piwik no script img

Die steile TheseCorona zeigt, wozu Schule da ist

Die Schulschließungen verdeutlichen, dass digitaler Unterricht nur begrenzt funktioniert. Denn Schule ist vor allem aus sozialen Gründen wichtig.

„Guten Morgen Frau Lehrerin!“ Auf Dauer wohl besser als im Videochat Foto: Max Kovalenko/imago

Im Bildungsbetrieb gibt es sie auf jeden Fall: die „Ewigmorgigen“. So nennt der Schweizer Pädagoge Carl Bossard in Anlehnung an Erich Kästner die, die das Neue unkritisch begrüßen: Morgen wird alles besser! Wir brauchen nur mehr Innovation, mehr Digitalisierung, mehr Individualisierung, mehr Differenzierung, mehr selbstorganisiertes Lernen – und alles in immer schnellerem Tempo.

Die Gegenwart ist für Modernisierungseuphoriker ein bloßes „Noch-Nicht“. Funktioniert eine neue Unterrichtsform, Methode oder Software nicht, dann deswegen, weil sie „noch nicht“ richtig „umgesetzt“ oder „implementiert“ ist. Die technizistische Wortwahl verrät, dass es mehr um Sozialtechnokratie als um Bildung geht. Und so wird seit dem „Pisa-Schock“ eifrig reformiert und enthusiastisch digitalisiert. Viele Lehrer:innen und Schüler:innen fühlen sich seit Jahren „im Hamsterrad“ der Reformen.

Und dann kam die Coronakrise. Und die Schulschließungen. Diese und die sukzessive Wiedereröffnung legten offen, dass viele der neuen Lernformen nicht funktionierten. Sie hielten nicht, was die Modernisierer versprachen. Nicht wenige Schüler:innen waren mit der Selbstständigkeit des „Zu-Hause-Lernens“ überfordert.

Die „ewig Morgigen“ sagen, die Lehrer:innen hätten die spezifischen Kompetenzen nicht richtig trainiert. Hier gebe es Nachholbedarf. Zudem sei es eine unerwartete Situation gewesen. Und überhaupt: Die digitale Infrastruktur sei nicht ausreichend. Was in diesem Fall auch stimmt. Es fragt sich nur: Wofür nicht ausreichend?

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Statt weiter auf die „ewig Morgigen“ zu hören, kann man aus den ernüchternden Erfahrungen mit der Schulschließung auch den Change-Prozess im Bildungssystem in Frage stellen. Denn mindestens vier Aspekte, die dagegen sprechen, konnte man in dieser Phase wie durch ein Brennglas wahrnehmen. Nämlich:

Dass Schule als außerfamiliärer Aufenthaltsort für junge Menschen benötigt wird.

Dass Schüler:innen zum Lernen stabile Strukturen und institutionelle Außenhalte brauchen.

Dass Bildung nur in einem leiblichen Beziehungssystem funktioniert.

Und dass kleinere Klassen lern- und diskussionsförderlich sind.

Als wahre Aufgabe der Schule nannte der Schriftsteller Georg Klein einmal ihre Aufbewahrungsfunktion. Die blanke Not der Alltagsorganisation zwinge die Eltern, die „Energiebündel“ in die Schule zu schicken. „Wir“, so Klein, müssten den Nachwuchs „sechs oder mehr Stunden los sein, um unseren eigenen Kram mit der Welt geregelt zu bekommen.“ Auch für den Nachwuchs ist es gut, mal weg von den Eltern zu sein.

Die Coronakrise macht die Aufbewahrungsfunktion der Schule überdeutlich.

Strukturen sind notwendig

Dass zudem stabile Strukturen fürs Lernen notwendig sind, konnten Lehrkräfte daran ersehen, dass manche Mittelstufen-Schüler:innen während der Schulschließung die digital gestellten Aufgaben nicht sorgfältig oder gar nicht machten, auch wenn die digitale Ausstattung privat vorhanden war. Sicher haben zu viele Aufgaben für Frustration gesorgt; aber vor allem scheinen Selbstverantwortung und Zeiteinteilung viele Schü­le­r:in­nen überfordert zu haben. Der Grenzen setzende Rahmen fehlte.

Ein Vater berichtete kürzlich in der Deutschlandfunk-Sendung „Schulbeginn in Zeiten von Corona“, dass sein 16-jähriger Sohn die Aufgaben ständig aufschob, weil er sich selbst keine Tagesstruktur geben konnte. In Berlin kam hinzu, dass die Schüler:innen sicher sein konnten, sich bei den Zeugnisnoten nicht zu verschlechtern, da das Zu-Hause-Lernen wegen der unterschiedlichen häuslichen Voraussetzungen allenfalls positiv bewertet werden sollte.

Damit fielen auch Noten als institutioneller Orientierungsrahmen zumindest für jene weg, die ihre Versetzung sicher in der Tasche hatten. Offenbar sind traditionelle Rahmenbedingungen, sowohl zeitliche wie räumliche, und eben auch Noten als Lerngrund nötig, und zwar mehr, als es die neue Lernkultur wahrhaben will.

Vor allem aber erkennt man, dass die „aufnahmebegierigen Energiebündel“, wie sie Georg Klein nennt, ebenfalls sehr widerständig sind, vielleicht sogar erwartbar widerständig, und zwar gegenüber den neuen pädagogischen Subjektivierungsformen. Diese werden durch Etikettierungen wie „offen“, „individuell“, „selbstorganisiert“ und „selbstkompetent“ verbrämt und als solche von den Schü­le­r:in­nen durchschaut. Am Ende steht eben doch die Note.

Da es sich nicht lohnt, in einer Leistungsgesellschaft über die Abschaffung von Noten zu debattieren, weiter zum nächsten Punkt: dem Digitalisierungshype, mit dem menschlicher Kontakt ersetzt werden soll. Dass die digitale Kommunikation nicht immer funktionierte, weil Systeme zusammenbrachen, Datenschutzregeln die Nutzung bestimmter Tools verhinderten und einige Schü­le­r:in­nen und auch Lehrer:innen nicht über die digitale Infrastruktur verfügten oder sie nicht beherrschten, ist richtig. Das ist jedoch kein Argument für „noch mehr“ Digitalisierung im Bildungssystem, sondern allenfalls für stabile und datenschutzsichere Systeme, die man im Notfall eines Lockdowns benutzen kann.

Zum Lernen reicht Bildschirmkontakt nicht

Vielmehr wurde im Lockdown eine Sache deutlich, auf die die Medienwissenschaftler Ralf Lankau und Paula Bleckmann seit Langem hinweisen: nämlich dass ein Sich-Bilden in leiblichen Beziehungen geschieht. Dauerhafte Bildschirmarbeit dagegen führt nicht nur zur Selbst- und Weltentfremdung, sondern richtet auch die Körper zu – und zwar im orthopädischen Wortsinn.

Zudem erfuhren die Schüler:innen, dass beim „Zu-Hause-Lernen“ Computerspiele und Social-Messenger-Dienste nur einen Mausklick von digitalen Lernprogrammen und Aufgaben-Portalen entfernt sind und dass gerade diese Nähe ein Konzentrationshindernis ist.

Wie sehr begrüßte man schließlich die sukzessive Schulöffnung und – um zum letzten Punkt zu kommen – die reduzierten Klassengrößen, die einen lebendigen Austausch im Klassenraum zuließen, ohne dass irgendwo digitale Daten produziert, gespeichert und schlimmstenfalls kapitalistisch verwertet wurden.

Der Bildungsforscher John Hattie wies darauf hin, dass bestimmte Lehrmethoden und Formen der Interaktion und des Feedbackverhaltens wohl besser in kleineren Lerngruppen möglich seien und deswegen das Thema „Klassengröße“ weiter untersucht werden müsse. Man fragt sich nur, warum es dafür empirische Belege braucht.

Das vergangene Schuljahr gab also Antworten auf die Frage: Wozu ist die Schule da? Schule ist bedeutsam als Treffpunkt für Kinder und Jugendliche. Sie ermöglicht im besten Fall gelungene Begegnungen zwischen jungen und älteren Menschen, bietet als traditioneller Lernraum einen festen Rahmen, der stabiler funktioniert als die Formate der neuen Lernkultur, entlastet Eltern und bereitet auf spätere Studiengänge und Berufe vor. Das ist viel und dafür kann man die Schule schätzen.

Mehr Mensch weniger Technik

Es überfordert Schüler:innen, ständig gute Leistungen erbringen zu müssen, nebenbei „Selbstkompetenz“ und „Resilienz“ auszubilden und sich im neoliberalen Sinn zu optimieren. Was von ihnen verlangt wird, vor allem an Aufgaben- und Stoff­fülle, haben in der Zeit des „Zu-Hause-Lernens“ vor allem Eltern von Gymnasialschüler:innen erfahren. Denn die kompetenzorientierten und inhaltsleeren Lehrpläne führten nicht dazu, dass Lernstoff reduziert wurde. Er wurde in manchen Fächern nur beliebiger.

Wenn jetzt weiter an der Reformschraube gedreht und auf rastlose Digitalisierung gesetzt wird, dann heißt das: Schulische Pädagogik wird endgültig den Change-Managern und der boomenden EdTech-Industrie, den Anbietern von Bildungstechnologie also, überlassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Schule dient eben nicht nur der Aufnahme von Wissen sondern gibt Tagesstruktur und fördert Beziehungen in denen motiviert, angeleitet, gelobt, hinterfragt und auf Fragen geantwortet und diskutiert wird.

    Auch wenn es toll ist wieviel man heute auf youtube, im Internet aber auch in Büchern lernen kann, es kann den Lehrer und Schule nicht ersetzen.

  • Steile These oder nostalgischer Reflex?

    Nils Schulz ahnt, was Schule zusammenhält, aber sagt zu wenig über das, was die von ihm kritisierten Modernisierungseuphoriker genau fordern und wollen, wozu genau das führen bzw. nicht führen soll.

    Nils Schulz will das vielleicht nicht, aber verschärft ein Problem, das nicht nur in öffentlichen, bildungspolitischen, sondern auch in schulpädagogischen Diskursen wahrnehmbar ist: Es wird zu wenig danach gefragt, was von wem mit welchen Interessen gefordert, was damit befördert, aber auch verhindert wird bzw. werden soll.

    Wen Nils Schulz als Reformer*innen ausmacht – oder zumindest hinter den angeblichen Reformen stehend, zeigt sich am Ende seines Textes, wobei er Digitalisierung von Lehren und Lernen als Innovation bezeichnet, die Bewährtes in Frage stellt, obwohl diese sich aktuell vor allem als Verstärker und Konservator neoliberaler Strukturen präsentiert. So hat das Homeschooling der vergangenen Monate nicht Innovationen, Reformen oder gar neue Lernkulturen vorgeführt, sondern instruktive Lehr- und Lernmethoden: isoliertes Abarbeiten digitalisierter Arbeitsblätter, Auffüllen von Lückentexten, Trainieren von Vokabeln, Rechtschreibung und Formeln. Und wer Digitalisierung will, will sicher nicht das Lernen ohne Noten einführen; vielmehr wird im Zuge der Digitalisierung zunehmend über die Möglichkeit gesprochen, Lernstände zu vermessen.

    Nils Schulz zeigt, dass es in Schule nicht nur um Lernen geht; indem er aber den Wert der Schule für Schüler*innen auf einen außerfamiliären Aufenthaltsort reduziert, die Digitalisierung veralteter, analoger Lehrmethoden nicht als Problem ausmacht und unerwähnt lässt, dass Kinder bzw. Schüler*innen sich nicht nur in der Schule treffen, sondern hier auch voneinander lernen, geht es wohl auch in seinem Text nicht nur um Lernen, sondern um einen nostalgischen Reflex.

  • Nils Schulz will also, ganz vernünftiger Lehrer, den Teufel mit dem Belzebub austreiben.



    Dass die merkwürdige Obsession unserer Bildungspolitik mit selbstoptimierenden Kompetenzen und technischen Lösungen nicht hilfreich ist, ist ebenso wahr wie der Druck kapitalistischer Zwänge auf Schule, Eltern und Kinder.



    Die Schule als Begegnungsort in kleinen, vertrauten Gruppen kann aber nur dann ein Gegenmittel sein, wenn man sich von abzuarbeitenden Lehrplänen und Noten, den Unterrichtsmitteln der Guten alten Zeiten, denen die Pädagog_innen deutscher Schulen immer noch hinterher jammern, möglichst weit entfernt. Denn ebenso wie Bildschirme sorgen diese für einen entfremdeten, durchgeplanten Unterricht, der keinesfalls anregenden Begegnungen, sondern Zwang, Stress und Schulangst bedeutet. Wenn das die Alternativen sind, nehme ich gerne die neoliberal-kapitalistische Bildschirmbildung anstelle der autoritär-kapitalistischen Lernfabrik an. Noch besser wäre aber, nicht zu behaupten, Noten ließen sich in einer Leistungesellschaft nicht abschaffen, denn unsere Notengesellschaft gaukelt die Hierarchie nach Leistung zum großen Teil erst vor.



    Ich wünsche mir von der taz, weder den Verfechter_innen einer völlig undurchdachten Digitalisierung der Schule, noch den Pauker_innen von Vorgestern das Wort zu reden. Schule in ihrer heutigen Form bedeutet Unterordnung und Pseudo-Leistung, Schule in ihrer imaginierten morgigen aufgesetzt-fröhliche Unfreiheit. Gegen beides muss 'die Linke', wenn es so etwas gibt, eine aufgeklärte und freiheitliche Bildung setzen, die in der überforderten Schulpraxis einfach nicht zu finden ist.

  • Digitaler Unterricht und Unterricht vor Ort sind ja kein Widerspruch, sondern können sich ergänzen. Außerdem gibt es ja genug gelungene Beispiele für digitalen Unterricht.

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    Ich würde mal wetten, dass die Meisten, die von Digitalisierung plappern, nicht genau wissen, wie das geht und welche Auswirkungen das hat.



    Statt der zweiten Fremdsprache sollte Informatik Pflichtfach werden.

  • Sowohl das alte als auch das neue Konzept scheinen ja super zu funktionieren. Früher hat einfach die Hälfte der Stufe regelmäßig abgeschrieben und sich irgendwie durch den Schulalltag gedrückt. Und heute ist es anscheinend möglich sich hinzusetzen und dezidiert zu lernen, zumindest theoretisch gesehen. (Das ist besonders hilfreich, wenn man dann anfängt zu studieren und sich dies tatsächlich angewöhnen muss)

    Auch das mit den sozialen Kontakten stelle ich stark infrage; kleine Kinder kriegen es i.d.R. ganz gut auf die Reihe diese in der Nachbarschaft oder Vereinen zu finden. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Schüler auf "Amerikanische Highschool Light" ganz verzichten könnten. Fairerweise sollten direkt Schüler dazu befragt werden.

  • Auch wenn ein Artikel über Corona und Schule damit zu weitschweifig würde: Das Hinterfragen der Leistungsgesellschaft und ein Lob der Faulheit lohnen sich. Die vielen Krankschreibungen wegen Burn-Out zeigen es: Selbst die Wirtschaft wäre besser dran, wenn weniger Menschen langfristig krank wären.

  • Als ehemaliger, nun pensionierter Lehrer spricht mir der Artikel aus dem Herzen. Lernen und Bildung muss in der Hauptsache in der zwischenmenschlichen "anologen" Interaktion stattfinden. In meiner ehemaligen Schule war ich für das digitale Lernen zuständig und nach vielen Jahren ernüchternder Erfahrung mit dem Wundermittel digitales Lernen stelle ich fest, dass dieses allenfalls als Ergänzung in Übungsphasen und zur Informationsgewinnung eingesetzt werden sollte. In der Attraktivität kann es das beste Lernprogramm mit den Computerspielen nicht aufnehmen. So wundert es mich nicht, dass die meisten Schüler ihre "Lernzeit" daheim mit solchen Spielen verbringen. Die Digitalisierung bis hin zu KI verspricht der kapitalistischen Wirtschaft eine Einsparung teurer Arbeitskraft. Gott sei Dank, können Lehrer nicht wegrationalisiert werden, da Ihre Tätigkeit, wie auch die Tätigkeiten von Ärzten, Krankenschwestern, Verkäuferinnen, Psychologen, und und und systemrelevant sind.