Die Wahrheit: Carpe diem dich doch selber!
Dummes Zeug hat die Eigenschaft, sich es in Gehirnzellen dauerhaft gemütlich zu machen – gegen gaga Eselsbrücken und kitschige Songs im Kopf hilft nix.
Die Sängerin Nena hat ja bekanntlich den Kopf voller Dinge, die man so schnell vergisst. Ich dagegen muss mich wehren gegen die ganzen Dinge in meinem Kopf, die ich gerne vergessen würde. Dumme Sprüche, Lieder, Filmzitate, Parolen, mäßige Kalauer und halbe Otto-Platten sind da völlig unsortiert abgespeichert und melden sich zu Wort, wann immer sie wollen. Dabei habe ich nicht einmal ein gutes Gedächtnis.
Beispiel: Ich muss eine Fähre nur von Weitem sehen, schon warnt mich der Barde Chris de Burgh eindringlichst, ich solle keinesfalls den Fährmann bezahlen, nicht mal einen Preis festlegen, bevor er mich auf die andere Seite gebracht hat. Der Fährmann. Die Karten für Fähren muss man aber gemeinhin vor der Fahrt erwerben. Ich sitze also auf der Fähre nach Borkum und in meinem Kopf läuft während der gesamten Überfahrt das gesungene Mantra des charismatischen Iren in Dauerschleife: „Don’t pay the ferryman / Don’t even fix a price / Don’t pay the ferryman / Until he gets you to the other side.“ Die Passage dauert übrigens zwei Stunden und zehn Minuten. Da fahre ich nie wieder hin.
Werde ich geschlechtsreifer männlicher Hausrinder ansichtig, denke ich jedes Mal „Scheiße, die Bullen“ (und finde es lustig), Djuvec Reis nenne ich konsequent Dubček-Reis und singe innerlich „Mao Tse Tung, King Kong“ dazu. Und immer, wenn ich den Nachrichtensprecher mit der kleinen Nase im Fernsehen sehe, kommt mir unwillkürlich der Spruch in den Sinn: „Wie die Nase des Mannes, so sein Johannes“. Das ist doch peinlich. Das kann man doch keinem erzählen. Außer für einen billigen Lacher natürlich.
Sobald ich eine Schraube irgendwo reinschraube, werde ich von drei Müll-Gedanken zugleich belästigt. Erstens: „Es heißt Schraubendreher und nicht Schraubenzieher.“ Zweitens: „Nach fest kommt locker.“ Drittens: „Solang das Deutsche Reich besteht, wird jede Schraube rechts gedreht.“
Obdachloses Netflix-Passwort
Toll. Eine Nazipropaganda-Eselsbrücke. Wie ist die in meinem Kopf gelandet? Links – Lösen hätte es doch auch getan. Aber dummes Zeug hat die Eigenschaft, es sich in Gehirnzellen dauerhaft gemütlich zu machen und akzeptiert keine Eigenbedarfskündigung. Deshalb bleibt das Netflix-Passwort obdachlos.
Erklingt „You can’t hurry love“ im Radio, kalauert es zuverlässig in meinem Kopf: „Du kannst Harry nicht lieben.“ Erst grinse ich debil über meinen guten alten Spitzenwitz, dann muss ich wieder an meinen ehemaligen Bekannten Harry denken, charmant und gutaussehend aber irgendwie beziehungsunfähig. Und werde ein bisschen nachdenklich. Was aus dem wohl geworden ist?
In dem Lied „Wann strahlst du?“ von Erobique & Jacques Palminger heißt es „Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen“. Das Lied ist schön, doch wie ein trotziger Teenager denke ich jedes Mal, wenn ich das Lied höre: Verehrter Herr Palminger, lieber Herr Erobique, ich finde diese Aussage falsch. Wir können gerne mal bei einem guten Glas Dornfelder darüber diskutieren, aber meine These lautet: Wir schulden dem Leben gar nichts. Und aus den Tiefen des präfrontalen Cortex schiebt sich flugs noch ein dämliches „Sorry, meine Meinung“ dahinter.
Lasst euch also nicht von Liedern unter Druck setzen! Sie stimmen oft nicht. In Südkalifornien ist für heute leichter Regen angesagt. Auch dort, wo das Reh und die Antilope spielen, werden Leute gemobbt. Und erinnert sich noch irgendwer an den Hit von Tina York? 1974. „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten / Das Singen nicht und auch die Fröhlichkeit“. Niemand wollte der Schwester von Mary Roos je das Singen verbieten. Oder gar die Fröhlichkeit. So alt ist dieser Trick schon.
Und lasst euch nicht stressen von diesem allgegenwärtigen „carpe diem“! Nutze den Tag – das ist doch reinste FDP-Ideologie. „Carpe deinen dämlichen Diem doch selber“, denkt es sofort in mir, angesichts des Wandschmucks im digitalen Teams-Hintergrund der Kollegin. Oder ist das gar kein Teams-Hintergrund? Sieht es bei der in echt so aus? Gut, dass niemand sehen kann, wie es bei mir in echt aussieht. Wie bei Hempels unterm Sofa nämlich, aber wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen.
Oft werden Sprüche und Idiome ja von Generation zu Generation weitergegeben. Ich glaube, ich bin es dem Leben schuldig, westfälische Weisheiten zu konservieren. „Egal ist Lage von hinten“, „Das kannste halten wie ein Dachdecker“, „Sieben Pils sind auch ein Schnitzel“.
Um die nächste Generation müssen wir uns übrigens keine Sorgen machen. Neulich verabschiedete sich eine leicht aufgedrehte Fünfjährige von mir mit den Worten „Tschaui Kakaoi“. Und wo war mein Archiv der idiotischen Idiome in diesem Moment? Absolute Stille. Nur ein leichtes Japsen der Synapsen. Mir fiel einfach keine passende Antwort ein. Danke fürs Lesen. Das war es von mir. Paris, Athen auf Wiedersehen!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen