Dortmund siegt in Champions League: Wider die eigenen Schwächen
Ohne Weltklassespieler, aber mit viel magischer Energie gegen Atlético Madrid: Borussia Dortmund gelingt der Einzug ins Halbfinale.
Beschwörungen haben sich schon häufig als nutzlos entpuppt im Fußball, wo so vieles unkontrollierbar ist. Das Spiel selbst ist von Zufällen und unerwarteten Dynamiken geprägt, und viele Faktoren von außen lassen sich schwer steuern. Nur in seltenen Fällen kommt es eben doch genau wie angenommen und erhofft, so wie am Dienstagabend in Dortmund.
Ständig und überall wurde vor dem betörend schönen 4:2-Sieg des BVB gegen Atlético Madrid vom geheimnisvollen Zauber berichtet, der in so einer „Nacht“ in der Champions League entstehen könne, gerade hier. „Wir sprechen oft über diese magischen Nächte, ich glaube, das war heute so eine“, erklärte Julian Brandt nach dem Einzug ins Halbfinale, der in dieser schwierigen Dortmunder Saison wahrlich eine Sensation ist.
Der Mittelfeldspieler lag definitiv richtig, denn die Geschichte dieses Spiels riss alle mit. Sie war voller Wendungen, voller großer Momente. Während des gesamten Abends war „unglaublich viel Energie zu spüren“, sagte Sportdirektor Sebastian Kehl.
Die Dortmunder sind im Vergleich mit Atlético was Qualität und Erfahrung betrifft eher nicht die stärkere Fußballmannschaft, aber sie verstanden es einfach besser, die Kräfte des Moments zu nutzen. „Man hat ja hier in Dortmund jahrelang immer von Mentalität geredet und keine Ahnung was“, sagte Kapitän Emre Can geradezu trotzig. „Aber heute haben wir bewiesen, dass diese Mannschaft Mentalität hat.“
Schließlich drohte das Fußballdrama zwischenzeitlich zu kippen. Nach einer 2:0-Führung zur Halbzeit (Julian Brandt, 34.; Ian Maatsen, 39.) stand es Mitte der zweiten Hälfte plötzlich 2:2 (Eigentor Mats Hummels, 49.; Angel Correa, 64.). Niemand hätte sich gewundert, wenn die gewieften Spanier nun endgültig zugeschlagen hätten.
„Unfassbare Stimmung“
Auf dieser Basis entstand diese Energie, die als „magisch“ in Erinnerung bleiben wird. „Wir haben weitergemacht, wir haben daran geglaubt, das Stadion hat uns getragen, es war eine unfassbare Stimmung“, sagte Marcel Sabitzer, der sich zu einer Art Chefmagier entwickelte. Schon Maatsens 2:0 hatte der Österreicher vorbereitet, nun lieferte er mit einer fabelhaften Flanke die Vorlage für einen komplizierten Kopfballtreffer von Niclas Füllkrug (71.) und schoss das 4:2 auch noch selber (74.).
Am Ende, als sein Körper den Eindruck machte, völlig entkräftet zu sein, warf er sich zudem in Zweikämpfe, ging die Wege, die wirklich weh tun. „Jeder hatte eine unfassbare Bereitschaft“, sagte Füllkrug. Nach dem Abpfiff waren viele Spieler zwar total müde, zugleich aber immer noch derart vollgepumpt mit Energie, dass sie selbst den Weg zur Feier vor die Südtribüne sprintend zurücklegten.
Irgendwann erschien dann auch Klubchef Hans-Joachim Watzke auf dem Rasen, weil er ganz nah dabei sein wollte in diesem Moment des Glücks. „Das war ja eine Achterbahnfahrt“, sagte er, „es ist ja für Borussia Dortmund nicht jeden Tag so. Das ist ein stolzer Tag für alle Borussen.“
Im exklusiven Kreis der Halbfinalisten trifft der Revierklub in der übernächsten Woche zunächst im heimischen Stadion auf Paris St. Germain, das Finale in London sei jetzt „definitiv das Ziel“, sagte Füllkrug. Denn die Franzosen haben zwar viel mehr Geld zur Verfügung als der BVB, aber in der Vorrunden-Gruppe war Dortmund bereits Erster vor dem Team um Kylian Mbappé. Das nährt die Zuversicht.
Erinnerungen an die Klopp-Elf
Zumal das Gesamtbild dieses Abends Erinnerungen an das große Jahr 2013 weckte, als der BVB zuletzt im Halbfinale dieses Wettbewerbs stand und sich ebenfalls in einem Viertelfinaldrama – damals gegen den FC Malaga – durchsetzte.
Vergleichen lassen sich die Situationen jedoch kaum. Vor elf Jahren waren die Dortmunder gerade zwei Mal nacheinander Deutscher Meister geworden, sie wurden von Jürgen Klopp trainiert, der auf dem ganzen Kontinent bestaunt wurde, und spielten diesen berühmten Vollgas-Fußball, der State of the Art war. Im laufenden Jahr ist der BVB hingegen ein Klub, der mit sich selbst, mit seinen Krisen, eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen kämpft.
Sebastian Kehl, Sportdirektor
Auch gegen Atlético standen mehrere Krisenspieler auf dem Platz: Jadon Sancho, der in der Hinrunde bei Manchester United aussortiert wurde, Karim Adeyemi, Emre Can, Mats Hummels und Nico Schlotterbeck, die zuletzt nicht mehr gut genug für die Nationalmannschaft waren. Niclas Füllkrug hat ebenfalls viele schwere Zeiten erlebt und musste 30 Jahre alt werden, bis er zu Saisonbeginn seine erste Champions-League-Partie überhaupt absolvierte. Und die Frage, ob Typen wie Julian Ryerson oder Salih Özcan auf diesem Niveau heimisch werden können, lässt sich zumindest kontrovers diskutieren.
Einen Weltklassespieler hat Borussia Dortmund derzeit nicht, umso erstaunlicher, dass Kehl ganz am Ende dieser denkwürdigen Nacht feststellen konnte: „Es ist definitiv eine Aussage, unter den besten vier Teams in Europa zu sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen