Doku über Künstlerin Nan Goldin im Kino: Allein gegen den Opiumriesen
Regisseurin Laura Poitras erzählt gerne David-gegen-Goliath-Geschichten. „All the Beauty and the Bloodshed“ über Künstlerin Nan Goldin ist so eine.
Was haben Edward Snowden, Julian Assange und Nan Goldin und der Bodyguard von Osama bin Laden gemeinsam? Alle vier waren Subjekt eines Dokumentarfilms von Laura Poitras und zumindest die ersten drei sind ideale Subjekte, um klassische David-gegen-Goliath-Geschichten zu erzählen.
Was sie wiederum zu idealen Subjekten macht für Dokumentarfilme, die ideologisch auf der „richtigen“ Seite stehen. Und das ist bei der Bewertung eines Dokumentarfilms durch Öffentlichkeit, Kritik und Jurys traditionell wichtiger als ästhetische Komponenten, eine Tendenz, die sich in diesen, von ideologischen Grundsatzdiskussionen geprägten Zeiten, allerdings auch zunehmend im Bereich des Spielfilms zeigen.
Die aus Boston stammende Laura Poitras dreht seit einem knappen Vierteljahrhundert Dokumentarfilme und ist eine der am meisten ausgezeichneten Filmemacherinnen auf ihrem Gebiet.
Für ihren bekanntesten Film „Citizenfour“, eine minutiöse Nachzeichnung der Enthüllungen Edward Snowdens, erhielt sie 2015 den Oscar für den Besten Dokumentarfilm, und für ihr jüngstes Werk, „All the Beauty and the Bloodshed“, wurde sie beim Filmfestival in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Und das trotz Konkurrenz durch hochkarätige Spielfilme wie „Tár“, „Saint Omer“, „The Whale“ oder „The Eternal Daughter.“
Immer mehr Dokus in Filmfestival-Wettbewerben
Dass Dokumentarfilme überhaupt im Wettbewerb eines der großen Festivals gezeigt werden, ist eine Seltenheit, dass sie dabei den Hauptpreis gewinnen, eine Rarität. Die sich in den letzten Jahren allerdings zunehmend häuft.
Gerade die Berlinale kann sich hier ausnahmsweise als Vorreiter bezeichnen lassen, 2016 gewann Gianfranco Rosis „Seefeuer“, der die Flüchtlingskrise auf Lampedusa in poetische Bilder fasste, den Goldenen Bären, in diesem Jahr Nicolas Philiberts „Sur l’Adamant“, das Porträt einer Pariser Tagesklinik zur Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Einem gesellschaftlich ebenso relevanten Thema widmet sich Laura Poitras in „All the Beauty and the Bloodshed“: der besonders in den USA grassierenden Opiumkrise, die inzwischen knapp eine Million Todesopfer gefordert hat. Ebenfalls also, wie man so schön sagt: „ein heißes Eisen“, ein Thema, bei dem es leicht fällt, eine dezidierte Haltung einzunehmen, das zur Empörung einlädt, bei der die Rollen von Gut und Böse klar verteilt sind.
Nun ist Laura Poitras eine zu gute Regisseurin, als dass sie es sich so leicht machen wurde. Aufbrausendes Agitationskino ist „All the Beauty and the Bloodshed“ nicht, stattdessen eine Dokumentation, die sich in zwei Erzählsträngen entwickelt, die nicht immer ganz zwingend zusammenfinden. Das Bindeglied der beiden Stränge ist die Foto-Künstlerin Nan Goldin. Zwar stellt die 1953 geborene Goldin seit Jahrzehnten aus, lange Zeit aber abseits der großen Museen.
Scharnier zwischen Kunst und Opiumkrise
Denn Goldins Arbeiten zeigen meist Menschen aus den Subkulturen von Metropolen wie New York, Bangkok oder Berlin, stellen mit größter Sym- und Empathie Menschen von den Rändern der Gesellschaft in den Mittelpunkt, geben den Außenseitern und Marginalisierten eine Stimme, lange bevor diese Haltung im Mainstream ankam.
Inzwischen hat dieser Mainstream Goldin für sich entdeckt und überschüttet sie mit Auszeichnungen und Werkschauen, jüngst erst ging in Berlin eine Ausstellung anlässlich des von der altehrwürdigen und nicht unbedingt progressiven Akademie der Künste verliehenen Käthe-Kollwitz-Preises zu Ende.
„All the Beauty and the Bloodshed“. Regie: Laura Poitras. USA 2022, 117 Min.
Eine Folge der Akzeptanz Nan Goldins durch den konventionellen Kunstmarkt war, dass ihre Arbeiten Eingang in die Sammlungen der großen Museen der USA fanden, etwa den New Yorker Großinstitutionen Guggenheim Museum und Metropolitan Museum of Art.
Und hier beginnt das Scharnier von Poitras Film, das Scharnier, das Kunst und Opiumkrise zusammenbringt, das Nan Goldin und die Sackler-Familie als Antagonisten möglich macht. Um die Verbindung auf den Punkt zu bringen: Goldin war von Opiaten abhängig und die Sackler-Familie quasi ihr Dealer: Der Pharma-Konzern Purdue gehörte der Familie und Purdue war Hersteller des Opiats OxyContin. Dieses war beileibe nicht das einzige Schmerzmittel, dass die Opiumkrise verursachte, aber das bekannteste, das 1996 patentiert und in den folgenden Jahren aggressiv beworben wurde.
Schmerzfrei, dafür abhängig
Im Einklang mit dem zunehmenden Wunsch, Patienten ein absolut schmerzfreies Leben zu ermöglichen und der Zunahme von chronischen Schmerzen einer sich immer schlechter ernährenden und gleichzeitig sitzenden Tätigkeiten nachgehenden Gesellschaft schufen einen perfekten Vorstoß. In dessen Folge wurden Millionen Amerikaner abhängig von Schmerzmitteln, viele Ärzte reich und die Sackler-Familie steinreich.
Und wie sich das in einem Land, wo das „zurückgeben an die Gesellschaft“ zum guten Ton gehört, ebenso schickt, sponserten die Sacklers mit ihren Millionen Museen, Ausstellungen sowie Sammlungsankäufe. In gewisser Weise litt Nan Goldin also an den Sacklers, profitierte aber auch von ihnen, denn auch das Guggenheim oder das Met gehörten zu den Empfängern der, nennen wir es mal, Opium-Millionen.
Dass sich nun ausgerechnet Nan Goldin zur Vorkämpferin einer in den USA sehr lautstarken Bewegung machte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie und macht ihre Geschichte zur perfekten David-gegen-Goliath-Geschichte.
Denn am Ende der Proteste der Aktivisten, die in den heiligen Hallen der großen Kunstmuseum aufsehenerregende Demonstrationen initiierten, stand ein kaum für möglich gehaltener Erfolg: Purdue meldete Konkurs an und erklärte sich zur Zahlung von Milliarden an Schadenersatz bereit.
Laura Poitras zeigt diese Graswurzelbewegung bei Versammlungen, Diskussionen und Demonstrationen und kontrastiert dieses große Ganze mit intimen Momenten, in denen Nan Goldin von den einschneidenden Ereignissen ihrer Biografie berichtet.
Künstlerinnenporträt und Dokument einer sozialen Bewegung
Besonders der Suizid ihrer älteren Schwester hinterließ Spuren bei der damals elfjährigen Goldin, ebenso der Eindruck, dass über bestimmte Dinge nicht geredet werden sollte. Im Fall ihrer Schwester psychische Probleme, in Goldins Fall ihre spätere Schmerzmittelsucht, die sie lange verschwieg, so wie die Folgen der Opiumkrise lange verschwiegen wurden.
Doch diese Zeit ist längst vorbei, in der amerikanischen Öffentlichkeit werden die Folgen der Krise breit diskutiert: Der für den New Yorker arbeitende Journalist Patrick Radden Keefe zeichnete in seinem 2021 erschienenen „Empire of Pain“ die Machenschaften der Pharma-Konzerne minutiös nach und kommt auch in Poitras’ Film zu Wort. Ebenso in Filmen und Serien gibt es längst Spuren der Opiumkrise.
Nun also „All the Beauty and the Bloodshed“, ein souverän inszenierter Dokumentarfilm, zum Teil Künstlerinnenporträt, zum anderen Dokument einer sozialen Bewegung, die zeigt, wie erfolgreich Proteste von unten sein können – zumindest manchmal, zumindest im Ansatz.
Denn auch wenn Purdue Pharma Konkurs angemeldet hat, andere Unternehmen verdienen immer noch mehr als gut an Opiaten, zumal die missbräuchliche Verwendung der Medikamente ungebrochen ist. Und auch wenn manche Räume in Museen, die von der Sackler-Familie gesponsert waren, nun umbenannt sind: Das Problem der Verflechtung von Wirtschaftsinteressen und Kunst-Sponsoring bleibt bestehen.
Und auch die Frage, ob Dokumentar- und Spielfilme in erster Linie nach ihrer ideologischen Richtung bewertet werden sollten, ob es reicht, die „richtige“ Haltung einzunehmen, oder ob es nicht wünschenswert wäre, dass mehr Augenmerk auf ästhetische Kriterien gelegt würde, bleibt zu beantworten.
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