Gesundheitsschutz nach Corona: „Die Pandemie müssen wir nicht mehr üben“
Der Frankfurter Gesundheitsamtsleiter Peter Tinnemann erklärt, was die Behörden aus der Coronapandemie gelernt haben und wie sie sich für künftige Krisen aufstellen.
taz: Herr Tinnemann, welche Art von Zäsur war die Corona-Pandemie im Leben eines Bevölkerungsmediziners?
Peter Tinnemann: Ganz viele von uns hatten sich schon auf ein solches Szenario vorbereitet. In allen Gesundheitsämtern des Landes lagen Pandemiepläne in der Schublade.
taz: Aber Hand aufs Herz: Die lagen doch in der untersten Schublade ganz hinten, oder?
Tinnemann: Und wahrscheinlich hat sie auch keiner rausgeholt. SARS-CoV-2 war dann doch neu: Ein Virus, das niemand kannte und einschätzen konnte. Und anfangs gab es keine Immunität dagegen in der Bevölkerung. Natürlich haben wir unsere Standardmaßnahmen zur Eindämmung eines Virus, das über die Atemwege übertragen wird: Abstand halten, Quarantäne, Isolation. Doch wir wussten zu Beginn der Pandemie weder, ab wann genau Infizierte ansteckend sind, noch wie lange, noch wie schwerwiegend die Menschen erkranken.
Peter Tinnemann ist Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen und leitet seit Sommer 2021 das Gesundheitsamt Frankfurt am Main mit mehr als 300 Mitarbeiter*innen. Jenseits der Pandemie und der Überwachung von Krankheitsausbrüchen gehören Schuleingangsuntersuchungen, Hygienekontrollen und Präventionsarbeit etwa mit Familienhebammen zum Alltagsgeschäft im Gesundheitsamt.
taz: Das Wort Kontaktpersonennachverfolgung haben wir auch gelernt in der Pandemie.
Tinnemann: Normalerweise ist bei uns im Amt ein Team von drei oder vier Leuten verantwortlich, einen Ausbruch zu bearbeiten – bei Noroviren zum Beispiel. Aber in der Pandemie brauchten wir ganz viele Mitarbeitende, um ganz viele potenzielle Kontakte anzurufen. Das waren dann nicht nur die Kolleginnen aus der Abteilung für Infektiologie, sondern alle im Amt waren eingebunden.
taz: Und als das nicht reichte, kam noch die Bundeswehr dazu. Die Gesundheitsämter galten als heillos überfordert.
Tinnemann: Da waren wir aber auch ein bisschen der Sündenbock für die fehlende Digitalisierung der Behörden, die ja die gesamte Verwaltung in Deutschland betrifft. Wenn wir da schon bessere Tools gehabt hätten, dann hätten wir sicher effizienter arbeiten können. Aber es gibt innerhalb einer Pandemie auch den Punkt, ab dem eine Kontaktnachverfolgung einfach nicht mehr zielführend ist. In der Omikron-Phase hatten wir bis zu 5.000 Meldungen am Tag, und es gab immer noch die Erwartung, wir würden alle Kontakte bearbeiten. Das macht dann doch gar keinen Sinn mehr, da müssen dann Maßnahmen greifen, die vor allem die Risikogruppen schützen oder die versuchen, negative Auswirkung auf die Bevölkerung zu verhindern. Die Frage ist, auch im Nachhinein, wann genau hätten wir in diese anderen Phasen der Pandemiebekämpfung eintreten müssen.
Der Auftrag Die Enquetekommission „Aufarbeitung der Corona-Pandemie und Lehren für zukünftige pandemische Ereignisse“ arbeitet seit September 2025 und soll im Sommer 2027 ihren Abschlussbericht vorlegen. Anders als ein Untersuchungsausschuss ist eine Enquetekommission nicht vordergründig auf die Aufarbeitung von politischen Missständen ausgerichtet, verfügt über weniger Untersuchungsrechte und besteht nicht nur aus Abgeordneten, sondern zur Hälfte aus externen Expert*innen. Das Gremium kann Sachverständige, Interessenvertreter*innen und Betroffene in öffentlichen Sitzungen anhören und Gutachten in Auftrag geben. Auch Bürger*innen sollen „insbesondere durch öffentliche Formate“ zu Wort kommen können.
Aktuelles Thema In der Anhörung am 1. Dezember soll es um Vorsorge, Krisenpläne und Frühwarnsysteme gehen. Als Sachverständiger ist unter anderem Gesundheitsamtsleiter Peter Tinnemann geladen. Zuvor hat sich die Corona-Enquetekommission bereits mit rechtsstaatlichen Prinzipien unter Pandemiebedingungen und dem Umgang mit Corona-Langzeitfolgen wie Long-Covid und Post-Vac beschäftigt.
taz: Für diese und andere Fragen gibt es die Corona-Enquetekommission. Aktuell geht es dort darum, wie wir für die nächste Krise aufgestellt sind, Sie werden als Sachverständiger angehört. Liegen denn jetzt die Pandemiepläne im Gesundheitsamt in der obersten Schublade und werden regelmäßig erprobt?
Tinnemann: Also ich glaube, die Pandemie müssen wir nicht mehr üben, da sind alle in den Gesundheitsämtern für die nächsten 5 bis 10 Jahre fit, was die grundsätzlichen Maßnahmen betrifft. Aber wir haben auch nicht für alles Krisenpläne und es kann immer wieder zu einer Überforderung des Systems kommen. Eine Krise ist letztlich ja immer eine Überforderung des Systems, sonst wäre es keine Krise.
taz: Wofür brauchen wir dann die Aufarbeitung in der Kommission?
Tinnemann: Meine Erwartung an die Kommission ist, dass sie einen Beitrag für ein gesellschaftliches Heilen leistet. Es sind noch immer so viele Menschen von unterschiedlichen Auswirkungen der Pandemie betroffen, deshalb müssen wir darüber sprechen, was damals passiert ist und auch darüber, was wir besser machen können. Ob die Enquetekommission das zu diesem Zeitpunkt gut hinbekommt? Das werden wir erst im Verlauf sehen.
taz: Welche Rolle können Behörden wie die Gesundheitsämter für das gesellschaftliche Heilen spielen?
Tinnemann: Wie Sie schon sagten, wir waren in der Zeit der Pandemie sehr präsent, bei vielen Maßnahmen, die das Leben von Menschen massiv betroffen haben. Sei es, Menschen in Quarantäne oder Isolation zu schicken oder die Verordnungen der Politik umzusetzen, die dazu geführt haben, Menschen nicht in Altenpflegeheime reinzulassen oder Schulen zu schließen. Diese Maßnahmen haben zum Beispiel dazu geführt, dass sich Menschen nicht von sterbenden Angehörigen verabschieden konnten. Das können wir nicht entschuldigen, aber wir müssen es noch einmal thematisieren, auf menschlicher Ebene darüber reden. Als Leiter eines Gesundheitsamtes versuche ich zu erklären, warum die Gesundheitsämter so gehandelt haben und was wir daraus lernen sollten. Und als Mensch versuche ich, diese Erklärungen menschlich zu transportieren. Das ist meine Beteiligung in dem jetzigen Prozess. Außerdem werde ich Rede und Antwort stehen für die Frage, ob wir es inzwischen geschafft haben, die Gesundheitsämter so auszustatten, dass sie in der Zukunft effizienter arbeiten können.
taz: Und wie ist Ihre Antwort?
Tinnemann: Was die Digitalisierung angeht, haben wir uns hier in Frankfurt neu erfunden, wir haben mit GA-Lotse ein Open-Source-Tool entwickeln lassen, das alle Ansprüche an eine moderne Software für Gesundheitsämter erfüllt. Auch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik hat uns bereits dafür ausgezeichnet.
taz: Das ist ja jetzt schön für Frankfurt, aber Sie sind eines von fast 400 Gesundheitsämtern in Deutschland. War es nicht eines der Probleme in der Pandemie, dass überall andere Software verwendet wird?
Tinnemann: Das ist leider immer noch so, aber wir haben mit dem Open-Source-Tool ja einen Gamechanger ins Spiel gebracht. Der Code ist bereits seit einem Jahr offen zugänglich auf opencode.de, auch die Weiterentwicklungen veröffentlichen wir regelmäßig. Eigentlich kann GA-Lotse von jedem Gesundheitsamt eingesetzt werden. Sie nehmen diesen Code kostenfrei und betreiben das System selbst.
taz: Aber faktisch entscheiden die Gesundheitsämter relativ autonom, wie sie arbeiten. Für eine Vereinheitlichung ist das schwierig und für die Koordinierung in Krisen auch.
Tinnemann: Aus meiner Sicht ist eine Balance zwischen Autonomie und zentraler Steuerung wichtig. In einer föderalen Republik ist das eine große Herausforderung. Aber da gibt es inzwischen Beispiele für moderne, dezentralisierte Führungsstrukturen. Wenn Sie mal an moderne Organisationen denken: Da sitzen nicht mehr die Vorstände um einen Tisch und entscheiden alles. Da wird die Richtung von oben bestimmt und die Ausgestaltung passiert in den kleinen Einheiten vor Ort. Manchmal brauchen wir die Frankfurter Mundart, die lokale Ansprache vor Ort – aber wir brauchen übergeordnet auch eine gemeinsame Richtung, in die wir gehen. Aktuell spiegelt sich das noch nicht wider in der Art und Weise, wie Behörden und Krisenmanagement funktionieren.
taz: In der Pandemie ist auch die Bundeswehr mit Personal eingesprungen. Können wir darauf weiter bauen in Krisensituationen?
Tinnemann: Ich höre aus Richtung der Bundeswehr, dass die vor dem Hintergrund der geopolitischen Sicherheitslage eher erwarten, dass die Gesundheitsämter in Zukunft der Bundeswehr helfen. Das ist ein Paradigmenwechsel, auf den wir uns vorbereiten müssen. Bei der Pandemie haben Soldaten bei uns mitgearbeitet. Das nächste Mal könnte es andersherum sein. Ich habe mich bereits auch mit Kollegen aus anderen Ländern ausgetauscht, wie die in Krisen zivile Führungsstruktur koordinieren. Das sind wir in den Gesundheitsämtern in Deutschland noch nicht gewohnt.
taz: Sie arbeiten in einem der größten Gesundheitsämter Deutschlands. Sind die Ausstattung und die Möglichkeiten nicht ganz unterschiedlich?
Tinnemann: Das Gefälle ist tatsächlich groß. Es gibt Gesundheitsämter mit 15 Mitarbeitern und welche mit über 300. Und deshalb können und müssen nicht alle Gesundheitsämter alles können – das ist ein falsches Bild, was wir in den letzten Jahren gehabt haben. Es gibt schon jetzt sogenannte Kompetenzzentren – hier in Frankfurt zum Beispiel das Kompetenzzentrum für hochpathogene Infektionserreger wie das Ebola-Virus. Wir müssen aber noch besser abstimmen, welche Strukturen für welche Arten von Krise wir in welchem Radius vorhalten müssen.
taz: Die Pandemie rutscht trotz aller Spätfolgen aus dem Gedächtnis, es gibt auch eine Art Abwehr, sich damit zu beschäftigen. Wie lässt sich der Druck, für Krisen vorbereitet sein zu müssen, trotzdem aufrechterhalten?
Tinnemann: In Frankfurt führen wir alle zwei Jahre Krankenhausübungen durch, das macht auch allen Spaß, die Abläufe zu trainieren und für den Notfall vorbereitet zu sein. Aber eben nur alle zwei Jahre. In Israel trainieren Krankenhäuser viermal im Jahr, und zwar unangekündigt und im Live-Betrieb. Das ist eine ganz andere Intensität.
taz: Da ist eine mögliche Krise auch viel gegenwärtiger.
Tinnemann: Ja, aber wollen wir warten, bis die Krise näher an uns herankommt? Wir müssen uns regelmäßig damit beschäftigen, wie wir unsere Einsatzbereitschaft in allen möglichen, auch trivialen Situationen aufrechterhalten: Wenn der Strom weg ist oder bei Blitzeis. Wir kommen nicht umhin, mehr für den Ernstfall zu üben.
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