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Digitalisierung von ForschersammlungenSpätzünder im Digitalen

Die elektronische Erfassung von Sammlungen eröffnet neue Forschungsfelder. Für Geisteswissenschaftler birgt das völlig neue Chancen.

Digitalisierte Glasfotografie: historische Aufnahme von Elbing, heute Elbląg, nahe Danzig Foto: Willibald Zehr/Institut für Kunst- und Bildgeschichte /HU Berlin

Berlin taz | Die Geisteswissenschaften sind digitale Spätzünder. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften und Technikdisziplinen haben die Altertumsforscher und Buchwissenschaftler die Möglichkeiten der elek­tro­ni­schen Datenverarbeitung erst spät für sich entdeckt. Inzwischen aber ist unter dem Stichwort „Digital Humanities“ die Aufholjagd in Gang gekommen. Über die digitale Bewahrung von Kulturgütern hinaus eröffnen Digitalisierung und Big Data den Geisteswissenschaftlern sogar völlig neue Forschungsfelder, an die bisher nicht zu denken war.

Neue Medien waren schon im 19. Jahrhundert attraktiv. 1893 begannen die Kunsthistoriker der Berliner Universität damit, italienische Renaissance-Kunst und holländische Gemälde in der neuen Technik der Diapositive aufzunehmen, die sich anders als Fotografien in Hörsälen größer projizieren ließen.

Zeitweilig wurde dafür mehr Geld eingesetzt als für den Ankauf neuer Bücher, einer alten Wissenstechnik. Später kamen Architekturabbildungen in großem Stil hinzu, so dass die Kunsthistoriker der Humboldt-Universität über einen Sammlung von knapp 60.000 historischen Dias im Format 8,5 x 10 Zentimeter verfügen.

„Dieser große Bestand an Diapositiven war bis zum Jahr 2016 völlig unerschlossen“, erklärt Georg Schelbert, der als Leiter der Mediathek am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität für die Digitalisierung der Glasfotografien zuständig ist. Die Diasammlung, eine der größten ihrer Art, repräsentiere „den gesamten, an der Universität über Jahrzehnte hinweg geformten Kanon der Kunstgeschichte, der inzwischen auch zu allgemeinem Bildungsgut geworden ist“.

Mit der Übertragung vom Glasträger in den Rechner werden die bisher nur analog benutzbaren Abbildungen nicht nur besser geschützt. Sie lassen sich auch besser weiter verbreiten und untersuchen. Zurzeit sind knapp 50.000 Dias digitalisiert. Das Projekt wurde jetzt mit dem Preis des Interdisziplinären Forschungsverbunds Digital Humanities in Berlin (ifDHb) ausgezeichnet.

Daten langfristig sichern

Der Mathematiker Martin Grötschel, lange Zeit Direktor am Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik in Berlin und heute Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), unterstützt den Trend zur Virtualisierung aus vollem Herzen. Seine Akademie betreibt 24 Langzeitprojekte, darunter mehrere Jahrhunderteditionen wie die Schriften des Akademiegründers Gottfried Wilhelm Leibniz oder die Marx-Engel-Gesamtausgabe.

„Es geht darum, die Daten langfristig sicherzumachen“, betont Grötschel. „Wir haben viele digitale Schätze“. Dazu müssen elektronische Editionsstandards festgelegt und in in Rechenzentren Repositorien eingerichtet werden.

Was hätte sich Alexander vonHumboldt darüber gefreut!

Ottmar Ette, Universität Potsdam

„Da passiert jetzt unheimlich viel“, sagt der Akademiepräsident. „Ich wollte das schon vor 20 Jahren, aber nun ist es endlich so weit“. Grötschel kämpft auch noch an einer anderen Digitalisierungsfront: dem Onlinezugang zu wissenschaftlicher Literatur, im Uni-Jargon als „Open Access“ geläufig.

Eine vom Senat beauftragte Arbeitsgruppe, der Grötschel angehört, erarbeitet derzeit die Strukturen, damit bis zum Jahr 2020 auf 60 Prozent der wissenschaftlichen Literatur in Berlin über das Internet zugegriffen werden kann. „Das gestaltet sich als schwierig“, merkt der Mathematiker an, der auch zum Verhandlungskonsortium „Deal“ gehört, das für die deutschen Hochschulen neue Verträge mit den wissenschaftlichen Verlagen aushandeln soll. „Das ist richtig spannend“, verrät Grötschel. „Wir kämpfen hart.“

Neue Forschungshorizonte

Wie sich den Geisteswissenschaften durch die Digitalisierung neue Forschungshorizonte erschließen, zeigt das Beispiel Alexander von Humboldt. Im Jahr 1799 brach der Berliner Naturforscher zu seiner großen, fünf Jahre dauernden Lateinamerika-Expedition auf. Von dort, wie auch von seiner späteren Reise ins russische Sibirien (1829) kehrte Humboldt mit vielen Reisetagebüchern und wissenschaftlichen Notizheften zurück, die mit Daten, Skizzen und Deutungen gefüllt sind.

Vor einigen Jahren konnte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Tagebücher mit finanzieller Unterstützung der Bundesregierung für 12 Millionen Euro erwerben. Inzwischen ist die Digitalisierung der 4.500 Seiten, die in analoger Existenz nur von wenigen Experten mit Schutzhandschuhen berührt werden dürfen, abgeschlossen und in ein neues Onlineportal eingeflossen. „Wir wollen auf diese Weise die Schriften auch in die Gesellschaft tragen“, sagt Projektleiter Ottmar Ette von der Universität Potsdam. „Was hätte sich Alexander von Humboldt darüber gefreut.“

Ein Datenschatz

Das von der BBAW getragene Projekt „Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ – ausgezeichnet mit dem ersten Preis der Digital Humanties Berlin 2017 – macht sowohl Reisetagebücher wie Briefe sowie Themen und die Chronologie des Lebens von Alexander von Humboldt auf einfache Weise auch für Nichtwissenschaftler zugänglich. 5.000 teils ältere Datensätze wurden integriert, darunter die erste Humboldt-Chronologie von Kurz Biermann aus dem Jahr 1968.

Über 8.000 Personen, mit denen der Forscher in Verbindung stand, sind im Register enthalten. Auch seine Korrespondenz mit ihnen ist einsehbar. Die neuen Datentechniken machen es möglich. „Damit haben wir einen schlummernden Datenschatz nach 50 Jahren digital gehoben“, formuliert es Tobias Kraft, der Leiter der BBAW-Gruppe für die Humboldt-Reisen. Es sei gelungen, „alte Daten digital wachzuküssen“.

Der politische Alexander von Humboldt

Auch inhaltlich öffnen sich den Wissenschaftshistorikern neue Möglichkeiten. So verweist Ottmar Ette darauf, dass durch die digitale Auswertung der Tagebücher die kritische Haltung Alexander von Humboldts zur Sklaverei , die er in den Plantagen auf Kuba antraf, viel deutlicher werde. Auch lasse sich jetzt besser nachvollziehen, wie sich Humboldts Positionen im Lauf der Zeit verändert haben, etwa in seiner Haltung den Indianern gegenüber. Ette zu den digitalen Erkenntnisgewinnen: „Wir entdecken jetzt den politischen Alexander von Humboldt.“

Auch bundesweit geht die digitale Ergänzung der Geisteswissenschaften voran, wenngleich die Fördersummen noch moderat sind. Das Bundesforschungsministerium fördert seit 2013 drei Projekte von Nachwuchswissenschaftlern und vier „eHu­ma­nities“-Zentren mit 60 Mil­lio­nen Euro für die Dauer von drei bis vier Jahren.

So wird an der Uni Würzburg ein „Zentrum für digitale Edition und quantitative Analyse“ aufgebaut. Weitere Projekte in Köln, Frankfurt am Main, Passau und Trier haben die Archivierung von Musik, „reflektierte Textanalyse“, historische Lexikografie sowie computergestützte Modellierung zum Thema.

„Der Erfolg der digitalen Geisteswissenschaften hängt davon ab, wie anschlussfähig die eHumanities an nicht- oder wenig digitale Forschung sind und wie sehr diese wiederum bereit ist, sich zu öffnen“, erklärte die Staatssekretärin Cornelia Quennet-Thielen auf dem letzten Digital Humanities Summit in Berlin. „Und zwar nicht nur für Fachkollegen“, forderte die Politikerin, „sondern für die interessierte Öffentlichkeit, gerade für die Öffentlichkeit im Netz.“

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1 Kommentar

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  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Das mit den Spätzündern kann man auch anders sehen.

    Naturwissenschaftler digitalisieren nicht die Geschichte, noch nicht einmal die eigene. Eine*n Biologe*n interessiert die Medizingeschichte im Mittelalter nicht, er/sie hält seine/ihre Erkenntnusse meist für ahistorisch. Sollte das nicht so sein, muss er bei den Genderforschern in die Datenbank. Das ist nicht allein historisches Interesse. Insofern digitalisieren die Naturwissenschaften gar nichts aus ihrer Geschichte und die Sozialwissenschaften sind die Vorreiter.