Die Wahrheit: Der Span des Lebens
Die aktuelle Zeitungskrise aus der ganz persönlichen Sicht eines Spanplattenproduzenten.
Zukunft der Printmedien und des Qualitätsjournalismus, Zeitungskrise, Leserschwund – für jemanden, der wie ich die Tragödie des Journalistenberufs in der eigenen Familie miterleben musste, stellen sich solche medialen Schlagworte in einem ganz anderen Licht dar.
Ich selbst wollte eigentlich immer Bildhauer werden, musste dann aber die Spanplattenfabrik meines Vaters übernehmen. Dreidimensional waren meine Träume gewesen, doch das Leben hatte nur zwei Dimensionen für mich vorgesehen.
Mein Bruder Johnny aber war bis vor einer Woche noch Journalist. Das war von Anfang an sein Berufswunsch gewesen, sein Traum. Und niemand hatte ihm Steine in den Weg gelegt. Nach der Journalistenschule begann er bei einer großen süddeutschen Tageszeitung als Volontär, und zwar in der „Redaktion AWfh“ (Amerikanische-Wissenschaftler-fanden-heraus).
Meinem eigenen Lebensweg schien ein eher flacher, glatter Verlauf vorgezeichnet. Doch es kam ganz anders. Denn amerikanische Wissenschaftler fanden heraus, dass die Leime, mit denen wir unsere Spanplatten verarbeiteten, tatsächlich hochgradig giftig waren.
Glücklicherweise konnte ich den Giftanteil verringern und so die Lebenserwartung unserer Kunden erhöhen, woraus sich eine Win-Win-Situation für beide Seiten ergab. Denn länger lebende Kunden haben einen nachhaltigeren Bedarf an Spanplatten. Ich entdeckte, dass die Welt der Spanplatte doch ihre Herausforderungen für mich hatte!
Edle Massivhölzer
Johnny arbeitete dann als Nachrichtenredakteur, später als Auslandskorrespondent in New York und an anderen Orten, wo er das Ohr an den Puls der Zeit legen konnte. In der Spanplattenbranche wiederum begann eine faszinierende Phase des Umbruchs. Wir entdeckten, dass die Fasern der Stängel vieler Kulturpflanzen, die man bisher verbrannt hatte oder verrotten ließ, hervorragendes Rohmaterial für Spanplatten waren.
Für die Umwelt war das ein Segen, weil die krankheitserregende Verbrennung von Ernterückständen nun unterblieb. In einem äthiopischen Hochtal ging die Kindersterblichkeit allein deswegen um 3,82 Prozent zurück. Jeden Tag starben 0,75 Kinder weniger, seit meine Firma die Ernterückstände aufkaufte!
Johnny, der in der Zwischenzeit wieder in die Zentrale zurückversetzt worden war, musste nun immer größere Textmengen produzieren, um das Feuilleton, die Wochenendbeilage und die vielen Sonderbeilagen zu füllen, die nur der Anzeigenakquisition dienten. Während sich im Spanplattensektor die Innovationen überschlugen, gelangte Johnny zu der Auffassung, dass es auf der Welt immer weniger Neues und Berichtenswertes gebe. Er schlug seiner Zeitung die Umstellung auf eine wöchentliche Erscheinungsweise vor, was zunächst als gelungener Scherz beschmunzelt wurde.
Vielleicht trage ich Mitschuld an der nun folgenden Zuspitzung der Entwicklung, denn meine ganze Aufmerksamkeit wurde durch ein neues Marktsegment meiner Branche absorbiert. Gemeint ist die letzte Behausung des Menschen, die bislang aus einer irrationalen Tradition heraus edlen Massivhölzern vorbehalten war.
In der Katastrophenredaktion
Johnny war inzwischen in die Katastrophenredaktion versetzt worden. Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, dass er in seinem Beruf nicht mehr glücklich war. Er schrieb mir Briefe, in denen er formulierte, das Wasser stünde ihm bis zum Hals, er sei völlig von der Außenwelt abgeschnitten, und das alles sei das größte Unglück seit Menschengedenken. Er bitte um Ausrufung des Notstandes und um sofortige Evakuierung.
Er soll nun auch immer öfter gänzlich leere Manuskriptfiles in den Druck gegeben und der Verlagsleitung in einem langen Gespräch ernst und nachdrücklich eine monatliche Erscheinungsweise der Zeitung ans Herz gelegt haben.
Vor einer Woche hat man ihn schließlich entlassen. Johnny befindet sich derzeit mit schweren Depressionen in einer Klinik. Immerhin, der leitende Arzt ist ein alter Freund von mir, Johnny wird dort gut betreut. Alles kommt jetzt darauf an, seinem Leben wieder einen Sinn zu geben. Ich werde ihn morgen besuchen und ihm die Redaktion unserer Hauszeitschrift Span und Platte anbieten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut