Digitalisierung von Politik: Vom Start-up zum Staat-up
Steuererklärung, Krebsvorsorge, Bankgeschäfte: In Estland geht das mit einer ID. Deutschland findet das vorbildlich. Wohin führt das?
Helge Braun koordiniert für die Bundeskanzlerin die Beziehung mit den Bundesländern, auch in Digitalisierungsfragen. „Deutschland effizient zu digitalisieren“, sagt er, „ist wegen unseres föderalen Staatsaufbaus schwieriger, denn die Verwaltungen in Ländern und Kommunen nutzen völlig unterschiedliche IT-Systeme.“ Zudem seien die IT-Strukturen permanent im Wandel, wenn an der einen Stelle etwas gangbar gemacht worden sei, verändere sich an anderer Stelle wieder etwas. Braun spricht von der „Sortierung eines Ameisenhaufens“.
Estland dagegen – 1,3 Millionen Einwohner – organisiert sich wie ein Start-up: schlank, schnell, experimentierfreudig.
In der Staatskanzlei auf dem Domberg in der Hauptstadt Tallinn empfängt Siim Sikkut in Jeans und weißem Hemd. Auf seiner Visitenkarte, gekrönt mit dem Wappen der Staatskanzlei, steht „Berater für digitale Politik“. Er sagt: „Wir waren politisch kühn genug, es auszuprobieren.“ Er meint die Digitalisierung der Verwaltung. „eEstonia“ nennt man das hier.
Das Ende der Aktenberge
„Das Streben nach Effizienz hat uns angetrieben“, sagt Sikkut. In den Neunzigern war die Digitalisierung der Verwaltung die Reaktion einer jungen Nation, die sich gerade von Russland gelöst hatte, einer Nation mit wenig Geld, ohne Bodenschätze, aber mit IT-Kompetenz.
Das Registrieren eines Unternehmens dauert heute achtzehn Minuten, eine Steuererklärung drei. Die Bürgerinnen und Bürger können sich mit einer elektronischen Identitätskarte ausweisen. Sie fungiert als Reisedokument, als Krankenkassenkarte, mit ihr kann man online wählen und elektronisch unterschreiben.
Was Sikkut hier skizziert, ist das Ende von Aktenbergen, die auf Wägelchen durch Flure geschoben werden. Eine praktische Entwicklung, wie man sie sich immer dann wünscht, wenn man im Wartesaal vor dem Amt sitzt.
Robert Krimmer, Professor
Es handle sich um „ein umfassendes System, das auch den Datenschutz sicherstellt“, sagt Helge Braun in Berlin – „weil die Bürger nachvollziehen können, welche Daten gespeichert sind und wer sie eingesehen hat. Wenn staatliche Stellen dann ohne plausiblen Grund Einsicht nehmen, fällt das auf, und die Bürger können einen möglichen Missbrauch melden.“
Welche Probleme werden gelöst, welche entstehen?
Wenn man Brauns Büro wieder verlässt, hat man den Eindruck: Die digitale Zukunft der politischen Verwaltung nach estnischem Vorbild ist unausweichlich. Die Frage ist aber nicht nur: Welche Probleme werden damit gelöst? Sondern auch: Gibt es dafür andere?
Wann immer es um die Digitalisierung geht, taucht der Begriff Disruption auf. Er beschreibt, wie die Digitalisierung ganze Geschäftsfelder umpflügt. Google und Facebook bringen die Medienbranche ins Wanken. Airbnb krempelt den Tourismus um. Solche Umwälzungen sind auch in der Automobilindustrie zu beobachten, in der Versicherungswirtschaft, im Finanz- und Bankwesen.
Was aber würde eine Disruption von Politik bedeuten? Was bedeutet die Digitalisierung für die Demokratie?
Deutschland, 2015. Dass immer mehr Geflüchtete Deutschland erreichen, verändert nicht nur die politische Gravitation in ganz Europa. Sondern wirkt auch wie ein Katalysator für die Digitalisierung der Verwaltung.
Charta: In dieser Woche wurde eine von Bürgern, Wissenschaftlern und Politikern erarbeitete (unverbindliche) Digitalcharta für die EU vorgestellt.
Ziel: die „Grundrechte und demokratische Prinzipien auch in der digitalen Welt durch die Herrschaft des Rechts zu schützen“.
Inhalt: In Artikel 1 (von 23) werden „neue Gefährdungen der Menschenwürde“ etwa durch Vorhersage und Steuerung menschlichen Verhaltens moniert. Artikel 7: „Jeder hat das Recht, nicht Opfer automatisierter Entscheidungen von erheblicher Bedeutung für die Lebensführung zu sein“. Artikel 8: „Für die Handlungen selbstlernender Maschinen und die […] Folgen muss immer eine natürliche oder juristische Person verantwortlich sein“. Artikel 14: „Das Recht, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, darf nicht an den Zugang zu digitalen Medien gebunden werden.“
Bei Asylverfahren müssen alle Verwaltungsebenen miteinander kooperieren – der Bund, weil er für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig ist, die Länder mit ihren Verwaltungsgerichten, die Kommunen mit den Sozial- und Ausländerämtern. „Zwischen den beteiligten Behörden wurden Akten wie beim Pingpong hin- und hergeschickt“, sagt Staatsminister Braun. Papierakten.
Mit tausenden Hilfesuchenden täglich geriet das System an die Belastungsgrenze. Im September 2015 stimmten die Ministerpräsidenten einem riesigen EDV-Projekt zu, mit Pilotcharakter für die Digitalisierung der deutschen Verwaltung. Das war die Stunde von Klaus Vitt, dem Bundesbeauftragten für Informationstechnik, angesiedelt im Innenministerium.
Er sollte ein einheitliches System entwickeln, vor allem eine umfassende Kerndatenbank, in der jeder Asylsuchende registriert ist. Drei Jahre würde das dauern, so die ursprüngliche Prognose. Der Informatiker Vitt musste es in sechs Monaten schaffen – und schaffte es.
Das neue Asylsystem
Bundesinnenministerium, Juni 2016. Klaus Vitt spricht präzise. Kollegen loben seine Zuverlässigkeit und sein strukturiertes Denken. „In der Verwaltung bedeutet Digitalisierung eine zunehmende Automatisierung von administrativen Abläufen“, sagt er, der Satz schwebt kurz in der Luft.
Schon davor existierte ein IT-System, das automatisch entscheidet, wohin Asylsuchende in Deutschland verteilt werden, aber ohne personenbezogene Daten. Sein Algorithmus, der Königsteiner Schlüssel, gewichtet Steueraufkommen und Bevölkerungszahl der Länder.
Yvonne Hofstetter, Unternehmerin
Dann begann Vitt, die Kerndatenbank aufzubauen. Bundeseinheitlich. Entwickelt wurde die „Personalisierungsinfrastrukturkomponente“. Die Einheit besteht aus Fingerabdrucksensor, Drucker, Kamera. Bei der Registrierung werden die Geflüchteten digital vermessen, ihre Daten gespeichert, und sie erhalten sofort den Auskunftsnachweis mit biometrischem Foto, Wasserzeichen und Identifikationsnummer. Standardisiert. Dieser Nachweis ist Voraussetzung für alle Leistungen. Nun existiert ein System, das Menschen digital mit biometrischen Informationen verwaltet, auf die bundesweit zugegriffen werden kann. So ist nachvollziehbar, wer sich im Land befindet, welchen Status sein Aufenthaltsbegehren hat. Mehrfachregistrierungen werden so verhindert.
Kritiker sagen: Beim Asylverfahren wird die Digitalisierung an Menschen erprobt, die sich schlecht wehren können – die meisten von ihnen haben keine Wahl, keine Lobby, viele von ihnen auch kaum Kenntnisse des deutschen Rechts.
Klaus Vitt spricht davon, dass dieses Verfahren eine „Blaupause“ sein könne „für die Digitalisierung in anderen Bereichen, denn es zeigt, was machbar ist“. Es ist bereits eine Grundgesetzänderung auf dem Weg, die digitale Verwaltungsdienstleistungen der Länder verbindlich vorschreibt. Es soll ein Portal für alle deutschen Bürger geschaffen werden, über das „sie – von den Bundeskompetenzen über die Länderkompetenzen bis zu den kommunalen Zuständigkeiten – Zugriff auf alle für sie relevanten Vorgänge haben“, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich sagte.
Datenbanken wecken Begehrlichkeiten
Auf EU-Ebene passiert Ähnliches. Datenbanken von Polizei und Geheimdiensten werden auf- und ausgebaut. Die Frage ist nur: Wenn man solche Portale erst einmal hat, muss man dann nicht davon ausgehen, dass sie auch zu anderen Zwecken genutzt werden könnten?
Eurodac etwa, eine europäische Datenbank, sollte ursprünglich nur die Fingerabdrücke von Asylbewerbern speichern, um Mehrfachanträge zu verhindern. Dann aber sei der Zugriff auf allgemeinpolizeiliche Zwecke ausgedehnt worden, heißt es aus der Opposition des Bundestags.
Auch in Deutschland sind solche Begehrlichkeiten gut denkbar. Als Anfang Oktober publik wurde, dass ein Asylsuchender einen Anschlag geplant hatte, plädierten CSU-Politiker für den Zugriff der Geheimdienste auf Vitts Kerndatenbank.
Wie kommt es, dass in Estland alles recht widerspruchslos verläuft? 95 Prozent der Esten nutzen mindestens einen der vielen existierenden „eServices“. An jeder Supermarktkasse ziehen Kunden, ohne mit der Wimper zu zucken, ihren Personalausweis durch den Kartenleser, bevor sie mit der Bankkarte bezahlen. Bonuspunkte sammeln, Steuererklärung machen, Wohnsitz ummelden – alles geht mit derselben elektronischen ID. Die Bürgernummer, mit der sie verknüpft ist, macht jeden Esten eindeutig identifizierbar.
Und über sie wird in Estland weit mehr geregelt als die Interaktionen zwischen Staat und Bürger. Sie ist Kundennummer beim Mobilfunkbetreiber; Nutzernummer in der Bibliothek, die ID wird als Busticket und Gesundheitskarte genutzt. Eltern können über die Bürgernummer sogar die Schulnoten ihrer Kinder abrufen. All die Daten sind dezentral nur beim jeweiligen Dienst gespeichert und werden verschlüsselt übertragen. Im Alltag ist das praktisch. Und laut der estnischen Regierung ist das System so gut abgesichert, dass nicht einmal jemand, der Zugriff auf die Bürgernummer bekommt, alles über einen Menschen weiß.
Wer misstrauisch ist, kann freilich sagen: Das gilt nur, bis das System gehackt wird.
Vertrauen ist die Basis
Estlands Regierungsberater Siim Sikkut sagt: „Das ist wie in unserem Privatleben: Wir nutzen die Gmails und Hotmails dieser Welt, weil sie unser Leben einfacher machen. Und denen vertraut man wahrscheinlich noch viel sensiblere Dinge an als der Regierung.“ Das „eGovernance“-System seines Landes basiert auf Vertrauen.
Robert Krimmer ist Professor für „eGovernance“ an der TU in Tallinn. Er, ein bärtiger Österreicher, sagt: „Die Esten sind da schon sehr kompromisslos: Es muss jeder alles digital machen, auch die 80-jährige Oma.“ Das Land sei klein, der soziale Zusammenhalt ausgeprägt. Ein Land, das nach seiner Unabhängigkeit von Russland schnell sein wollte und modern. Und so erfand es sich als Pionier im „eGovernment“. Effizient und neoliberal.
Es gibt einen Showroom nahe dem Tallinner Flughafen, in dem „eEstonia“ als großartiges Projekt präsentiert wird. Gedämpftes Licht, Flachbildschirme. Start-up-Atmosphäre. Indrek Önnik, der Projektmanager, gescheitelter Undercut und rosa Krawatte, jagt durch eine Powerpoint-Präsentation. Er erklärt die Zeitersparnis durch die Digitalisierung von Verwaltungsabläufen. Önnik spricht von einer „Neudefinition von Regierungsführung“. Davon, dass es nicht einmal mehr die eID-Karte brauche, weil man längst auch mobile ID-Simkarten entwickelt habe, die, ins Smartphone gesteckt, das Gleiche können. „Der Bürger ist ein Konsument, in gewisser Weise“, sagt er.
Er ruft eine Website auf, über die jeder Este kontrollieren kann, wer auf seine Daten zugegriffen hat. Transparenz gegen Missbrauch: Estland hat strenge Regeln aufgestellt, nach denen die dezentral gespeicherten Datensätze zusammengeführt werden können. Das Credo: Daten gehören den Bürgern. Der Staat verwaltet sie nur. Önnik loggt sich ein. Ein Blick auf die Leinwand enthüllt, welche Automarke er fährt, bei welcher Bank er Kunde ist und wann die das letzte Mal Informationen über ihn abgerufen hat. In einigen Fällen können Bürger den Zugriff auf ihre Daten verbieten.
Das estnische Internetwahlverfahren nennt „eGovernance“-Forscher Robert Krimmer „das fortgeschrittenste, das heute weltweit bei rechtsgültigen Wahlen landesweit im Einsatz ist“. Bis jetzt seien keine ernsthaften Probleme bei Abstimmungen bekannt geworden. Onlinewahlsysteme sind sein Spezialgebiet, früher untersuchte er sie im Dienst der OSZE. Krimmer sagt aber auch: Auf die Frage, wie er die Internetwahlen in Estland schütze, würde deren Organisator antworten, er kenne alle Internetadministratoren des Landes. Und wenn ein Angriff passiere, rufe er die an, und gemeinsam schalte man das kleine Estland offline. Und schotte sich so gegen Angriffe von außen ab.
2014 veröffentlichte eine Gruppe um Forschern der Universität Michigan eine Studie, in der sie Schwachstellen in Estlands Onlinewahlsystem offenlegten. Über Malware-Infektionen sei es möglich, sowohl die abgegebene Stimme des Wählers zu verändern als auch das Auszählungsergebnis, das die Server ausspucken. Sie kritisierten, dass „eVoting“-Verantwortliche bei der Vorbereitung der Wahl mit unverschlüsselten Internetverbindungen und Privatrechnern operierten. Ihre Empfehlung: Rückkehr zur Papierabstimmung.
Spricht man Regierungsberater Sikkut auf die Studie an, verschränkt er die Arme. Das Angriffsszenario sei theoretisch und unwahrscheinlich gewesen. Die Fehler seien behoben. „Wir sagen: Vertrauen Sie Ihrem Gerät? Falls nicht, dann wählen Sie nicht darauf.“ Das Vertrauen der Esten ins „eVoting“ ist aber ungebrochen: Der Anteil der online abgegebenen Stimmen steigt kontinuierlich. 30,1 Prozent der Esten wählten 2015 digital. Damit sind sie Avantgarde.
Dass das Onlinewahlsystem seiner mangelnden Transparenz wegen problematisch sein kann, sah man gerade in den USA, wo die Ergebnisse einiger Wahlcomputer angezweifelt wurden. Mag es im Fall von Bürgerkarten und eIDs noch um Datenschutzfragen gehen, ist mit Onlineabstimmungen ein Kernbereich der Demokratie betroffen.
Eine unsichtbare Regierung
Estland aber plant weitere digitale Dienstleistungen. „Invisible Services“ nennt Sikkut diese Vorhaben, bei denen der Staat auf Veränderungen im Leben seiner Bürger reagiert. Ein Baby ist geboren? Warum die Eltern von Amt zu Amt rennen lassen – besser: proaktiv nachfragen, wie sie ihr Kind nennen. Kindergeld? Automatisch überweisen. Firmen, die dem Staat aktiv Zugriff auf Geschäftskonten und Finanzmanagement-Software geben, müssen keine Steuererklärung mehr machen. „Radikale Effizienz, die wir ganz besonders für Unternehmen aufbauen möchten“, sagt Sikkut.
Was die Transaktionen zwischen Bürgern und Staat angeht, könne Estlands Regierung innerhalb der kommenden zehn Jahre unsichtbar werden. „eServices“ allerorten. Kaum bürokratische Hindernisse.
Je stärker Politik und Verwaltung digitalisiert stattfinden, desto mehr schwinden aber auch die Grenzen zwischen Politik und Wirtschaft.
Das Softwaresystem xRoad etwa, das Rückgrat von „eEstonia“, organisiert und sichert den Austausch aller privatwirtschaftlichen und öffentlichen Daten innerhalb des Systems. Entwickelt hat es, genau wie das elektronische Wahlsystem, die Firma Cybernetica, eine Ausgründung des früheren Instituts für Kybernetik in Tallinn.
Drehtüreffekte, Wechsel von öffentlichen und privaten Posten, sind im kleinen Estland keine Seltenheit. Taavi Kotka etwa, Estlands „Chief Information Officer“, kurz CIO, der eng mit Siim Sikkut zusammenarbeitet, war zuvor Geschäftsführer einer der größten Softwareentwicklungsfirmen im Baltikum. Personalien wie diese erklären, woher die Start-up-Mentalität der Regierung rührt. Sie werfen aber auch das Problem enger Verwebungen privatwirtschaftlicher und politischer Interessen auf.
CIO der Regierung
CIO: Unter diesem Titel wird auch der deutsche Staatssekretär Klaus Vitt geführt. „Das ist keine offizielle Bezeichnung. Ich bin der Bundesbeauftragte für Informationstechnik. CIO werde ich trotzdem öfter genannt“, sagt er, „weil sich das in Unternehmen so etabliert hat.“ Nur, eine Regierung ist kein Unternehmen.
IT-Riesen wie Microsoft haben Geschäftsfelder für den öffentlichen Sektor eröffnet. Google stellt IT-Lösungen speziell für Behörden vor. Der Politikprofessor Lawrence Quill von der San José State University wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zitiert: „Die große Frage ist nicht, ob Google die Politik überschreibt, sondern, ob Politiker ihre Verantwortlichkeit an Technologiekonzerne abgeben, die versprechen, politische Probleme zu lösen. Es gibt Indizien, dass das schon passiert.“ Das Problem ist: Konzerne haben andere Interessen als ein Gemeinwesen.
Und auch in Deutschland beschleunigt sich der Verquickungsprozess.
Berlin, Alexanderplatz, im Juni. Hochrangige Vertreter von IT-Riesen und Beratungsfirmen, Mitarbeiter aus Verwaltung, Ministerialbeamte und Minister treffen sich zum „4. Zukunftskongress Staat & Verwaltung“. IBM, SAP, Datev preisen ihre Produkte. Microsoft, die Bertelsmann-Tochter Arvato, Ernst & Young sind vertreten.
Und Ursula von der Leyen ist auch da. Sie stellte die erste weibliche Staatssekretärin im Verteidigungsministerium ein, sie kam von der Unternehmensberatung McKinsey. Von der Leyen bezeichnet die Bundeswehr als „eine Art Mischkonzern“, der „an die Privatwirtschaft Aufträge in Höhe von 14 Milliarden Euro“ vergebe. Früher hätten Mitarbeiter die Panzerbestände händisch prüfen müssen, ohne Datenbank. Hüstel. Unter ihrer Amtsführung baute die Bundeswehr die Abteilung für digitalen Krieg auf: „Cyber/IT“. Das Konzept stammt von einem jungen Herrn von McKinsey. Der lobt bei einer Tagung die Kooperation zwischen Militär und Wirtschaft in den USA. Von der Leyen erwähnt fast nebenher: „In der Verwaltung führen wir ein System ein, um mit Big Data umgehen zu können.“
Big Data. Unfassbar große Datenmengen, die exponentiell wachsen. 2015 entstanden so viele Daten wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Aus Korrelationen riesiger Datenmengen lassen sich Klimaentwicklungen prognostizieren oder potenzielle Tatorte vorhersagen.
Helge Braun, der Mann aus dem Kanzleramt, sagt: „Mithilfe von Big Data Stimmungsauswertungen zu betreiben, das machen wir als Regierung nicht. Das geht beim deutschen Datenschutz auch gar nicht.“ Auf dem Kongress in Berlin gibt es jedoch sogar Veranstaltungen dazu, wie die öffentliche Verwaltung Social-Media-Monitoring einsetzen kann, um mehr über Präferenzen und Verhaltensmuster der Bevölkerung zu lernen.
Wollen wir das wirklich?
Klaus Vitt, der CIO der Regierung, hat noch weitere Ideen, wie man die Digitalisierung in Deutschland vorantreiben könnte. Abstimmungsprozeduren oder die Bewertung der Wirkung von Gesetzen könnten automatisiert werden. „Wenn Sie eine inhaltliche Änderung an einem Gesetz vornehmen möchten, müssen Sie wissen, welche Stellen in dem Gesetz betroffen sind und welche Auswirkungen die Änderungen auf andere Stellen in dem Gesetz oder bei anderen Gesetzen haben könnten“, sagt er. Eine Software könnte diese Stellen anzeigen, sie könnten auf dieser Basis überarbeitet werden. Systeme, die Gesetzestexte lesen und in die Prozesse der Legislative eingeschaltet werden. Die IT‑Branche hat das Thema auch entdeckt.
Fragt man den Esten Siim Sikkut, ob Analysen von Bevölkerungsdaten in Gesetzgebungsprozesse einfließen, sagt er: „Wir hinken beim Aufbau von Analysefähigkeiten hinterher.“ Die Priorität sei zunächst, die Digitalisierung der Verwaltung voranzutreiben und nicht den Aufbau von Prognosemodellen und Big-Data-Analysen. Stand heute.
In Estland gibt es das „eCabinet“. Ein System, über das Minister ihre Treffen papierlos vorbereiten, und über das sie sich gegenseitig Anmerkungen schicken und Vorabstimmungen vornehmen können – sodass Themen, über die Konsens besteht, im Austausch von Angesicht zu Angesicht gar nicht mehr zur Sprache kommen müssen. Auch hier stellen sich ähnliche Fragen wie bei den Bürger- und Wahldaten: Wie sicher und unmanipulierbar ist und kann das sein?
Berliner Gendarmenmarkt im November. In der Lobby eines noblen Hotels wartet Yvonne Hofstetter, die Geschäftsführerin einer Firma, die künstliche Intelligenz entwickelt – selbstlernende Systeme. Sie ist eine der bekanntesten Stimmen in der Digitalisierungsdebatte. Nun hat sie ein neues Buch geschrieben. „Die Bürger ahnen nicht, wie weit die Forschung fortgeschritten ist“, heißt es darin. „Wenn die Massendatenanalyse, Big Data, Millionen Menschen, Maschinen und Betriebe erfassen und analysieren konnte, um ihr Verhalten maschinell zu manipulieren – wäre es dann nicht naheliegend, die ganze Gesellschaft auf diese Weise zu regeln?“ Die Frage, die Hofstetter aber aufwirft, lautet: Wollen wir das wirklich?
Hofstetter ist unter den Unterzeichnerinnen der „Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union“, die dieser Tage veröffentlicht wurde. Auch künstliche Intelligenz spielt darin eine Rolle. „Ethisch-normative Entscheidungen können nur von Menschen getroffen werden“, heißt es.
Sie mahnt, der Weg in eine Diktatur sei nicht weit, schon deshalb, weil der Mensch an Selbstbestimmung einbüßt, wenn sein Verhalten auf Datenbasis prognostiziert wird. Ein Trend, der sich noch verstärkt durch das, was Hofstetter Umgebungsintelligenz nennt: Sensoren, die praktisch jede Lebensregung von Individuen aufzeichnen, Softwaresysteme, die all diese Aufzeichnungen auswerten und für uns vorausdenken. Die, zum Beispiel, freie Parkflächen erkennen oder Versicherungskonditionen für Autoeigner nach dem Fahrverhalten errechnen. Verschränkt die Politik ihre Daten zunehmend mit denen der Wirtschaft, könnte so nicht nur vorentschieden werden, welche Musik wir mögen und wohin die nächste Urlaubsreise gehen soll – sondern auch, welches Gesetz vernünftig wäre.
Passiert dies, entstünde eine „Herrschaft durch niemanden“: Regierungen müssten keine Rechenschaft ablegen – sie führen doch nur datengestützte Vorschläge von Algorithmen aus. Unternehmen könnten für das Wirken ihrer zunehmend selbstständigen künstlichen Intelligenzen nicht mehr haftbar gemacht werden. Öffentlichkeiten würden fragmentiert. Die Maschinen machten mit ihren Berechnungen die Norm zum Maß aller Entscheidungen. Hofstetter sieht darin das Ende des selbstbestimmten Menschen.
„In dem Maße, in dem ich Freiheitsrechte in der digitalen Ära einschränke, bringe ich die Demokratie in einen Zustand, in dem sie defekt wird“, sagt sie. „Das ist dann vielleicht noch nicht Autokratie, aber sie funktioniert auch nicht mehr richtig.“ Sie sagt aber auch, dass Gesetze, wie wir sie kennen, gerade 200 Jahre alt seien und in einer multikomplexen, digitalisierten Welt womöglich an ihr Ende kämen. „Wir steigern die Komplexität ins Unermessliche. Wir wissen zugleich, dass in komplexen Systemen die Gesetzgebung versagt.“ Man sieht das, wenn Innovationen der digitalen Privatwirtschaft in immer mehr Gesellschaftsbereichen alles über den Haufen wirft. Wie altbacken gesetzliche Regulierungsversuche vielerorts wirken, kann man an der Hatespeech-Debatte mit Facebook beobachten oder am Versuch, Regeln für den Taxidienst Uber zu finden.
Hofstetters Gedankenspiel ist keine Science-Fiction; es lassen sich Anfänge eines hybriden Staates ausmachen, der sich digitalisiert, um sich automatisieren zu können. Dahinter steht die Idee einer in Echtzeit reagierenden Politik, deren selbstlernende Software sich anpasst und bei auftretenden gesellschaftlichen Herausforderungen problemlos modifiziert. Es ist eine Politik, die auf der IT-Infrastruktur privater Konzerne fußt. Macht sich Politik aber überflüssig, wenn sie Prozesse und Prozeduren automatisiert?
Eine Probe für den Ernstfall
In Estland gehen die Überlegungen derzeit gar hin zur kompletten Virtualisierung des Staats in virtual data embassies: Nachdem der Großteil der Verwaltungstätigkeit ins Netz gewandert ist, könne man Back-ups all dieser Daten in der Cloud lagern. Auf Servern im Ausland.
Es ist eine Ernstfallerprobung, und Ernstfall heißt für Estland – ob nun klar ausgesprochen oder nicht – eine Invasion Russlands. Mit „eGovernance“-Daten in der Wolke könnte Estland sogar weiter funktionieren, wenn es kein physisches Territorium oder keine Kontrolle mehr darüber hätte.
Als erster Standort für die Server, auf denen diese Verwaltungskopien liegen sollten, stellte man sich estnische Botschaften auf der ganzen Welt vor. Aus Mangel an IT-Personal will man nun aber einen privaten Konzern ins Boot holen. Und hat – unverbindlich natürlich – mit Microsoft ein Konzept entwickelt. Pragmatisch, nennt eGovernance-Forscher Robert Krimmer das. Und Regierungsberater Sikkut sagt: „Ob Microsoft oder nicht: Wir müssen mit Partnern zusammenarbeiten, auf die wir uns jederzeit voll verlassen können.“ Insbesondere auf Regierungen, auf deren Territorium die Daten dann gehostet wären. Davon gebe es nicht viele.
Wovon hier die Rede ist, ist eine Neuerfindung des Staates: eines digitalisierten Staates, der unabhängig von seinem Territorium funktionieren könnte, aber abhängig von den Diensten eines privaten Konzerns wäre. Es ist riskant.
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