Direkte Demokratie und Schweizer Rechte: Der plebiszitäre Tiger
Das Volk hat immer Recht? Wie die Schweizerische Volkspartei (SVP) mit dem Mittel der Volksabstimmung eine völkische Mobilisierung betreibt.
Demokratien bewegen sich in einem doppeltem Widerspruch mit sich selbst: Sie können sich – erstens – mit verfassungsmäßig vorgesehenen Mitteln selbst abschaffen. Das System der Notverordnungen unter den Reichskanzlern Brüning, von Papen und Schleicher sowie Hitlers „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ („Ermächtigungsgesetz“), vom 23. März 1933 beseitigten die Weimarer Demokratie mit legalen Mitteln. Und Demokratien können sich – zweitens – mit demokratisch zweifelhaften oder gar undemokratischen Mitteln schützen beziehungsweise verteidigen.
Der deutsche Verfassungsschutz operiert mit offiziellen Mitarbeitern und V-Leuten, seit er besteht, immer wieder mit Mitteln und Methoden am Rande der Legalität. Der türkische Staatspräsident führte jüngst drastisch vor, wie man die Demokratie mit diktatorischen Mitteln „rettet“.
Im Verdacht, die Demokratie demokratisch zu überwinden, steht die direkte Demokratie. Margaret Thatcher hielt diese für ein „Instrument von Diktatoren und Demagogen“. Und viele deutsche Politiker und Journalisten trauen der direkten Demokratie allenfalls zu, die Todesstrafe einzuführen oder wenigstens das Tragen von Kopftüchern oder den Bau von Moscheen über Nacht zu verbieten.
Beliebt bei der AfD
Die Schweiz, die das System der direkten Demokratie seit über 100 Jahren auf nationaler, kantonaler und lokaler Ebene praktiziert, kassiert seit einigen Jahren zu Recht verbale Prügel, weil Initiativen der nationalistisch-rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) des Milliardärs Christoph Blocher zum Verbot des Baus von Minaretten (2009), zur „Ausschaffung krimineller Ausländer“ (2010) oder zur Verhinderung von „Masseneinwanderung“ (2014) nach demagogischen Abstimmungskampagnen jeweils knappe Mehrheiten fanden.
Diese Instrumentalisierung der politischen Volksrechte durch die nationalistische Rechte macht das „Schweizer Modell“ beliebt bei der AfD und populistischen Vereinfachern wie David Cameron und Matteo Renzi. Beide wollten den plebiszitären Tiger reiten und setzten auf Referenden, die sie verloren. Man sollte zwischen plebiszitären Inszenierungen, organisiert von Zauberlehrlingen zur Stabilisierung der eigenen Macht, und direkter Demokratie differenzieren.
Blochers Initiativen führten zu neuen Verfassungsartikeln, deren Umsetzung durch ein Gesetz mit europäischen Menschenrechtsstandards (Religionsfreiheit, strafrechtliche Gleichbehandlung von In- und Ausländern) nicht vereinbar sind. Mit der gesetzlichen Umsetzung dieser Normen tut sich die Schweiz schwer, weil die EU, mit der die Schweiz durch Verträge verbunden ist, auf der Freizügigkeit für Personen besteht. Die Kündigung dieser Vereinbarung würde allen Verträgen mit der EU die Basis entziehen und der Schweiz wirtschaftlich schaden. Die EU-Trittbrettfahrer in Bern möchten die Vorteile der europäischen Integration einstreichen, ohne symmetrische Gegenleistungen zu erbringen – unter Vertragspartnern üblich. Angela Merkel nannte das „Rosinenpickerei“.
Der Abstieg zur Bananenrepublik?
Das Schweizer Parlament steht nun vor einem Dilemma. Es kann entweder den neuen Verfassungsartikel, der Obergrenzen für die Einwanderung und jährliche Kontingente vorsieht, ignorieren und damit die eigene Verfassung verletzen, oder mit der EU ein völkerrechtliches Rahmenabkommen schließen, das die Übernahme von EU-Normen prinzipiell regelt. Ein solches Abkommen bedeutet in den Augen der SVP-Nationalisten einen schleichenden Beitritt der Schweiz zur EU.
Die SVP reagierte darauf und auf ein Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts von 2012 mit einer neuen Initiative: „Volksinitiative zur Umsetzung von Volksentscheiden – Schweizer Recht geht vor fremden Richtern.“ Deren Kernsatz lautet: „Die Bundesverfassung ist die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft“. Ausbuchstabiert bedeutet das: Die Schweiz muss in Zukunft alle völkerrechtlichen Verträge einem Plebiszit unterwerfen und alle alten Verträge kündigen, die dem Grundprinzip widersprechen.
Philosoph John Dewey
Das gälte etwa für die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), womit Schweizer Bürgern, die ihre Rechte von den eigenen Behörden missachtet sehen, das Recht genommen würde, vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg zu klagen. Darüber hinaus müsste die Schweiz Dutzende von völkerrechtlichen Verträgen kündigen und verlöre damit jede Glaubwürdigkeit als vertragstreuer Rechtsstaat. Ein Abstieg der Schweiz in die Bananenrepublik-Liga.
Ein solches Eigentor wäre zu verhindern, wenn es eine verfassungs- und völkerrechtliche Vorprüfung von Initiativtexten gäbe, die offensichtlich rechtswidrige Initiativen gar nicht erst zuließe. Das ist in einem Land unmöglich, in dem Rechtsprofessoren wie Hans-Ueli Vogt eine national eingefärbte Lebenslüge zu ihrem Credo machen: „In der Demokratie entscheidet die Mehrheit. Ob diese ‚immer recht hat‘, ist eine hübsche philosophische Frage. Mit realen politischen Problemen hat sie nichts zu tun“ (NZZ 12. 8. 2016). Eine andere Möglichkeit, solche Initiativen zu verhindern, wäre die Errichtung eines Verfassungsgerichtshofs.
Wer ist das „Volk“?
Auch das ist unwahrscheinlich, solange man in der Schweiz einem naturalistisch-ethnisch aufgeblähten Begriff von „Volk“ frönt. In der Rechtsphilosophie ist der Begriff „Volk“ seit Kant kein ethnischer, sondern ein staatsrechtlicher Begriff. „Volk“ hat zwar auch ein natürliches Substrat, aber politisch macht erst ein Willensakt beziehungsweise Rechtsakt aus der „in einem Landstrich“ versammelten „Menge “ ein „bürgerliches Ganzes“ (Kant), also das rechtlich-politische Volk – den Demos.
Es ist eben mehr als eine „hübsche philosophische Frage“ (Vogt), ob die Mehrheit recht hat. Die Reduktion der Demokratie auf das Mehrheitsprinzip verkennt, dass Mehrheitsentscheidungen die „Geltungsdimension“ (Jürgen Habermas) fehlt. Das ist, neben gewichtigen historischen Erwägungen, der Grund, warum das Grundgesetz von 1949 (Art. 79 Abs. 3) für die in den Artikeln 1 bis 20 formulierten Grundrechte die Unveränderbarkeit („Ewigkeitsklausel“) festschrieb. Dieser zufolge können formal korrekt zustande gekommene Mehrheiten Minderheiten nicht ihrer Grundrechte berauben.
Das Mehrheitsprinzip ist zwar ein unverzichtbares Verfahren im demokratischen Prozess, aber es entbehrt des für Legitimität unverzichtbaren, normativen Fundaments und eines objektivierbaren Maßstabs. „Das Mehrheitsprinzip […] ist nie bloß Mehrheitsregel. Die Mittel, mit denen eine Mehrheit eine Mehrheit wird, sind das Wichtigere: vorausgehende Debatten, Perspektivenwandel gegenüber Minderheitsmeinungen“ – so der amerikanische Philosoph John Dewey (1859–1952).
Demontage der Demokratie durch Demokratie
Prozedural verstandene Volkssouveränität, wie sie Dewey antizipierte, ist eine anspruchsvolle und voraussetzungsreiche Vorstellung von rationaler Meinungs- und Willensbildung. Unter den Bedingungen der Vorherrschaft von monopolisierten und boulevardisierten Massenkommunikationsmedien erscheint solche Kommunikation auf verlorenem Posten.
Professor Vogt betreibt die Demontage der Demokratie mit einem legitimen demokratischen Mittel. In der Substanz zehren sie von der Vorstellung eines homogenen Gesamtsubjekts „Volk“: „Das Volk entscheidet nicht aufgrund von Ideologien und Modeströmungen […], sondern aus Sorge um das Zusammenleben in unserer Gemeinschaft. […] Das Volk entscheidet ausgewogen“ (Vogt). Diese Vorstellung vom Volk als einem kollektiv handelnden Subjekt ist nur eine nationalistische, der Tendenz nach völkisch-rassistische Fiktion, denn jede und jeder im Volk hat seinen Willen. Das Volk als Kollektiv kann gar keinen Willen haben.
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