Die These: Wir brauchen eine Erasmus-Armee
„Der Russe“ als Feindbild ist zurück – und schon fordern manche in Deutschland eine Rückkehr der Wehrpflicht. Besser wäre es, europäisch zu denken.
W äre Deutschland eigentlich „bereit, die Lebensform, die man sich aufgebaut hat, auch zu verteidigen“? Und: „Was bedeutet dann Verteidigung, wenn diese in Gefahr ist?“ Diese Fragen stellte zwei Tage vor dem Einmarsch Putins in die Ukraine der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel in dieser Zeitung.
Seitdem haben sich die Ereignisse derart beschleunigt, dass es bereits einige Antworten auf diese zunächst noch rhetorischen Fragen gibt: Ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr soll eingerichtet werden, und künftig sollen mehr als 2 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung in die Verteidigung fließen. Waffen werden ins Krisengebiet Ukraine geliefert, auch mit Zustimmung der Grünen.
Auf Twitter fragen sich derweil junge Menschen, was sie eigentlich tun müssten, wenn es im eigenen Land Krieg gäbe. Und erste Abgeordnete im Bundestag diskutieren bereits über die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht, wenn auch in reformierter Form, nämlich in Gestalt eines „Gesellschaftsjahrs“. Nicht bloß Unionspolitiker argumentieren in diese Richtung, auch der Sicherheitsexperte der SPD-Fraktion, Wolfgang Hellmich, sagte gegenüber der Rheinischen Post: „Die Debatte über eine allgemeine Dienstpflicht müssen wir dringend führen. Denn dafür brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens.“
Das Anschwellen des Wehrwillens
In der Tat gibt es in der Gesellschaft gerade einiges auszuhandeln, wenn es um Krieg und Frieden geht, wie ein Blick in Kommentarspalten und soziale Medien ergibt. Dort kann man ein deutliches Anschwellen des Wehrwillens feststellen bis hin zur Beschäftigung mit Waffensystemen und der Frage, wie man Militärfahrzeuge mit Mitteln aus dem eigenen Haushalt außer Gefecht setzt.
Zeitenwende oder bloß Coronakoller? Nach zwei Jahren der Verunsicherung und Frustration die Lust, mal einen Molotowcocktail auf einen Panzer zu werfen? Oder doch eher der konkreten Angst geschuldet, dass man gerade nicht weiß, an welcher Grenze die russischen Truppen Halt machen, denen man laut Auskunft des eigenen Heeresinspekteurs „ziemlich blank“ gegenübersteht.
Interessant ist, dass dieses Land in Aufrüstung gerade von Zivildienstleistenden regiert wird, wie Olaf Scholz (Jahrgang 1958, Pflegeheim), Robert Habeck (Jahrgang 1969, arbeitete mit Menschen mit Behinderung) und Christian Lindner (Jahrgang 1979, Hausmeister in der Theodor-Heuss-Akademie), der es allerdings nach seiner rein pragmatischen Entscheidung, zugunsten seines Business zu verweigern, später als Reservist bis zum Major brachte.
Zu Scholz’ Zeiten musste man zwecks Verweigerung oft noch vor einer Kommission antanzen, die einen fragte, was man denn zu tun gedenke, wenn „der Russe“ vor einem stehe mit einem Gewehr und drohe, die eigene Mutter/Frau/Freundin zu vergewaltigen. Zu „meiner Zeit“ konnte man schon schriftlich mit Textbausteinen aus dem C64 verweigern – und damals wäre es mir nun wirklich absolut undenkbar und sinnlos erschienen, Wehrdienst zu leisten: Der Zweite Weltkrieg steckt meiner Familie bis heute in den Knochen und der Kalte Krieg, mit dem ich aufgewachsen bin, war gerade erst vorüber.
Eine unangenehme Zeitreise zurück ins 20. Jahrhundert
Doch auch wenn man sich im Moment auf unangenehme Weise ins 20. Jahrhundert zurückversetzt fühlt, müssen die Antworten auf Bedrohungsszenarien nicht ebenso antiquiert sein: „Die Wehrpflicht, so wie wir sie noch kennen, ist in der jetzigen Situation nicht erforderlich“, sagte ebenfalls in dieser Woche der ranghöchste deutsche Soldat, Generalinspekteur Eberhard Zorn, den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die Bundeswehr und ihre Aufgaben hätten sich verändert: „Für den Kampf im Cyberraum, um nur ein Beispiel zu nennen, sind Wehrpflichtige absolut ungeeignet“, erklärte er. „Wir brauchen gut ausgebildetes, in Teilen sogar hochspezialisiertes Personal, um das gesamte Aufgabenspektrum abzudecken.“ Auch führende SPD-Mitglieder wie Kevin Kühnert sprachen sich gegen eine Wiedereinführung aus. Markus Söder (CSU) ist ebenfalls dagegen – Bodo Ramelow (Linkspartei) hingegen dafür.
Die Debatte geht weiter. Könnten denn Zwangsdienste tatsächlich eine glaubwürdige Antwort der Demokratie auf die Bedrohung durch autoritäre Mächte sein? Wären junge Menschen im Westen überhaupt bereit, sich von Boomern zwangsweise in den Krieg schicken zu lassen? Gleichzeitig scheinen sich derzeit viele junge Menschen tatsächlich internationalen Brigaden anzuschließen, die nun helfen sollen, die Ukraine gegen die russische Armee zu verteidigen.
Zu Beginn dieser schrecklichen Woche spazierte ich abends auf der Grenze zwischen Slowenien und Italien am Meer entlang. Hier, wo einst der „Eiserne Vorhang“ verlief zwischen dem blockfreien Jugoslawien und Westeuropa, ist nun „Mitteleuropa“. In der Bucht vor Koper stauen sich die Containerschiffe, weil die internationale Logistik durch Corona durcheinandergekommen ist. Gegenüber, in einer der Werften des italienischen Triest, liegt unübersehbar die „Sailing Yacht A“ des russischen Oligarchen Andrei Melnitschenko im Dock, es wird rund um die Uhr an ihr gearbeitet, man hat es womöglich eilig. Auf der Autobahn sieht man derzeit viele Wagen mit ukrainischen Kennzeichen, noch mehr als sonst. Und hier, direkt am Meer, große Weinberge im Rücken, liegt eine Feriensiedlung der slowenischen Armee. Kleine Häuschen mit Spitzdach, man kann zu Fuß direkt zum Strand laufen; im Sommer machen die Soldat*innen hier Urlaub mit ihren Familien, jetzt ist alles verwaist.
Deutschland, ein Militärbulle?
Kann die Antwort auf die Frage, wie und ob wir bereit sind, Europa zu verteidigen, nicht einzig und allein Europa sein? Kann es denn wirklich das Ziel sein, dass Deutschland „eine der schlagkräftigsten Armeen Europas“ bekommt, wie es der Ex-Zivildienstleistende und Reservemajor Lindner gerade formuliert hat und Deutschland so tatsächlich zu jenem „Militärbullen“ mutiert, den Martin Schulz zu Recht verhindern wollte?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Es fühlte sich eigenartig an, als im slowenischen Radio die Nachricht verlesen wurde, dass Deutschland 100 Milliarden Euro zusätzlich für seine Armee bereitstellen will. Dieses Land, das oft gar nicht begreift, welche Angst es seinen Nachbarn macht, dick und bräsig in der Mitte Europas.
Was also, wenn man diese 100 Milliarden in eine europäische Berufsarmee investieren würde? Und mit ihnen die Milliarden der anderen EU-Staaten, die nun ebenfalls mehr in ihr Militär stecken. Was, wenn junge Menschen aus ganz Europa sich aussuchen könnten, in welchem Land sie untergebracht und ausgebildet werden? Es eine Art Erasmus-Programm für junge Militärs gäbe? Was, wenn man deren Ausbildung derart aufwerten würde, wie es an vielen Polizeiakademien längst geschehen ist? Was, wenn diese europäische Armee, die mit Ressourcen ausgestattet wurde, die eigentlich an anderer Stelle gebraucht würden, auch an diesen Stellen eingesetzt werden könnte? Also im Bereich des Klimaschutzes, der Wiederaufforstung, des Baus von Deichen?
Der Fall des „Eisernen Vorhangs“ im Jahr 1989 hat der EU den Euro gebracht und ihre Integration befördert. Vielleicht müssen wir lernen, auch die Wiedererrichtung des Vorhangs als Chance zu begreifen. Die Gründung einer europäischen Armee war bislang eher ein Thema für Sonntagsreden, etwas, das man in der Zukunft angehen sollte – auch weil es eben nicht so einfach ist. Aber bevor wir uns allesamt von der Gegenwart überrollen lassen, sollten wir versuchen, vernunftgeleitete Lösungen für die Zukunft zu entwickeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind