Diktatur in Argentinien: Geburtsort: Morón, Name: Unbekannt
Während Argentiniens Militärdiktatur blühte der Handel mit Säuglingen. Mit 22 erfährt Carina Rosavik, dass auch sie betroffen ist – und macht sich auf die Suche nach ihrer Herkunft.
M it dem Klingeln an der Tür nimmt Carina Rosaviks Leben eine Wende. Zwei Männer stehen davor, einer fragt: „Haben Sie Zweifel an Ihrer Herkunft?“ Es ist das Jahr 1999, im September, Rosaviks Mutter ist vor zwei Wochen an einem Schlaganfall verstorben. Und ja, Carina Rosavik hat Zweifel daran, wer ihre biologischen Eltern sind, große sogar. Sie bittet die beiden Männer herein, in das Einfamilienhaus im argentinischen Córdoba.
Rosavik, damals 22 Jahre alt, und die Männer setzen sich an diesem Tag ins Wohnzimmer, so erinnert sie sich. Die beiden stellen sich als Vertreter von Menschenrechtsorganisationen vor. Sie haben sich der Suche von Nachkommen von Menschen verschrieben, die während der Militärdiktatur Argentiniens zwischen 1976 und 1983 ermordet wurden. Menschen, die schwanger oder mit Säuglingen oder Kleinkindern inhaftiert wurden und deren Kinder die Militärs verschenkten oder verkauften. Die Kinder wuchsen bei fremden Familien auf, oft ohne jemals davon zu erfahren.
Carina Rosavik weiß, dass sie 1976 gleich zu Beginn der Diktatur geboren wurde. Sie hat auch von den Verbrechen des Militärs gehört, von den zehntausenden Entführungen, der Folter und den sogenannten Todesflügen, bei denen politisch Verfolgte sediert und anschließend über dem Fluss Rio de la Plata oder vor der Küste Argentiniens aus dem Flugzeug in den Tod gestürzt wurden. Insgesamt gehen Menschenrechtsorganisationen von 30.000 Verschwundenen aus. Es ist die Geschichte des Landes, aus dem sie kommt, aber sie spielt zu einer Zeit, an die sich Carina Rosavik nicht erinnert, abstrakt und weit weg.
Doch an diesem Nachmittag tragen die beiden Männer die Geschichte zu ihr. In das Wohnzimmer ihres vermeintlichen Elternhauses. Mit einer Akte, hunderte Seiten dick.
In der Akte ist ihr Leben in Dokumenten festgehalten: eine rätselhafte Geburtsurkunde, Prozessunterlagen, ein medizinischer Bericht, Laborgutachten, auf denen ihr Name steht.
Es sind Belege für ein von Rosaviks Eltern streng gehütetes Geheimnis. Belege, die Gewissheiten mit sich bringen: Dass ihre Mutter gelogen hat darüber, wo Carina Rosavik geboren wurde und von wem. Dass die diffuse Suche nach der Wahrheit, die ihr bisheriges Leben prägte, einen Sinn hatte und kein Gespenst war. Was Rosavik zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, ist: Dass bald auch jemand nach ihr suchen wird.
Über 20 Jahre später, im September 2022, steht Carina Rosavik vor einem Wandgemälde in Córdoba. Auf der bunt angemalten Wand sind ein kleines Mädchen und ein Schriftzug abgebildet: „Mama buscame“ – „Mama suche mich“. Carina Rosavik, eine Frau mit wachem Blick, ist inzwischen 47 Jahre alt. Das Bild, es könnte von ihr stammen. Drei Stunden lang erzählt sie der taz ihre Geschichte, vor dem Wandbild, später in einem Café, dann bei einem Spaziergang durch die Stadt. Sie spricht oft schnell, fast gehetzt. Selbst wenn sie von Dingen erzählt, die lange zurückliegen, klingt es, als wären sie gestern passiert.
Carina Rosavik kommt am 12. Dezember 1976 zur Welt. Als Kind lebt sie mit der Frau und dem Mann, die sie als ihre Eltern kennenlernt, und einem jüngeren Bruder in einem Einfamilienhaus in Córdoba. Der Vater arbeitet als Mechaniker beim Militär, die Mutter betreibt einen kleinen Laden für Haushaltsgeräte. Als Carina in die Schule kommt, fällt ihr zum ersten Mal auf, dass etwas nicht passt. „Als meine Eltern mich einmal dort abholten, hat ein anderes Kind gefragt, ob das meine Großeltern sind.“ Ihre Mutter ist damals um die 50, ihr Vater um die 60 Jahre alt.
Als sie in die Pubertät kommt, bemerkt sie noch etwas: Sie und ihr Bruder sehen sich nicht ähnlich, und die beiden Geschwister ähneln auch ihren Eltern nicht. Aber so etwas gibt es auch in anderen Familien, also denkt sie nicht weiter darüber nach. Mit 15 nimmt ihre Mutter sie mit zum Arzt, obwohl sie sich gar nicht krank fühlt. Fünf Röhrchen Blut habe man ihr dort abgenommen: „Weil es so viel Blut war und ich nicht verstand, warum, erinnere ich mich noch so gut an diesen Tag“, erzählt sie. Es gebe einen Verdacht auf Anämie, habe ihre Mutter auf dem Heimweg erklärt. Den Arzt sieht Carina Rosavik nicht wieder.
Je älter sie wird, desto lauter werden ihre Zweifel. Und eine Erinnerung drängt sich ihr auf: Als Dreijährige sitzt sie im Büro des Ladens der Mutter, als eine Nonne hereinkommt, in jeder Hand einen Korb. Die Nonne fragt die Mutter: “Welches wolltest du nochmal? Junge oder Mädchen?“ “Junge“, antwortet die Mutter. „Von diesem Tag an hatte ich den kleinen Bruder, den ich mir so sehr gewünscht hatte. Nur hatte ich meine Mutter niemals schwanger gesehen“, erinnert sich Rosavik.
Mit 17 konfrontiert Carina Rosavik ihre Mutter zum ersten Mal mit ihren Zweifeln. Als sie von der Nonne und dem Korb spricht, wird die Mutter wütend: “Wie willst du dich an etwas erinnern, das so lange her ist?“ Sie solle aufhören, sich solche Geschichten auszudenken. Zu dem Zeitpunkt weiß Carina Rosavik nicht, dass der Handel mit Neugeborenen ein Geschäft ist und auch sie vielleicht einmal in einem solchen Korb lag, eingetauscht gegen eine Summe Geld.
Mit Anfang 20 fragt Carina Rosavik ihre Mutter geradeaus: “Bin ich adoptiert, ja oder nein?“ Ihre Mutter verneint. “Wo sind dann die Fotos von dir als Schwangere?“ Die gebe es nicht mehr, sie seien bei einem Feuer verbrannt. Später, bei einem anderen Streit, verspricht sich die Mutter, wählt eine Formulierung, die sie in Rosaviks Augen verrät. Sie sagt: “Wir haben dich aus Buenos Aires mitgebracht.“ Statt: “Ich habe dich in Buenos Aires bekommen.“ Carina Rosavik schreit sie an: “Siehst du, du bist nicht meine Mutter.“ So erzählt sie es. An den Streit erinnere sie sich nur noch schemenhaft, sagt sie. Aber an die Wut, die Verzweiflung und die Ohnmacht von damals erinnere sie sich noch gut.
In dieser Zeit geraten Carina Rosavik und ihre Mutter immer wieder aneinander. Die Mutter sei oft nervös und fahrig gewesen, zum Einschlafen habe sie Tabletten gebraucht. An ihren Vater habe sie liebevolle Erinnerungen, aber auch er habe zu ihren Fragen geschwiegen. Er stirbt 1997, als sie 21 Jahre alt ist. Während der Diktatur und bis zu seiner Rente war ihr Vater Angehöriger des Militärs. Ließ diese Nähe nicht den Verdacht zu, dass er in eine illegale Adoption verstrickt gewesen sein könnte? Darauf angesprochen, zuckt Carina Rosavik mit den Schultern. “Mein Vater war immer sehr gut zu mir.“ Mit ihm habe sie einen Verbündeten verloren, trotz seines Schweigens.
Ein Jahr nach dem Tod des Vaters erleidet die Mutter einen Schlaganfall, ist halbseitig gelähmt, kann nicht mehr sprechen. Rosaviks Fragen an ihre Eltern bleiben nun endgültig unbeantwortet.
In dieser Zeit wird Carina Rosavik schwanger. Sie pflegt ihre Mutter, bis sie selbst ins Krankenhaus muss. Etwas stimmt nicht mit der Schwangerschaft, sie soll eine Blutprobe abgeben. Dabei kommt heraus: Carina Rosavik hat eine andere Blutgruppe als in ihren Dokumenten angeben, sie passt nicht zu der ihrer Eltern. Rosavik weiß jetzt sicher, dass ihre Eltern nicht die biologischen sein können.
In diesen Monaten des Jahres 1999 bleibt für Carina Rosavik nichts, wie es war. Im sechsten Monat verliert sie das Kind. Wenige Wochen später, im September 1999, stirbt die Mutter. Etwa vierzehn Tage später klingelt es an der Tür. Es sind Martín Fresneda und sein Kollege, mit Rosaviks Akte unterm Arm.
Eine der Menschenrechtsorganisationen, die sie vertreten, ist über Argentinien hinaus bekannt geworden – die Abuelas de Plaza de Mayo. Es ist die Organisation der Mütter von Verschwundenen, die zum Zeitpunkt ihrer Entführung schwanger waren oder kleine Kinder bei sich hatten. Die Abuelas sind die Großmütter dieser Kinder, sie suchen ihre Enkel:innen.
Martín Fresneda, selbst ein Kind von Verschwundenen, erinnert sich im Telefonat mit der taz an Besuche wie den bei Carina Rosavik. “Bei der ersten Kontaktaufnahme mit Verdachtsfällen waren wir immer sehr angespannt. Es kam oft vor, dass uns die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde, wenn wir den Leuten mitteilten, dass sie nach unseren Recherchen Kinder von Verschwundenen waren.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Carina Rosavik aber reagiert anders: Sie habe zu der Zeit nur noch 47 Kilo gewogen, ausgemergelt sei sie gewesen, erzählt sie. “Als sie mir die Wahrheit über meine Eltern sagten, ging es mir nicht schlecht. Im Gegenteil – ich fühlte mich gut, irgendwie erleichtert“, erinnert sie sich. „Es war ein magischer Moment, als ob mir endlich jemand attestierte, dass ich nicht verrückt bin.“
Die Abuelas de Plaza de Mayo demonstrierten seit 1977 für die Rückgabe der Enkelkinder an ihre biologischen Familien. Und sie recherchierten wie verdeckte Ermittlerinnen, gingen in Waisenhäuser, Geburtshäuser, Kliniken, auf der Suche nach Neugeborenen, die ihre Enkel:innen sein könnten.
Ihr Aktivismus sprach sich herum, immer mehr suchende Frauen kamen zu den heimlichen Treffen. Sie brachten kleine Geschenke oder Blumensträuße mit, als würden sie auf eine Geburtstagsfeier gehen. Als Tarnung und zum Schutz vor politischer Verfolgung durch das Militär. Sie hörten sich um, sammelten Beobachtungen, zum Beispiel von Leuten, denen auffiel, dass der Nachbar, ein Militär, plötzlich ein Kind hatte, obwohl die Ehefrau nie schwanger gewesen war.
Heute wird der Raub von Kindern in Argentiniens Diktatur als Teil eines systematischen Plans gesehen, mit dem Ziel, die Kinder von Oppositionellen in Familien mit der „richtigen“ Ideologie aufwachsen zu lassen. Auch in anderen totalitären Staaten oder Kriegen wurde und wird dieses Verbrechen begangen, etwa unter der Franco-Diktatur in Spanien. Oder auch aktuell im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, wo nach ukrainischen Angaben bereits 16.000 ukrainische Kinder vom russischen Militär verschleppt wurden.
Anfang der 80er Jahre feierte die Genetik einen Durchbruch: Anhand von DNA-Vergleichen ließ sich nun auch die Abstammung eines Kindes von seinen Großeltern nachweisen. Die Abuelas setzten sich für ein staatlich gefördertes Programm zur Analyse und Dokumentation von genetischen Daten ein. Mit Erfolg: Ende der 80er wurde die Nationale Bank für genetische Daten gegründet, wenige Jahre später die Nationale Kommission für das Recht auf Identität, kurz CoNaDI. Beide Institutionen sollten auch für Rosavik noch eine wichtige Rolle spielen.
Zehntausende haben seither Blutproben bei der nationalen Gendatenbank abgegeben. Die einen auf der Suche nach ihrer biologischen Herkunft, die anderen nach verschwundenen Angehörigen, alle in der Hoffnung auf ein Match. Doch die meisten DNA-Abgleiche fallen negativ aus, über 14.000 „Negativos“ sind es aktuell. Ein Grund dafür ist, dass noch immer nicht alle Gebeine ermordeter Verschwundener geborgen worden sind, aus geheimen Gräbern, dem Rio de la Plata oder vom Meeresgrund.
Die Zahl der Kinder von Verschwundenen schätzen Menschenrechtsorganisationen auf 500. Bis heute konnten von ihnen 132 per DNA-Abgleich gefunden und mit ihren biologischen Familien vereint werden.
Nach dem Besuch der Menschenrechtler glaubt Carina Rosavik, sie könnte eine der verbleibenden offenen Fälle sein. Nein, sie fühlte es sogar, sagt Rosavik. Sie nimmt an jenem Tag den Faden auf, den die zwei Männer ihr an die Hand geben.
Carina Rosavik
In der Akte findet Carina Rosavik zwei Geburtsurkunden, die nicht identisch sind. Laut der einen Geburtsurkunde wurde Rosavik in einer Klinik in San Justo la Matanza geboren, einem Vorort von Buenos Aires, als Carina Rosavik. In der anderen steht Morón, ein anderer Vorort von Buenos Aires, knapp sieben Kilometer entfernt, eingetragen als “N.N.“, lateinisch für Nomen Nescio, Name unbekannt.
Mit den Informationen der Menschenrechtler und aus den Dokumenten in der Akte setzt sich für Carina Rosavik nach und nach ein Bild ihrer eigenen Biografie zusammen. Das kinderlose Paar aus Córdoba hatte den Säugling offenbar kurz nach der Geburt in Buenos Aires abgeholt und mit nach Hause genommen. In Córdoba versuchten die Eltern, das Kind beim Standesamt als ihr eigenes zu registrieren. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Der Sachbearbeiter des Standesamtes, der mit dem Militärapparat nichts zu tun hatte, wurde misstrauisch ob ihres hohen Alters. Die Mutter 46, der Vater 55. Und weil das Kind in Buenos Aires geboren worden war, hätte es auch dort zuerst registriert werden müssen.
Der Standesbeamte informierte die Polizei, das Paar kam in Untersuchungshaft, das Mädchen in ein Waisenhaus. Als ein Strafverfahren gegen das Paar eingeleitet wurde, erfuhren auch die Abuelas de Plaza de Mayo davon und sammelten fortan alles, was sie zu dem Fall finden konnten. Erst heimlich, dann nach Ende der Diktatur offiziell und mit Unterstützung der Behörden. Sie gingen davon aus, dass Carina Rosavik in einem geheimen Geburtshaus zur Welt kam, das unter der Kontrolle des Militärs stand.
Carina Rosavik blieb in dem Waisenhaus, bis zwei Jahre später ein Adoptionsverfahren eingeleitet wurde. Die Eltern mit Kinderwunsch: wieder dasselbe Paar aus Córdoba, das das Mädchen als Neugeborene aus Buenos Aires als ihr eigenes Kind hatte ausgeben wollen. Das Strafverfahren: wegen fehlender Beweise eingestellt. So steht es in den von den Abuelas zusammengetragenen Gerichtsakten und Dokumenten.
In der Akte findet Carina Rosavik auch ein Dokument, an das sie mit ihrer Erinnerung aus Jugendtagen anknüpfen kann. Darin steht, dass ihre DNA schon mal abgeglichen wurde, als sie 15 Jahre alt war, auf richterliche Anordnung. Die Abuelas hatten damals den Verdacht, dass sie die Enkelin einer bestimmten Familie sein könnte, und erwirkten vor Gericht den DNA-Abgleich. Rosavik weiß nun, wofür die fünf Röhrchen Blut eigentlich bestimmt waren, das ihr damals abgenommen wurde, und dass der vermeintliche Verdacht auf Anämie eine Lüge war.
Carina Rosavik stößt auch auf ein Bild von sich als Kind auf einem Kindergeburtstag einer Freundin. Wer das Bild wie beschafft hatte, hätten die Männer ihr nicht sagen können. “Es war, als wären sie mir durch mein Leben gefolgt“, sagt sie.
Die Menschenrechtsorganisationen wussten schon lange vor 1999 von Carina Rosaviks unklarer Herkunft. Doch etwas hielt sie davon ab, Rosavik früher aufzusuchen: Sie hätten sich ihr erst nach ihrer Volljährigkeit nähern dürfen, erklärt Martín Fresneda im Telefonat mit der taz. Ihre Eltern hätten das juristisch durchgesetzt, als Rosavik ein Teenager war und als die Organisation der Abuelas bereits einmal versucht hatte, Kontakt aufzunehmen. Erst als 1999 beide Eltern tot waren und Rosavik volljährig, war der richtige Moment gekommen, sagt der Menschenrechtler.
Carina Rosavik hat nach dem Besuch ganz unterschiedliche Gefühle. Sie ist erleichtert über die neue Gewissheit, wütend, weil sie ihre Eltern nicht mehr konfrontieren kann, und traurig, weil sie sich der Familie, die sie trotz der vielen offenen Fragen immer als ihre betrachtet hat, nicht mehr richtig zugehörig fühlt. Eine Unruhe breitet sich aus, die anders ist als die Zweifel der Vergangenheit. Sie speist sich aus der Erkenntnis, dass es da draußen jemanden geben könnte, der ihr das Gefühl von Zugehörigkeit wieder zurückgeben könnte. Eine andere Mutter, ein anderer Vater, vielleicht Geschwister, Tanten, Onkel. Lebend oder tot.
Carina Rosavik stürzt sich in die Suche. Sie gibt erneut eine DNA-Probe ab, befragt Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins ihrer Adoptivfamilie. Alle geben an, nichts über die Umstände ihrer Geburt zu wissen. Eine alte Freundin der Eltern habe auf sie eingeredet: „Was soll dieses Suchen? Deine Eltern haben dich geliebt, dir alles gegeben, was du brauchtest. Warum kannst du dich nicht zufriedengeben?“ Carina Rosavik fühlt sich missverstanden und allein. Manchmal werden nun auch andere Zweifel laut: Bin ich undankbar? Habe ich überhaupt ein Recht auf die Wahrheit?
Das hat sie. Zumindest laut Artikel 8 der UN-Kinderrechtskonvention, die Argentinien 1990 ratifiziert hat. Dort steht: Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Recht des Kindes zu achten, seine Identität, einschließlich seiner Staatsangehörigkeit, seines Namens und seiner gesetzlich anerkannten Familienbeziehungen, ohne rechtswidrige Eingriffe zu behalten.
Zwei Monate später kommt das Ergebnis des DNA-Abgleichs: Wieder negativ. Wieder kein Hinweis auf ihre Herkunft.
In den folgenden Jahren jobbt Carina Rosavik in einem Restaurant, dann bei einem Handyanbieter. Zweimal wird sie schwanger, bekommt Tochter und Sohn. Sie hat nun eine eigene Familie, aber auch die vermag die Leerstelle nicht zu füllen.
2004 hört sie von der CoNaDi, der Nationalen Kommission für das Recht auf Identität, und von einem neuen, besseren DNA-Verfahren. Diesmal wird ihr nicht nur Blut abgenommen. Sie wird fotografiert, gibt eine Haarprobe ab, ihr Körper wird abgefilmt, Muttermal für Muttermal. Zwei Monate wartet sie auf die Ergebnisse. Zwei Monate, in denen die Hoffnung wieder wächst.
Dann der Anruf: Negativ. Zum dritten Mal keine Übereinstimmung. Carina Rosavik ist entmutigt. „Für eine lange Zeit spürte ich danach so eine Leere“, erinnert sie sich. „Ich wusste einfach nicht, wie und wo ich noch weitersuchen sollte.“
Die Diktatur
Die Militärdiktatur in Argentinien wurde 1976 nach einem Putsch der Streitkräfte installiert und von einer Junta unter dem Oberkommandanten Jorge Rafael Videla angeführt. Gemeinsam mit Teilen der Zivilgesellschaft betrieb diese eine Politik des Terrors und ließ tausende Oppositionelle, Menschenrechtsaktivist:innen und Journalist:innen verschwinden. In etwa 700 geheimen Haftanstalten wurden diese „Verschwundenen“ illegal verhört, gefoltert und in großer Zahl ermordet. Menschenrechtsorganisationen schätzen ihre Zahl auf 30.000 Personen.
Die Demokratisierung
Anfang der 1980er Jahre verschärfte sich die wirtschaftliche Lage im Land, 1982 verlor Argentinien den Krieg um die Falklandinseln gegen Großbritannien. Beides führte dazu, dass die Militärjunta zunehmend an Rückhalt einbüßte und die Zivilgesellschaft verstärkt Widerstand leisten konnte. Auch der Druck der internationalen Gemeinschaft wuchs, ausgelöst durch die Arbeit von Journalist:innen und den Aktivismus von Menschenrechtler:innen, vor allem den der Madres (Mütter) und Abuelas (Großmütter) de Plaza de Mayo. Schließlich fanden 1983 erstmals wieder Wahlen statt, es folgte die Demokratisierung. Noch im selben Jahr wurde eine Kommission zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen gegründet. 1985 wurden einige Oberbefehlshaber angeklagt und verurteilt. Doch noch immer sind mutmaßliche Täter auf freiem Fuß.
2008 hört Carina Rosavik von einer Plattform namens Facebook. Sie erstellt ein Profil, tritt einer Gruppe bei, in der Menschen Gesuche für vermisste Familienangehörige posten, und beginnt sich zu vernetzen. „Plötzlich gab es Leute wie mich, in der gleichen Situation, die ohne oder nur mit sehr wenigen Daten nach ihren biologischen Familien suchten.“ Wenn sie davon erzählt, hört man ihr die Erleichterung, mit dem Suchen nicht mehr allein zu sein, noch heute an. Sie wird zur digitalen Aktivistin, ist nun in mehreren Gruppen aktiv, hilft anderen Suchenden, sich zu vernetzen. Endlich bewegt sich etwas.
Ohne dass Carina Rosavik etwas davon weiß, tut sich in dieser Zeit noch etwas. Ebenfalls im Jahr 2008 gibt in der knapp 1.000 Kilometer entfernten Küstenstadt Mar del Plata eine Frau im ähnlichen Alter wie Carina Rosavik eine DNA-Probe ab: Carolina Sangiorgi, geboren am 25.06.1978 in Morón, im Speckgürtel von Buenos Aires, wie Carina Rosavik. Auch sie weiß nicht, wer ihre biologischen Eltern sind, auch in ihrer Geburtsurkunde wurde sie als N.N. vermerkt, ohne genaue Angaben zum Geburtsort. Doch anders als über Rosaviks Leben lag über ihrem kein Schatten, der alles verdunkelte, keine Lüge.
Im September 2022 sitzt Carolina Sangiorgi, eine fröhliche Frau, zweifache Mutter, am Wohnzimmertisch in ihrer Wohnung in Mar del Plata und erzählt von ihrer Kindheit. Schon als kleines Mädchen hätten ihre Eltern ihr erklärt, dass sie zwar nicht die biologische, dafür aber ihre “Herzenstochter“ sei, legal adoptiert, mit vollständigen Unterlagen. Sie zeigt mehrere Dokumente aus den späten 70er Jahren, teilweise mit handschriftlichen Vermerken.
Dann erzählt Carolina Sangiorgi, wie ihr Mann 2007 ein Buch über die Schrecken der Militärdiktatur gelesen habe. „Es hat ihn nicht mehr losgelassen.“ Er habe sie gefragt: „Was, wenn du ein Kind von Verschwundenen bist?“ Carolina Sangiorgi, damals 30 Jahre alt, fühlte nie den Drang, ihren biologischen Wurzeln nachzuspüren. Sie habe sich in ihrer Kindheit immer zugehörig und niemals belogen gefühlt. 2008 gibt sie schließlich doch der Neugier nach und eine DNA-Probe ab. Das Ergebnis wenige Wochen später: negativ. Kurz ist da ein Gefühl von Enttäuschung. Dann lebt sie ihr Leben weiter. So kommt es, dass die beiden Frauen sich erst 15 Jahre später begegnen.
In Córdoba ist Carina Rosavik lange vor allem digital aktiv. Bis sie sich im April 2014 zum ersten mal mit Leuten trifft, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie. An einem Nachmittag sitzen mehrere Frauen und ein Mann in einem Stuhlkreis im Stadtarchiv von Córdoba, eine Psychologin moderiert. Nacheinander erzählen sie, wen sie suchen und seit wann. Manche Stimmen zittern, andere brechen, es fließen Tränen. Eine Frau sagt: „Ich hatte immer dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht die Tochter meiner Eltern zu sein.“Für Rosavik ist es, als würde sie sich selbst zuhören.
Dann ist eine ältere Frau an der Reihe, die nicht nach ihren Eltern sucht, sondern nach ihrem Kind. Sie erzählt, als junge Frau habe sie als Haushaltshilfe bei einer Familie gearbeitet. Als sie ungewollt schwanger wurde, habe die Familie ihr angeboten, ihr mit dem Kind zu helfen. Doch als das Kind zur Welt kam, habe man es ihr weggenommen und behauptet, es sei tot geboren worden. Den angeblich toten Körper des Säuglings habe man sie weder sehen noch beerdigen lassen.
Carina Rosavik fühlt sich wie gelähmt. Eine Mutter, der mutmaßlich ihr Neugeborenes geraubt wurde? Von gewöhnlichen Ärzt:innen, und nicht von Militärs? Was, wenn Rosavik gar keine Tochter von Verschwundenen war? Wenn ihre Mutter gar nicht tot war, sondern noch nach ihr suchte, wie diese Frau? Der Gedanke ist ihr so unheimlich, dass sie an jenem Abend ihre eigene Geschichte nicht mehr erzählt.
Maria Gracia Iglesias, die Moderatorin der Gruppe an jenem Abend, erzählt der taz im September 2022, wie dieses Treffen auch für sie den Beginn einer neuen Phase der Aufarbeitung markierte. Für die 50-jährige Psychologin, eine wuselige Frau mit lautem Lachen, war es eines der ersten persönlichen Treffen von Suchenden in Córdoba und Umgebung, deren DNA-Abgleich noch kein Match mit Verschwundenen aus der Diktatur ergeben hatte. Sie sagt: „Als ich bemerkte, dass sich die Geschichten ähnelten, dachte ich, ich traue meinen Ohren nicht.“ Vielen war erzählt worden, ihre biologischen Mütter seien minderjährig gewesen, deshalb hätten sie sie als Neugeborene weggegeben. In manchen Fällen lagen gefälschte Geburtsurkunden vor. Iglesias war sich schnell sicher: Da musste noch etwas anderes hinterstecken.
Maria Gracia Iglesias arbeitete bereits seit 2004 für die CoNaDi und hatte schon mehrere Familien mit vermissten Enkel:innen aus der Diktatur wieder zusammengeführt. Aber die tausenden „Negativos“ hatten ihr immer Rätsel aufgegeben. Nun schien es, als wären in Argentinien nicht nur hunderte Kinder von Oppositionellen verschwunden, sondern auch Neugeborene von Müttern, die mit Politik nichts zu tun hatten.
Tatsächlich haben anschließende Recherchen von Iglesias und anderen Menschenrechtler:innen, Journalist:innen und Jurist:innen ergeben, dass vor, während und nach der Militärdiktatur an verschiedenen Orten im Land geheime Geburtshäuser betrieben wurden, von Hebammen oder Ärzt:innen. Ein System getragen von Menschen, die an dem Handel mit Säuglingen verdienten. Auch Polizisten und sogar Lkw-Fahrer beteiligten sich, indem sie Schwangere aus entlegenen Regionen zu den heimlichen Geburtshäusern brachten.
Die betroffenen Frauen: jung, vulnerabel, oft minderjährig, das Kind meist unehelich gezeugt. Die Neugeborenen wurden teilweise zu Preisen im Wert von Kleinwagen oder Häusern verkauft. Um das langwierige Verfahren einer Adoption zu vermeiden, ließen sich wohlhabende Paare mit unerfülltem Kinderwunsch auf den Deal ein.
War vielleicht auch Carina Rosaviks leibliche Mutter gar keine politisch Verfolgte, sondern ein Opfer dieses Systems?
Nach dem Treffen im April 2014 wird Rosavik eine Art inoffizielles Mitglied von Iglesias’ Recherche-Team. Die Psychologin bringt ihr bei, Akten zu studieren und amtliche Dokumente zu lesen. Carina Rosavik findet Halt in der gemeinsamen Suche. Bis wieder ein einziger Tag ihr Leben in ein Davor und ein Danach teilt, wie damals 1999, als die beiden Männer vor ihrer Tür standen.
Es ist der 24. August 2022. Am Nachmittag zieht sich Carina Rosavik in ihr Schlafzimmer zurück, um mit Maria Gracia Iglesias zu telefonieren. Sie sprechen über die neuesten Recherche-Ergebnisse, als Iglesias etwas sagt wie: “Cary, eigentlich wollte ich mit dir über etwas anderes sprechen.“ Durch die technischen Fortschritte beim DNA-Vergleich seien in der genetischen Datenbank BNDG neue Übereinstimmungen gefunden worden. Es habe ein Match gegeben, zwei Schwestern, zu 100 Prozent blutsverwandt, gleiche Mutter, gleicher Vater – „eine Schwester“, sagt Iglesias.
Carina Rosavik braucht einige Momente um zu begreifen, was Iglesias ihr da gerade erzählt: „Was sagst du? Ich glaub, ich versteh nicht. Du verarschst mich…“ „Doch Cary, es stimmt, wir sind sicher.“ Rosavik springt auf, rennt aus dem Zimmer, schreit es in die Wohnung und in die Welt: „Ich habe eine Schwester, eine blutsverwandte Schwester!“
Am selben Tag erhält in der Küstenstadt Mar del Plata auch ihre Schwester die Nachricht über das Match. Es ist Carolina Sangiorgi.
Gegen 17 Uhr sehen sich die Schwestern zum ersten Mal auf den kleinen Bildschirmen ihrer Handys. Sangiorgis Mann filmt den Videoanruf mit seinem Handy. In dem Mitschnitt ist zu sehen, wie die beiden Frauen lachen und weinen, Carolina Sangiorgi hält sich die Hand vor den Mund, presst ein „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“ hervor. Ein zweites Mal begrüßen sie sich, „Hallo Caro“, „Hallo Cary“, als wollten sie sich der Existenz der jeweils anderen nochmal vergewissern. Drei Stunden telefonieren sie, stellen einander Ehemänner und Kinder vor, plötzlich Schwager, Nichten und Neffen.
Das Happy End scheint perfekt: das Glück zweier Schwestern, vereint nach über 40 Jahren, und sie sehen einander so ähnlich. Doch während Carolina Sangiorgis Leben noch reicher wird, bleibt in Carinas Rosaviks eine Leerstelle. Sangiorgi, die legal adoptiert worden ist und nie wirklich gesucht hat, freut sich über ein neues Familienmitglied. Carina Rosaviks drängendste Frage aber bleibt. Sie verändert sich nur von „Wer sind meine Eltern?“ in „Wer sind unsere Eltern?“
Sangiorgi zeigt Rosavik ihre Adoptionspapiere und Geburtsurkunde. Doch das Einzige, was sich daran ablesen lässt, ist, dass sie beide in Morón geboren worden sein sollen, mit 18 Monaten Abstand. Für Carina Rosavik ist damit die Hoffnung auf eine neue Spur zu den biologischen Eltern schnell begraben.
Gleichzeitig erscheinen ihre bisherigen Theorien mit der neuen Schwester in einem anderen Licht. Wären sie wirklich Töchter einer Verschwundenen, hätte die Mutter mit Rosavik im Bauch verhaftet worden sein müssen und dann auch das zweite Kind, ihre Schwester, in Gefangenschaft bekommen haben. Maria Gracia Iglesias von der Betroffenen-Organisation hält das für unwahrscheinlich, es passt nicht zu den Erkenntnissen, die Historiker:innen über die Militärdiktatur haben.
Oder sind beide Töchter jeweils von einer Hebamme oder einem Arzt geraubt worden? Wie ließe sich erklären, dass die Mutter zweimal in die Fänge von Menschenhändler:innen geriet?
Die letzte Option ist die wohl schmerzhafteste, weder Rosavik noch Sangiorgi sprechen sie von sich aus an: Hat die Mutter die Töchter freiwillig abgegeben? Carina Rosavik schüttelt beim Treffen im Café ungläubig den Kopf. Carolina Sangiorgi am Wohnzimmertisch in Mar del Plata schweigt erst, sagt dann „Ich glaub nicht.“
Maria Gracia Iglesias sagt, die größte Hoffnung liege in den Müttern selbst. Die Suche nach der biologischen Familie ist auch ein Wettlauf gegen die Zeit. Die leibliche Mutter der beiden Schwestern könnte heute etwa zwischen 62 und 82 Jahren alt sein.
Argentinien hat deshalb seit 2021 Kampagnen gestartet, die explizit die Mütter bitten, sich zu melden. Doch die Scham sei groß, sagt Iglesias, das Schuldgefühl, das eigene Kind nicht vor fremden Händen geschützt zu haben. Die Kampagnen seien ein Meilenstein in der Aufarbeitung des Menschenhandels mit Neugeborenen, ein Signal an die Gesellschaft, diesen Müttern Scham und Schuld zu nehmen.
Das Leben hat Carina Rosavic schon zweimal überrascht. Das Klingeln der beiden Männer an der Tür. Der Telefonanruf mit der Nachricht, sie habe eine Schwester. Es ist nur eine kleine Hoffnung, aber vielleicht wartet da noch ein drittes Mal.
Die Recherche fand im Rahmen eines Austauschprogramms des Vereins Internationale Journalisten Programme e.V. (IJP) in Argentinien statt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja