Die steile These: Nur der Winterschlaf besiegt Corona

Pipi machen, Zähne putzen, ab ins Bett – und zwar für mehrere Monate. Warum wir dringend einen kollektiven Winterschlaf brauchen.

Ein Siebenschläfer schläft

Vorbild Siebenschläfer? Er hält sogar länger als sieben Monate Winterschlaf Foto: M. Watson/imago

Deutschland ist müde. Seit mehr als einem halben Jahr schränkt das Land sich ein – mal mehr, mal weniger, aber ab jetzt voraussichtlich wieder sehr viel mehr. Denn der Herbst ist da, und mit ihm steigende Infektionszahlen und sinkende Temperaturen.

Treffen an der frischen Luft ohne Maske (mit nicht ganz so viel Sicherheitsabstand, aber viel Sicherheitsgefühl) sind passé. Und dick eingepackt sind coronakonforme Spabiergänge (sic!), Picknicks im Park und Gartenpartys nicht dasselbe wie damals im Sommer, als es sich fast ein bisschen anfühlte, als sei vielleicht doch alles gar nicht so schlimm.

Die Zeit zu Hause mit wenig bis keinen physischen Kontakten wird deutlich länger dauern als beim ersten Mal, als der Frühling vor der Tür stand und Hoffnung machte auf unbeschwertere, körperlich nähere Zeiten. So etwas kann der Winter nicht versprechen. Die Angst vor oder die Realität mit der Einsamkeit ist für viele greifbar, Sorgen werden größer. Dass ab dem kommenden Jahr wieder eine sogenannte Normalität einkehrt, daran glaubt kaum noch wer. Und dass ab der Impfstoffzulassung alles, schwupps, vorbei ist, hat uns Drosten längst ausgeredet.

Um die nächsten Monate zu überstehen, gibt es nur eine Lösung: Wir brauchen einen kollektiven Winterschlaf. Das Leben vier bis sechs Monate komplett runterfahren, eingemummelt in eine Decke, mit Zeit für das, wovon wir alle die letzten Jahre durchgehend zu wenig hatten: Schlaf. Es braucht ein bisschen Vorbereitung, ja. Aber wer jetzt keine Höhle baut, baut sich keine mehr – also schnell noch das Seitenschläferkissen bestellen, das abgerockte Lieblingskuscheltier vom Speicher holen und entstauben und dann geht’s los: Pipi machen, Zähne putzen, ab ins Bett.

Kein böses Erwachen

In der Tierwelt ist der Winterschlaf vor allem als Torpor bekannt, lateinisch für Erstarrung oder Betäubung. Die Tiere fahren ihren kompletten Stoffwechsel runter, verharren lethargisch und steif, um Perioden mit wenig Nahrung zu überbrücken. Das ist übrigens nicht an die Außentemperatur gebunden, sondern vor allem an die Verfügbarkeit von Energiequellen.

Erstarrung und Betäubung beschreiben zwar ganz gut den vorherrschenden Zustand der letzten Monate, aber beim menschlichen Winterschlaf geht es eben nicht darum, Energie zu sparen, sondern darum, Energie zu sammeln. Wir werden sie brauchen im kommenden Sommer, in den zwei gepackt werden müssen.

Klar, Wachphasen kann und muss es zwischendurch geben. Kurz ’ne Stulle reinfahren, was trinken, einen Abstecher ins Bad machen. Damit es vor der kollektiven Langzeitschlafphase keinen überwältigenden Run auf die Supermärkte gibt, könnte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Carepakete packen, die süße Träume versprechen: genügend Konserven, Schlaftee und Ohropax.

Und natürlich müssten wie auch sonst ein paar systemrelevante Menschen dafür sorgen, dass es kein böses Erwachen gibt, und sich um medizinische Notfälle, Wasser- und Stromversorgung kümmern. Aber wer Schichtarbeit gewohnt ist, kann auch auf Schichtschlaf umswitchen – und Menschen mit Insomnia gibt es ja (leider) genug: 80 Prozent der Arbeitnehmer:innen schlafen schlecht, zeigte der DAK-Gesundheitsreport vor ein paar Jahren.

Einfach mal miteinanders ins Bett gehen

In den letzten Monaten gab es erst recht wenig Zeit und Ruhe für guten Schlaf: Die einen hatten Coronasorgen, standen vor den Trümmern ihrer Existenz oder mussten Kita, Schule und Spielkamerad:innen gleichzeitig ersetzen. Die anderen mussten ihre Hochzeit von Woche zu Woche verschieben, sich auf Urlaub in Deutschland umstellen oder das Leben aufholen, das sie zwei Monate lang meinten verpasst zu haben.

Das ist fatal. Wie viele Trennungen hätten verhindert werden können, wären die Beteiligten einfach mal miteinander ins Bett gegangen – nicht um mit-, sondern nebeneinander zu schlafen? Wie viele Menschen wären bessere Eltern, kämen sie regelmäßig auf das empfohlene Schlafpensum von sieben bis neun Stunden? Wie viele Chef:innen wären weniger cholerisch, lägen sie mehr als fünf Stunden pro Nacht in einem Bett?

Ein kollektiver Winterschlaf hätte viele Vorteile: Über den Familienstreit an Weihnachten würde eine Daunendecke des Schweigens gelegt, die gefürchtete Winterdepression einfach verpennt. Und sogar die Wirtschaft würde boomen.

Klingt paradox, ist aber so. Der deutschen Wirtschaft entsteht jedes Jahr ein Schaden von 57 Milliarden Euro, weil Mitarbeitende zu wenig schlafen, wie eine Studie der Forscher von RAND Europe vor einigen Jahren zeigte. Wer oft zu wenig schläft, ist unkonzentriert, macht Fehler und ist weniger kreativ. Und auch die Umwelt würde es danken, wenn Deutschland runterfährt. Die Klimaziele rückten plötzlich in Reichweite.

Tiefschlaf für Demokratie

Außerdem hätten wir endlich wieder Hoffnung für Deutschland. Wer zu wenig oder zu schlecht schläft, nimmt nämlich seltener an Wahlen teil – und hat auch sonst nicht so viel Lust, sich gesellschaftlich zu engagieren, wie Forscher aus den USA und Deutschland nachgewiesen haben. Eine Runde Tiefschlaf für alle, und schon wären Demokratie, Ehrenamt und soziales Verhalten wieder auf dem Vormarsch.

Die Politökonomin Maja Göpel hat mit „Unsere Welt neu denken“ einen Besteller geschrieben. Wir haben mit ihr über mögliche Zukünfte, das Befreiende von Verboten und eine Kindheit unter Hippies gesprochen – in der taz am wochenende vom 31. Oktober/1. November. Außerdem: Ein Blick auf die letzten Tage vor der US-Präsidentschaftswahl. Und: Das Wichtigste zum Corona-Teil-Lockdown. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Schließlich wäre der Winterschlaf auch eine wunderbare Möglichkeit für die Forschung. Die NASA bastelt schon lange daran, Menschen künstlich in einen Winterschlaf zu versetzen, um Flüge zum Mars zu realisieren. Und der Winterschlaf einzelner Organe könnte die Transplantationsmedizin revolutionieren, denn Organe, die schlafen, können länger aufbewahrt werden.

Wem das Schlafen zu Hause zu langweilig ist, kann sich ja einen Liegeplatz im Lieblingsclub oder der Lieblingskneipe mieten. Acht Quadratmeter für jede:n, mit genügend Sicherheitsabstand zu Mitüberwinter:innen. Ein besonderes Schlafevent könnten Bettenabteilungen in Möbelhäusern bieten, in denen auch Menschen ohne eigenes Zuhause unterkommen könnten. Oder man teilt sich die Matratze mit dem aktuellen Date: Nach einem halben Jahr in einem Bett ist klar, ob man es für ’ne Weile miteinander aushält.

Nichts verpassen

Und zu guter Letzt hilft der Winterschlaf auch gegen FOMO („Fear of missing out“): Wenn wir uns alle gleichzeitig aufs Ohr hauen, verpasst keiner was. Niemand kann zum Geburtstag einladen, der trotz Hygiene- und Abstandsregeln „ein besonderer Tag werden soll“. Kein Kopfzerbrechen darüber, ob man jetzt die Spaßverderberin ist, die nicht zum Dinner mit ihren Freundinnen und Freunden geht, weil man das doch nicht ganz so coronasafe findet. Wintergeburtstagskinder dürfen sich einen Sommertag aussuchen, an dem sie gefeiert werden und Geschenke bekommen. Sie sollen ja nicht zu kurz kommen – nur eben bitte lange schlafen.

Natürlich kann der Schlaf auch sinnvoll genutzt werden, schließlich sind wir hier in einem Hochleistungsland. Kinder bekommen Vokabeln, Matheformeln und Jahreszahlen mitsamt wichtigen Ereignissen auf die Ohren – zur Wiederholung. Was der Kopf schon weiß, kann er im Schlaf verfestigen. Erwachsene können so ihre Sprachkenntnisse aus der Schulzeit auffrischen oder die Inhalte der letzten Fortbildung wiederholen.

Ganz egal, wie produktiv der Schlaf von Individuen genutzt wird, er wird uns als Gesellschaft weit in die Zukunft katapultieren. Wenn wir uns alle monatelang einigeln, wird das Undenkbare einfach wahr: Corona wird vorbei sein!

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