Dokfilm über Can und ihren Keyboarder: Cool, locker, ohne Chef
„Can and Me“, eine Dokumentation über den Keyboardpionier und Can-Musiker Irmin Schmidt, wird zum Start des Festivals CTM in Berlin gezeigt.
„Stille ist eine Metapher. Absolute Stille gibt es nicht“, erklärt Irmin Schmidt. Als seine brüchige Stimme zu hören ist, merkt man sofort, wie sich der Keyboarder der Band Can gedanklich vorwärts tastet: weltumarmend, nie borniert. Geräusche seien für ihn prägender gewesen als Musik, wobei Stille das wichtigste Geräusch überhaupt sei.
Die Bildebene bietet dazu Gräser an, die im Wind rauschen, und knirschende Schuhe auf Kies. Wir befinden uns in Schmidts Wahlheimat, nahe Luberon in der französischen Provence. Als Komponist genießt er trotz zahlreicher Aufträge für Film, zeitgenössische Musik und Oper nicht die gleiche Bekanntheit wie als Teil der Band Can.
Die Band half dabei, den Ruf von Krautrock im Ausland zu etablieren, obwohl sie sich selbst nie so recht diesem Genre zugehörig fühlten. Inzwischen ist Schmidt als einziger der vier Gründungsmitglieder noch am Leben. Zeit, sich zu erinnern.
Geschlossene Augen bei „Mother Sky“
Und der Dokfilm „Can and Me“ beginnt mit der TV-Übertragung eines Konzerts 1970. Can spielen den Song „Mother Sky“. Zuschauer:Innen mit geschlossenen Augen sind zu sehen, viele entrückte Blicke. Wie cool Can (mit wechselnden Sängern) Groove und Melodie von Beginn an geführt haben und zugleich locker über das Rockistische hinweg improvisierten, machte sie 1969 berühmt.
„Can and Me“. Regie: Michael P. Aust, Deutschland 2022, 84 Min.
Freitag 27. Januar, 19 Uhr, Silent Green, Berlin. (Bundesweiter Filmstart 9. März 2023)
„Can and Me“ hält die Formbesessenheit der Musik nicht durch. Die Doku ist ansatzweise wie ein Biopic angelegt, mit Irmin Schmidt und seiner Frau Hildegard als maßgebliche Talking Heads. Dazu werden historische Filmausschnitte und Interviews eingestreut, diese ergänzen nicht immer die Aussagen der Schmidts, sondern liefern durchaus Widersprüche. Klarheit gibt es jedoch zu den Anfängen.
Der 1937 geborene Schmidt wollte Dirigent werden, rebelliert gegen Nazivater und Nazilehrer. Ein Jahr vor dem Abitur wird er von der Schule geschmissen. Über einen Umweg gelangt er doch aufs Konservatorium, wo er Holger Czukay kennenlernt. Beide werden Schüler von Karlheinz Stockhausen und lernen in dessen Studio für elektronische Musik beim WDR in Köln von der Pike auf. Can entstehen, weil die beiden Studenten sich vom Dogmatismus ihres Lehrers emanzipieren und Richtung Jazz und Rock ausschwärmen.
Minimal Music in New York
Für Schmidt wird ein Aufenthalt in New York zum Augenöffner: Statt zu dirigieren spielt er mit Steve Reich, La Monte Young und Terry Riley Minimal-Music und nimmt Drogen. Mit Can veröffentlicht er zwischen 1968 und 1978 schließlich 13 Alben, Blaupausen auch für den elektronischen Dancefloor. Bis heute kümmert sich seine Ehefrau ums Bandarchiv und regelt alles Organisatorische. „Arbeit am Glück“ sei die Zeit mit ihr und die mit Can gewesen. Dabei sieht man Schmidt, wie er im Baumarkt Nägel und Holzkeile besorgt, um sein Klavier zu präparieren.
Can bedeutete: Musikmachen ohne Chef, man sei demokratisch vorgegangen. Anderswo führt der Keyboarder harte Auseinandersetzungen. Mit Filmemacher Roland Klick, für dessen Western „Deadlock“ Schmidt den Soundtrack komponierte, kommt es zum physischen Showdown. Retrospektiv räumt der Regisseur ein, dass erst durch die Filmmusik, „die Handlung in eine andere Dimension katapultiert wurde und transzendent macht“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin