Die Wahrheit: Die Krawallbraut
Tagebuch einer Gleichmütigen: Nach langem Leben fern rheinischer Heimat lässt sich Berlin aushalten unter dem alten Motto: „Jede Jeck is anders“.
N eulich in Charlottenburg. „Sie haben wohl keine Ahnung, wie man sich im Verkehr verhält!“, keift eine kleine Frau fortgeschrittenen Alters, bewaffnet mit einem Beutel, auf dem ein Piratenkopf und die Worte „Sea Shepherd“ gedruckt sind, einen gutmütig wirkenden Best Ager an. „Ja, lassen Sie einfach alles mal raus“, ermuntert er sie. „Sie kommen doch vom Dorf, so wie Sie hier rumlaufen“, zickt sie zurück. „Jedenfalls nicht aus Berlin!“
Der nichtberlinische Dorfbewohner wird von der eiligen Beutelfrau forsch überholt, jetzt bin nur noch ich übrig. An einer Fußgängerampel bietet sich der Dame endlich die Gelegenheit, auch auf mich loszugehen, in meinem Rücken aggressives, unverständliches Gezeter. „Geht es Ihnen nicht gut?“, frage ich die schnappatmende Piratenschäferin der Meere; nicht dass ihr auf dem trockenen Stadtpflaster noch die Luft ausgeht.
Zwar habe ich kein sonderlich friedliches Temperament, bin aber auch nicht aus Berlin, was meinen dörflichen Gleichmut erklärt. In mir überdauert selbst nach jahrzehntelangem Leben fern von meiner rheinischen Heimat hartnäckig der Grundsatz „Jede Jeck is anders“.
Ich hänge die Krawallschachtel auf der Höhe des früheren Amtsgerichts an der Kantstraße ab. In dessen rückwärtigem Teil befindet sich ein ehemaliges Frauengefängnis, in dem während der Nazizeit Widerstandskämpferinnen eingesperrt waren; seit einiger Zeit beherbergt das Gebäude ein Hotel und ein angesagtes Restaurant. In Zeitungsartikeln wurde der „behutsame“ Umbau gelobt.
Furchtbar behütet in der Gefängniszelle
Warum und wie man sich in einer ehemaligen Gefängniszelle behütet fühlen soll, erfahre ich beim Studium der Website. „Entdecken Sie einen Ort, der entspannter nicht sein könnte.“ Auch bei der Unterkunftauswahl ist für jeden was dabei: „Cosy, klein, aber fein – dieses kompakte Zimmer bietet alles, was Sie für einen gemütlichen Aufenthalt benötigen.“
In der Kamin-Lounge findet der Gast schließlich „so viel Privatheit und Stil – ein bisschen wie zuhause“. Ein wenig beklemmend nur, dass viele, die hier „zu Hause“ waren, ihr eigenes Zuhause nie wiedergesehen haben. Was daran „gemütlich“ sein soll, in einem Raum zu schlafen, in dem Menschen jahrelang verrotteten oder auf ihre Hinrichtung warteten, erschließt sich mir nicht so recht, aber wahrscheinlich bin ich einfach zu empfindlich.
Dagegen hilft körperliche Betätigung. Was früher der Hofgang war, ist jetzt auf den neuesten Stand gebracht. „Starten Sie Ihren Tag in unserem Gym mit einer kleinen Auswahl an hochwertigen Fitnessgeräten.“ Oder ab ins Erfrischungsbecken und „… nehmen Sie im Winter ein Eisbad nach der Sauna (aus ökologischen Gründen nicht beheizt)“. Ist das Eisbad unbeheizt? Oder die Sauna kalt? Egal, vorbildlich!
Plötzlich sehne ich mich nach der Krawallbraut. Soll sie hier bitte den ganzen Tag gegen behutsamen Knasttourismus krakeelen. Anregung könnte ich liefern, aber ihr fällt bestimmt auch ohne mich was ein.
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