Dokumentarfilm „Die Liebe zum Leben“: Hartnäckig gegen das Unrecht
Ludwig Baumann desertierte 1942 aus der Wehrmacht, wurde verurteilt und kämpfte ein Leben lang für seine Rehabilitation. Nun gibt es einen Film über ihn.
Da ist es auch nicht mehr nur von historischer Bedeutung, wenn in Annette Ortliebs Dokumentarfilm „Die Liebe zum Leben“ die israelische Militärdienstverweigerin Tair kurz vor dessen Tod im Jahr 2018 auf Ludwig Baumann trifft – und dabei deutlich macht, dass sie ihn als eines ihrer Vorbilder ansieht.
Baumann war wohl der bekannteste Deserteur Deutschlands, weil er sich mit einer bemerkenswerten kämpferischen Energie und Sturheit dafür einsetzte, dass die wenigen Kriegsverweigerer der Deutschen Wehrmacht, die wie er den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, politisch und rechtlich rehabilitiert werden.
Er ist einer der Gründer der „Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz“ und war Jahrzehnte lang deren hartnäckigster Aktivist. Mit Erfolg: Dank Ludwig Baumann wurden 2009 die letzten Urteile der NS-Justiz gegen Wehrmachtsdeserteure aufgehoben.
Zehn Monate Todeszelle
In „Die Liebe zum Leben“ erzählt der beim Dreh über 90 Jahre alte Ludwig Baumann seine Lebensgeschichte. 1921 wurde er in Hamburg als Sohn eines Tabakgroßhändlers geboren. Dem gesellschaftlichen Einfluss seines Vaters war es zu verdanken, dass Ludwig 1942 nach seiner Desertion in Bordeaux nicht hingerichtet wurde, sondern sein Todesurteil in eine Haftstrafe umgewandelt.
Dies teilte man ihm allerdings erst nach zehn Monaten in der Todeszelle mit; zehn Monate, in denen er täglich mit seiner Erschießung hatte rechnen müssen. Diese seelische Folter, später von den Bürokraten der Bundesrepublik nicht anerkannt, war einer der Gründe dafür, dass Baumann für den Rest seines Lebens nie wieder die Kontrolle über sein Leben verlieren wollte.
Was die Arbeit nicht eben leicht machte für die Filmemacherin: Annette Ortlieb erzählt, dass er „keine Nähe zulassen konnte“ und sich nur selten zu Dreharbeiten bereit erklärte. Für Ortlieb, deren Filme wie „Marga und der Wal“ oder „Inseltöchter“ gerade die Nähe zu ihren Protagonist*innen auszeichnet, waren das schwierige Bedingungen.
Und das wohl ein Grund dafür, dass sie den Film erst jetzt, fünf Jahre nach Baumanns Tod fertiggestellt hat: Sie musste mit den relativ wenigen Aufnahmen, die Baumann von sich machen ließ, sowohl ihm wie auch seinem Lebenswerk gerecht werden.
Dies gelang ihr, indem sie etwa Menschen zu Wort kommen lässt, die Baumann kannten und begleitet haben: seine langjährige Wegbegleiterin Ursula Prahm etwa, der Historiker Detlef Garbe, ehemals Leiter der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Oder die ehemalige SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, die davon erzählt, dass Baumann auch mit ihr, die ja grundsätzlich auf seiner Seite war, manchmal die Geduld verlor – und das sehr deutlich zum Ausdruck bringen konnte.
Und tatsächlich ist es heute schwer zu verstehen, warum es so lange dauerte, bis Baumann und die anderen Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert wurden: Über 60 Jahre lang galt er als vorbestraft, konnte sich nie eine wirtschaftlich gesicherte Existenz aufbauen. Als Vertreter ging er von Tür zu Tür und verkaufte Gardinen oder „gebrauchte Fernseher“. Bei ihm, erzählt Ursula Prahm, „war es immer knapp“.
In diesen Momenten des Films wird spürbar, wie schwierig und zerrissen das Leben für Baumann in Deutschland gewesen sein muss. Ortlieb hat dafür die passenden Stimmungsbilder gefunden, wenn sie immer wieder Aufnahmen von Eis, Schnee und Regen zwischen die Interviewsequenzen montiert hat
„Die Liebe zum Leben“. Regie: Annette Ortlieb, Deutschland 2023, 63 Minuten
Uraufführung: 19.11., 12 Uhr, Kino Gondel, Bremen. Grußwort von Friedhelm Schneider, Europäisches Büro für Kriegsdienstverweigerung, anschließend Filmgespräch mit Team und Protagonist:innen, Moderation: Ilona Rieke (Filmbüro Bremen)
Die Bilder repräsentieren die Unwirtlichkeit und Kälte, die Baumann in der Bundesrepublik entgegenschlug: Direkt nach dem Krieg wurde er zusammengeschlagen, und als er sich in den späten 1990er-Jahren für die Wehrmachtsausstellungen engagierte, bekam er Hassbriefe mit Todesdrohungen. Nach einem Versuch, am Bremer Bahnhof mit Rekruten der Bundeswehr zu diskutieren, bekam er Bahnhofsverbot.
Hier arbeitet Ortlieb mit Briefen, Fotos und Zeitungsausschnitten, aber als im November 2015 in Hamburg der „Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz“ eingeweiht wurde, konnte sie den als Gastredner eingeladenen Ludwig Baumann mit ihrer Kamera begleiten. Dass es dabei winterlich kalt war, ist ein Glücksfall für Ortlieb. Denn so passen auch diese Bilder mit ihren Grautönen zur Farbdramaturgie ihres Films – und seinem Thema.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers