Die Wahrheit: Solche Oschis
Am Nachbartisch lässt sich ein älterer Anatomie-Experte über die Brüste einer Dame aus. Die Zumutungen im öffentlichen Raum werden nicht weniger.
M ein Dorf liegt unter einer Schneedecke und ist noch stiller als sonst. Nicht mal der Reitlehrer um die Ecke brüllt herum, der uns sonst mit seinen weithin hörbaren Kommentaren das ganze Wochenende versüßt: „Ja, jahaaa, lass ihn kommen, lass ihn kommen – siehst duuuu? Jetzt kommt er!!!“ Sind alle Reitschüler taub oder alle Reitlehrer Choleriker? Und was unterrichtet der da eigentlich?
Weil hier Ruhe ist, muss ich in die Kreisstadt. Die fröhliche Seniorenrunde am Nebentisch im Café wird dominiert von einem sehr lauten Herrn, der sich darüber auslässt, was für große Brüste Frau Müller doch hat. Und dann trägt sie nie einen BH! Solche Oschis, und kein BH!
Jemand fragt zaghaft, woher Lautmann das denn wissen will. „Das sieht man doch!“, trompetet der Anatomiesachverständige, der allen Menschen beim Kennenlernen gewiss zunächst in die Augen schaut. „Das sehe ich doch, das sehe ich doch! Aber das Allerschlimmste: Die kommt dann immer zusammen mit ihrer Freundin, die sind lesbisch! Dabei ist sie doch bestimmt zum Kinderkriegen! Anatomisch! Genetisch prädestiniert zum Kinderkriegen!“
Lautmann hat offenbar noch nicht herausgefunden, dass er genetisch eher zum Klappehalten bestimmt ist. Natürlich könnte man ihm da rein anatomisch etwas auf die Sprünge helfen, aber von Gewalt in Kleinstadtcafés ist im Allgemeinen abzuraten. Habe ich mal gehört.
Da flüchte ich Richtung Großstadt. Doch auch im Zug gibt es verstörende Gesprächsbeiträge: „Wir fahren zu einer Silberhochzeit. Das Schöne ist ja: Die Frau hatte einen schweren Autounfall, die weiß gar nicht mehr, dass sie verheiratet ist.“
Also lieber Weghören und Personen-und-Beruferaten, eines der letzten analogen Vergnügen in der Bahn – da bin ich nämlich richtig gut. Doch ach, der freundliche Rentner neben mir, der sein Handy nicht kapiert und früher in der Verwaltung gearbeitet hat, ist in Wahrheit Mitglied eines berühmten Sinfonieorchesters.
Die schicke Migrantin, die später seinen Platz einnimmt und mir ihre Familiengeschichte erzählt, kann ich kaum verstehen. Das hatte ich zwar befürchtet, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass es an ihrem perfekten Schwäbisch liegen wird.
Mein neues Gegenüber, die Grundschullehrerin, die mit ihrem abgeschabten Riesenkoffer gewiss gerade auf dem Weg zum Hauptstadtflughafen ist, um ihre Verwandtschaft in Anatolien zu besuchen, und der ich gern meine völlig vorurteilsfreie Gutmenschen-Aufmerksamkeit schenken will, entpuppt sich als türkischstämmige Biologin, die zu einem Fachkongress der Pharmaindustrie nach Kopenhagen reist.
Den ollen Koffer hat sie sich von ihrem Mann Tim geliehen, der auf die Kinder aufpasst und leider nichts wegwerfen kann. Sie gönnt mir dann ein interessantes Fachreferat zur Impfstoffentwicklung. Und die Kolumnistin, die auf meinem Platz sitzt, ist übrigens ein genetisch prädestinierter Trottel.
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