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Die Natur hat RechteWenn das Wattenmeer uns verklagt

Einzelne Ökosysteme sind in Ecuador, Neuseeland und Spanien als juristische Person anerkannt. Für Deutschland liegen Optionen auf dem Tisch.

Sandstrand an der spanischen Küste Foto: Robert Sentef/euroluftbild/picture alliance

Weltweit jubelten Kli­ma­ak­ti­vis­t:in­nen nach dieser revolutionären Entscheidung: Im September 2022 wurde das Mar Menor, eine Salzwasserlagune an der Ostküste Spaniens, als erstes Ökosystem Europas zur Rechtsperson erklärt. Wie andere juristische Personen auch hat die Lagune nun direkten Zugang zur staatlichen Gerichtsbarkeit. Der Erfolg in Spanien zeigt, dass es höchste Zeit wird, dass wir uns auch in Deutschland mit dem Gedanken auseinandersetzen. Ist es wirklich eine Option für uns, der Natur Rechte zu übertragen?

Ursprünglich kommt der Gedanke aus den USA. Dort setzte sich der Rechtsexperte Christopher Stone 1972 mit dem Walt-Disney Konzern auseinander. Das Unternehmen wollte ein neues Schneeresort in den Bergen Kaliforniens errichten. Stone fehlte vor Gericht vor allem die Perspektive der unmittelbar betroffenen Partei, also der Natur selbst. Deshalb schlug er vor, das Tal, in dem das Schneeresort gebaut werden sollte, zur Rechtsperson zu erklären. Nur so könne die Natur ihre Interessen vor Gericht einklagen.

Fast vierzig Jahre später, im Jahr 2008, wurden in Ecuador die Rechte der Natur in die Verfassung aufgenommen. Ein weltweites Novum. Möglich machte den Schritt die Zusammenarbeit von Po­li­ti­ke­r:in­nen und indigenen Aktivist:innen. Die ecuadorianische Verfassungsreform wandte sich damals gegen ein kapitalistisches Wachstumsverständnis, also gegen die Idee grenzenlosen Wachstums. Teil der Reform war es, jedem ecuadorianischen Staatsbürger zu erlauben, die Interessen der Natur einzuklagen.

Leider blieb die Möglichkeit zunächst weitgehend ungenutzt. Es gelang den ecuadorianischen Gerichten kaum, die Rechte der Natur gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung zu verteidigen. So wurden etwa die Bergbau-Aktivitäten des Condor Mirador-Projektes genehmigt, obwohl das Projekt erhebliche Schäden für lokale Ökosysteme und einheimische Tierarten bedeutete. Seit einigen Jahren häufen sich allerdings Gerichtsprozesse, in denen die Natur das Gerichtsverfahren gewinnt.

Matthias Kramm

Der politische Philosoph erforscht die Rechte der Natur an der Universidad Nacional Autónoma de México und in den Niederlanden an der Universität Wageningen. Er be­fasst sich mit der Fra­ge, inwiefern westliche Rechts­konzepte mit indigenen Philosophien vereinbar sind.

Derzeit läuft eine Crowdfunding-Kampagne für das Buch „Rechte für Flüsse, Berge und Wälder“. Das Buch versammelt die Beiträge von acht Ex­per­t:in­nen zum Thema. Matthias Kramm ist der Herausgeber.

Wie sieht es in Deutschland aus

In den 2010er-Jahren erklärte Neuseeland einen Nationalpark, einen Fluss und einen Berg zu Rechtspersonen. Auch dieses Mal waren indigene Gemeinschaften in den politischen Prozessen federführend. Nach jahrzehntelangem Kampf gelang es Māori-Aktivist:innen, ihr eigenes Verständnis der Natur als Lebewesen und Vorfahre in geltendes Gesetz umzuwandeln. So steht nun im Gesetzestext, dass der Whanganui Fluss „ein unteilbares und lebendiges Ganzes“ bildet.

Die Entscheidung löste eine Flut an ähnlichen Gerichtsverfahren und Gesetzesinitiativen überall auf der Welt aus. In Kolumbien bekam der Atrato Rechte, in Indien der Ganges und der Yamuna und in Kanada der Magpie.

Doch wie sieht es mit der Umsetzung in Deutschland aus? Könnte Deutschland das Wattenmeer oder den Hambacher Forst zur Rechtsperson erklären, sodass Meer und Wald vor Gericht ziehen können?

Umweltschutz soll zum obersten Staatsprinzip erhoben werden, empfiehlt der Rechtsexperte Jens Kersten

Für viele mag das zunächst abwegig klingen. Dabei lässt unser Gesetz schon längst nicht-menschliche Rechtspersonen zu. Wirtschaftsunternehmen und Stiftungen können vor Gericht ziehen. Sie werden dabei als Rechtspersonen anerkannt, das heißt, dass sie rechtlich eigenständig gegenüber ihren Besitzern und Shareholdern sind und dass sich eine Klage gegen das Unternehmen nicht auf die Eigentümer oder Anteilseigner erstreckt. Allein schon, damit die Natur mit Wirtschaftsunternehmen „auf Augenhöhe“ verhandeln kann, scheint es vernünftig, sie vor dem Gericht zu ermächtigen.

Wie die Eigenrechte der Natur in Deutschland konkret aussehen könnten, hat Jens Kersten, Rechtsexperte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, erörtert. Er empfiehlt eine umfassende ökologische Grundgesetzreform, Umweltschutz soll zum obersten Staatsprinzip erhoben werden. So stünde Umweltschutz im Grundgesetz auf gleicher Höhe wie etwa das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip.

Mehr als ein Gedankenspiel

Ein weiterer Teil dieser Reform wäre es, der Natur Rechte zu verleihen, sodass sie ihre Interessen vor Gericht einklagen kann. Kersten schlägt zudem vor, dass die ökologische Transformation des Grundgesetzes durch ein eigenes Bundesministerium für Natur unterstützt wird. Außerdem soll der Bundestag ei­ne:n ge­wähl­te:n Na­tur­be­auf­trag­te:n stellen.

Der Vorschlag ist mehr als nur ein interessantes Gedankenspiel. Eine Grundgesetzreform würde die Natur als Ganzes schützen, wie in Ecuador, und nicht nur einzelne Ökosysteme, wie in Neuseeland. Sie könnte in einem einzigen Vorgang gesetzlich verabschiedet werden.

Es gäbe aber auch Hindernisse. Etwa erfordern Grundgesetzreformen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Und das Thema bleibt abstrakt: Bür­ge­r:in­nen identifizieren sich mit einzelnen Flüssen, Bergen und Wäldern, aber nicht unbedingt mit dem Begriff der Natur als Ganzes.

Einen vergleichbaren Vorschlag gibt es bereits auf Landesebene. Die bayerische Initiative „Rechte der Natur – Das Volksbegehren!“ möchte genügend Unterschriften sammeln, um durch einen Volksentscheid die Rechte der Natur in der bayerischen Verfassung zu verankern. Anders als bei einer Grundgesetzreform ist bei einem Volksbegehren die Bevölkerung selbst der Initiator.

Die Alternative dazu ist, einzelne Ökosysteme zu Rechtspersonen zu erklären. Der Whanganui-Fluss in Neuseeland oder die Lagune Mar Menor in Spanien sind Beispiele hierfür. Die Gerichte könnten den im Grundgesetz verankerten Begriff der Rechtsperson breiter auslegen, sodass auch Ökosysteme als Rechtspersönlichkeiten in Frage kämen.

Dieses Modell hätte zahlreiche Vorteile. Ökosysteme wie der Hambacher Forst und das Wattenmeer unterscheiden sich voneinander – Die Gesundheit eines Waldes bemisst sich anders als die Gesundheit eines Küstenstreifens. Wenn einzelne Ökosysteme geschützt werden, könnte die Gesetzgebung auf das entsprechende Ökosystem angepasst werden.

Außerdem bekämen die Ökosysteme permanente gesetzliche Repräsentant:innen. Für das Wattenmeer könnte ein Komitee aus Umweltorganisationen und An­woh­ne­r:in­nen die Repräsentation übernehmen. So würden sich mehr Bür­ge­r:in­nen mit dem Wattenmeer identifizieren. Wer möchte schon eine bis zur Unkenntlichkeit verschmutzte Küste?

Auch wäre es nicht mehr nötig, Gerichtsprozesse mühsam jedes Mal aufs Neue zu initiieren. Tatsächlich hätten Wirtschaftsunternehmen einen starken Anreiz mit den Re­prä­sen­tan­t:in­nen in Kontakt zu treten, bevor sie an die Projektplanung gehen, da sie ansonsten Gerichtsprozesse befürchten müssten. So könnten die Re­prä­sen­tan­t:in­nen entscheidenden Einfluss auf die Umweltverträglichkeit eines Projektes nehmen.

Die Rechte der Natur etablieren sich in Europa als Option für effektiven Naturschutz. Kerstens Grundgesetzreform, das bayrische Volksbegehren, oder die Idee, einzelnen Ökosystemen Rechtspersönlichkeiten zu geben, sind konkrete Vorschläge, wie das Konzept eingeführt werden könnte. Die Rechte der Natur können den Planeten nicht im Alleingang retten. Aber sie machen die Umwelt juristisch wehrhafter. Es wird höchste Zeit, dass sich Deutschland mit dem Thema auseinandersetzt!

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14 Kommentare

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  • Was ich mich bei dieser Geschichte spontan frage: wie ermächtigt ein sich selbst nicht bewusstes Naturgebiet einen Vertreter, der es vor Gericht vertritt? Das scheint mir nicht sehr plausibel.

  • 4G
    48798 (Profil gelöscht)

    Vermutlich würde es im Falle von Deutschland keinen sehr großen Unterschied machen, ob die Natur eine eigenständige Rechtsperson ist.



    Die deutschen Regierungen neigen ja leider zum Rechtsbruch, besonders im Hinblick auf den Natur- und Umweltschutz.



    Es sind seit Jahren diverse Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland anhängig. So wurde die beschlossene Düngerichtlinie in Deutschland konsequent jahrelang ignoriert, genauso die Wasserrahmenrichtlinie und die Verordnungen zur Ausweisung und Unterhalt von Naturschutzgebieten.



    Selbst das Urteil des BVG zum Klimaschutz wird von der Ampel im Allgemeinen, und den Grünen im Besonderen, ja praktisch ignoriert.



    Wozu dann noch ein Gesetz, das gebrochen werden kann?

  • "Natur", was auch immer als solche bezeichnet wird, kann niemanden verklagen. Das weiß doch jede/r. Es schwingen sich also Leute auf und meinen zu wissen, was die "Natur" möchte. Warum denn so kompliziert? Der bessere Ansatz ist doch, dass wir verantwortlich mit unserer Umwelt umgehen, in dem wir Für und Wider eines Projektes auch auf Auswirkungen auf die Natur abwägen.

    • Matthias Kramm , des Artikels,
      @resto:

      Es stimmt schon, dass es eine Herausforderung bleibt, zu bestimmen, "wer" die Natur oder ein Ökosystem letztendlich repräsentiert. Der Vorteil von Eigenrechten der Natur ist allerdings, dass die Repräsentant:innen nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern auch die Interessen der Natur selbst vertreten könnten. Also auch in dem Fall, in dem von dem Schaden an einem Ökosystem kein einziger Mensch betroffen wäre, würden Eigenrechte der Natur Klagen erlauben.

      • @Matthias Kramm:

        "...auch in dem Fall, in dem von dem Schaden an einem Ökosystem kein einziger Mensch betroffen wäre, würden Eigenrechte der Natur Klagen erlauben."



        Ja, aber wer klagt da? Und mit welchem Recht? Selbsternannte Ankläger ohne tatsächliches Mandat halte ich juristisch für zweifelhaft. Mit welchem Konzept würde man dann einer Gegenklage begegnen, die ebenfalls behauptet, für dieses Rechtssubjekt zu sprechen?

        • Matthias Kramm , des Artikels,
          @Encantado:

          Völlig d'accord! Selbsternannte Ankläger sind problematisch. Da bräuchte es zunächst eine gesellschaftliche Diskussion, wer repräsentieren darf, z.B. NGOs, Bürger:innen, Expert:innen. Anschließend müsste gesetzlich geregelt werden, wer das Mandat (z.B. für ein bestimmtes Ökosystem) bekommt.

          • @Matthias Kramm:

            "...müsste gesetzlich geregelt werden, wer das Mandat (z.B. für ein bestimmtes Ökosystem) bekommt."



            Also sowas wie eine Vormundschaft?



            Wie verträgt sich das mit evtl. eingetragenen Eigentums- oder Nutzungsrechten?



            Ich fürchte, die angemahnte gesellschaftliche Diskussion würde sich im Klein-klein verlieren, aber ich lasse mich gerne belehren.

  • Für mich hat es etwas animistisches, wenn ein Berg oder ein Fluss wie eine Person behandelt wird, obwohl beide weder ein Bewusstsein noch Interessen besitzen. Dem Fluss an sich ist es ja völlig egal, ob man ihn vergiftet, begradigt oder austrocknet. Allenfalls die empfindungsfähigen Tiere, die in dem Fluss leben, haben damit ein Problem.

    • Matthias Kramm , des Artikels,
      @Daniel Hartmann:

      Was die Natur oder einzelne Ökosysteme angeht, würde ich gewissermaßen einen pragmatischen Standpunkt verteidigen. Es geht nicht primär darum, in die Natur oder Ökosysteme Bewusstein oder Interessen reinzulesen (auch wenn ich letzteres teilweise für plausibel halte), sondern eher darum, ein Rechtskonstrukt auf die Natur anzuwenden, das ihr Zugang zur Gerichtsbarkeit erlaubt. Eine Rechtsperson wäre dann lediglich ein Zuordnungssubjekt von Rechten und Pflichten.

    • @Daniel Hartmann:

      Einem Unternehmen als juristischer Person fehlt das Bewußtsein meines Empfindens nach auch. Interesse an seinem Wohlergehen haben aber nicht nur besagtes Unternehmen, auch der Berg und Fluß dürfte sich eher nicht trockenlegen oder abbaggern.

      • @festus:

        Berge oder Flüsse haben meiner Ansicht nach keine Interessen. Ich wüsste auch nicht, was "Interesse" unabhängig von Bewusstsein überhaupt bedeuten soll.



        Ein Unternehmen ist ein soziales Konstrukt und hat insofern natürlich auch keine echten Interessen, aber hinter dem Unternehmen stehen ja die Interessen von Menschen. Wenn wir sagen, dass ein Unternehmen an Profit interessiert ist, dann meinen wir damit eigentlich, dass der Eigentümer oder die Aktionäre des Unternehmens an Profit interessiert sind.

      • @festus:

        Das Unternehmen als juristische Person gehört aber jemandem. Die "Natur" jedoch nicht. Die Frage stellt sich deshalb, wer welche Interessen der "Natur" vertreten darf.

        • @resto:

          "Das Unternehmen als juristische Person gehört aber jemandem. Die "Natur" jedoch nicht."



          Na ja, grundsätzlich ist beispielsweise das Wattenmeer deutsches Staatsgebiet, gehört demnach Deutschland. Wenn nun jemand hingeht und Deutschland im Namen des Wattenmeers verklagt, wird die Schwäche dieser Konstruktion recht schnell offensichtlich.

      • @festus:

        Unternehmen sind auch nur als Ansammlung von Besitz juristisch aktionsfähig.



        Praktisch stellvertretend für ihre Eigentümer.



        Und selbst das ist noch eher ein Konstruktionsfehler als ein positiver Ansatz, denn juristische Personen sind nun mal nur Stellvertreter.



        Betroffen sind immer Menschen.



        Und nur Menschen sind schutzwürdig.



        Alles andere zeugt nur neue Spielwiesen für Juristen, die sich zum Herrn über die Dinge aufspielen. Letztlich eignen sich Menschen so Macht über andere Menschen an.