Die These: Die Gesellschaft braucht Kirchen

Den Kirchen laufen die Mitglieder davon – und das geschieht ihnen recht. Die Gesellschaft verliert damit aber wichtige Diskursräume.

Leere Kirchenbänke

Leere Kirchenbänke Foto: Imago

Es braucht keinen Blick ins vermeintlich finstere Mittelalter, nicht den Fingerzeig auf Kreuzzüge und Hexenverfolgung. Für viele Zeit­ge­nos­s:in­nen genügt die gegenwärtige Verfassung der Kirchen völlig, um sich über ihr Schwinden zu freuen. Ich habe Verständnis für diese Wahrnehmung, obwohl ich selbst Mitglied der Kirche bin, in der katholischen. Noch.

In Deutschland vollzieht sich fast unbemerkt ein tiefgreifender Kulturwandel: 2022 wird das Jahr sein, in dem erstmals weniger als die Hälfte der Bevölkerung Mitglied einer der beiden Großkirchen ist. Vermutlich. Für das laufende wie das vergangene Jahr liegen bisher keine Daten vor. Die Information beruht auf einer Hochrechnung aus den Zahlen der Vorjahre. Wann der Kipppunkt exakt erreicht wird – oder vielleicht schon wurde –, tut wenig zur Sache. In jedem Fall stellt er eine historische Zäsur dar, mit der es erstmals nicht mehr „normal“ ist, Kirchenmitglied zu sein.

Ich wurde im kirchlichen Umfeld sozialisiert. Zu meinem Glück in großer Freiheit und ohne jede denkerische Enge, so dass ich mir früh eine kritische Distanz zu den Absonderlichkeiten der Kirche errungen habe. Frei von dogmatischen Einschüchterungen konnte ich mir das eindrucksvolle Kulturerbe des Christentums erschließen. Ich habe katholische Theologie studiert und eine faszinierend vielfältige Geistesgeschichte kennengelernt, habe in Pfarreien Selbstlosigkeit und echtes Sozialbewusstsein erlebt. Bis heute gehe ich gerne zum Gottesdienst und schätze die ritualisierte Stunde Lebenszeit am Sonntagvormittag. Ich kann dort Gedanken, Wünschen und Zweifeln Raum geben und etwas aufgeräumter wieder nach Hause gehen – meist trotz, nicht wegen der Predigt.

Unzeitgemäß bis gegenwartsfeindlich

Hier muss meine positive Bilanz enden. Denn natürlich besteht die Kirche nicht nur aus tollen Erfahrungen mit weltoffenen, selbstlosen Leuten. Es gibt auch die anderen, Erfahrungen wie Menschen. Vor allem aber ist Kirche auch Institution. Und diese Institution wird von einem Großteil der Bevölkerung zu Recht als nicht mehr zeitgemäß bis gegenwartsfeindlich abgelehnt. Wenn ich sage, dass die Kirche ein unseliger Hort der Diskriminierung und Ungleichberechtigung ist, dass viele ihrer Dogmen einer Beleidigung des menschlichen Intellekts gleichkommen, dass sie verbrecherischen Missbrauch toleriert und durch hierarchische Strukturen wohl auch befördert hat, dann gilt das insbesondere für die römisch-katholische Kirche. Die evangelischen Kirchen geraten in der Öffentlichkeit teils in Sippenhaftung, sind aber auch nicht gänzlich frei von diesen Problemen. Nicht wenige evangelische Christinnen und Christen stören sich am Hypermoralismus ihrer Kirche und betrachten das Gebaren der Kirchenleitung vorwiegend als Symbolpolitik mit geringer Wirkung. Dafür, dass sie sich protestantisch nennen, tragen die evangelischen Kirchen in der Tat wenig Überraschendes zum gesellschaftlichen Diskurs bei. Die Stimmen der katholischen Bischöfe werden dagegen aus gutem Grund jenseits ihrer klerikalen Echokammern kaum noch wahrgenommen.

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Das Kirchenvolk stimmt indes mit den Füßen ab: Jährlich verlieren die evangelische und katholische Kirche hierzulande Mitglieder im sechsstelligen Bereich. Rund 660.000 waren es im Jahr 2019 in den beiden Institutionen gemeinsam. Die Verluste durch Sterbefälle und Kirchenaustritte sind etwa gleich groß und werden von Taufen und Wiedereintritten bei Weitem nicht mehr aufgewogen. Die Austrittszahlen steigen seit Jahren. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den angeschlagenen Heilsanstalten hat man sich längst an die Entwicklung gewöhnt. Was hier mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und einem genugtuenden „Geschieht ihnen recht!“ quittiert wird, versucht man dort mit ritualisierter Betroffenheit und Aufrufen zu mehr Gottvertrauen wegzuinterpretieren.

In linken oder atheistischen Milieus mag das Unterschreiten der symbolischen 50-Prozent-Marke für Jubel sorgen. Jetzt, da es nicht mehr normal ist, einer Kirche anzugehören, steigt der Druck, die unverhältnismäßige Repräsentation der Glaubensgemeinschaften in Rundfunk- und Ethikräten neu zu verhandeln und andere Privilegien auf den Prüfstand zu stellen. Auch diesen Impetus kann ich verstehen. Trotzdem schmerzt mich der Abwärtstrend. Nicht weil mir der Untergang einer aus der Zeit gefallenen Institution wegen ihrer selbst leidtäte. Sondern weil ich glaube, dass die Kirchen auch in einer mehrheitlich säkularen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen könnten – wenn sie denn wollten.

Religiosität verschwindet nicht, sondern pluralisiert sich

Global betrachtet hat sich die Säkularisierungsthese nicht bewahrheitet: Trotz Liberalisierung wachsen die Religionen in den meisten Ländern der Welt. Auch in Deutschland darf man das Schwinden der Kirchen nicht mit einem Rückgang von Religiosität verwechseln. Vieles spricht dafür, dass sich Religiosität pluralisiert und weniger institutionell wird, teils in spirituelle Praktiken übergeht, nicht aber verschwindet. Manche Menschen wenden sich Freikirchen, andere ihrer Meditations-App oder einem Guru zu.

Unsere Gesellschaft braucht Räume, in denen wir existenzielle Fragen stellen und religiöse Sprachfähigkeit entwickeln können. Die Kirchen könnten solche Räume sein. Vorausgesetzt, sie wären bereit, ihr Zuviel an vermeintlich göttlicher Legitimation abzulegen und ihr Zuwenig an gesellschaftlicher Relevanz in Angriff zu nehmen.

Ich möchte nicht missverstanden werden: Es geht mir nicht darum, Werbung für die Kirchen zu machen. Ohne Zweifel gibt es in ihren Reihen mehr als genug hinterweltlerische Schwärmer. Aber sie sind eine kleine Minderheit und werden es auch bleiben. Die Volkskirchen verkörpern hierzulande das Modell der aufgeklärten Kompromissreligion.

Der institutionalisierte Zweifel

Seit der Aufklärung müssen Menschen mit der Ungewissheit leben, dass die Existenz Gottes nicht feststellbar ist. Das hat auch die Kirchen geprägt. Sie sind nicht die mittelalterlichen Monolithen, als die sie von außen oft erscheinen. Sie haben gelernt, den Zweifel zu akzeptieren und in die eigene Glaubenswelt zu integrieren. Das fördert die Ambiguitätstoleranz der Mitglieder und schützt vor dem Drang zur Vereindeutigung der Welt. Daher gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen der Überwelt, an die Christen glauben, und der Hinterwelt, die Esoteriker und Verschwörungsgläubige für wirklicher halten als die komplexen Zusammenhänge des Lebens. Diese Gruppen können den Zweifel unmöglich zulassen, weil er ihre Identität in Frage stellt. Die Beschaffenheit religiöser Großgemeinschaften dagegen, ihre Diskurskultur und gesellschaftliche Vernetzung, schützen vor dem Abdriften in den Fundamentalismus – wenigstens in der Breite.

Das ist es, was die Kirchen leisten könnten. Angesichts ihrer Verfassung stelle ich mir oft die Frage, warum ich weiterhin Mitglied bin. Wo verläuft die Grenze zwischen Mitläuferschaft und Streben nach Veränderung? Bisher bin ich nicht bereit, denen das Feld zu überlassen, die die Kirche in der Welt von gestern belassen wollen. Bisher möchte ich meine kulturelle Heimat nicht aufgeben. Initiativen wie Maria 2.0 oder #outinchurch, die sich für Geschlechtergerechtigkeit und Queerakzeptanz in der Kirche einsetzen, machen deutlich, dass Papst und Glaubenskongregation längst die Deutungshoheit darüber eingebüßt haben, was katholisch ist. Der Synodale Weg macht sich für Reformen in der katholischen Kirchen stark – auch mit bischöflicher Unterstützung.

Sollte sich abzeichnen, dass diese Hoffnungen unerfüllt bleiben, werde auch ich weg sein. Weil die Kirchen dann an dem gescheitert wären, was sie sein könnten.

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