahr den Exilblogger Thai Van Duong. Beide sind inzwischen in Vietnam inhaftiert.
Auf der anderen Seite ist eine Entführung aus Europa logistisch schwieriger zu bewerkstelligen als eine aus dem Fast-Nachbarland Thailand. 2017 klappte es bei Trinh Xuan Thanh nur, weil Vietnam in der slowakischen Regierung einen eigenen Mann sitzen hatte: Le Hong Quang, einen gebürtigen Vietnamesen. Er war Berater des damaligen slowakischen Premiers Robert Fico. Er organisierte kurzfristig einen Besuch des vietnamesischen Innenministers To Lam bei seinem slowakischen Amtskollegen Robert Kaliňák.
Auf dessen Rückflug war mit an Bord das Entführungsopfer, das zuvor in Diplomatenfahrzeugen bis Bratislava gebracht wurde und einen von vietnamesischen Diplomaten eilig ausgestellten neuen Pass mit falschem Namen bekam. Heute können die Vietnamesen auf die Dienste von Regierungsberater Le Hong Quang nicht mehr zurückgreifen: Er ist 2018 nach Vietnam geflohen.
Zudem gibt es eine weitere Gemengelage, die eine Entführung aus Deutschland erschwert. Nguyễn Thị Thanh Nhàn wird zwar vom polizeilichen Geheimdienst Vietnams gesucht – der 2017 auch Trinh Xuan Thanh entführte und etliche Mitarbeitende in Deutschland hat. Doch der Dienst hat innerhalb Vietnams einen mächtigen Gegner: den konkurrierenden Geheimdienst der Armee. Der ist nicht nur ein wichtiges Instrument für Vietnams Premierminister, den mutmaßlichen Geliebten der Frau.
Frau könnte einen Beschützer haben
Der Militärgeheimdienst muss auch fürchten, dass im Falle eines Gerichtsverfahrens gegen Nguyễn Thị Thanh Nhàn mehr über vietnamesische Rüstungsimporte öffentlich wird als ihm lieb ist. Möglich also, dass die Frau da sogar einen Beschützer hat.
Und: Diesmal sind auch die deutschen Sicherheitsbehörden gewarnt – anders als 2017 bei Trinh Xuan Thanh. Damals konnte sich dort fast niemand vorstellen, dass der vietnamesische Geheimdienst einen Menschen aus Deutschland entführt. Selbst als die Anwältin von Trinh Xuan Thanh bei der Berliner Polizei das Verschwinden ihres Mandanten meldete und bat, eine Entführung durch den vietnamesischen Geheimdienst in Erwägung zu ziehen, soll dies abgetan worden sein.
Diesmal ist es anders: Nach taz-Informationen hat die Polizei Nguyễn Thị Thanh Nhàn bereits direkt kontaktiert und in einer Gefährdetenansprache gewarnt, dass sie von vietnamesischen Diensten gesucht wird. Ob ihr das hilft, werden die nächsten Wochen zeigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos