Die Medien nach Ohnesorg: Manipulation und Wahrheit
Nach dem 2. Juni 1967 sahen West-Berliner Zeitungen Demonstranten als „rote SA“. Die Studenten forderten Gegenöffentlichkeit. Ein Rückblick.
In der West-Berliner Ausgabe der Bild-Zeitung vom 3. Juni 1967 hieß es über den von einem Kripobeamten erschossenen Studenten Benno Ohnesorg; „Er wurde Opfer von Krawallen, die politische Halbstarke inszenierten.“
Den Demonstranten warf der Kommentator des Boulevardblatts vor: „Ihnen genügte der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen.“ Bild meinte: „Wir haben etwas gegen SA-Methoden. Die Deutschen wollen keine braune und keine Rote SA. Sie wollen keine Schlägerkolonnen.“
Die Tageszeitungen des Verlegers Axel Cäsar Springer beherrschten vor fünfzig Jahren rund 70 Prozent des West-Berliner Zeitungsmarktes. Noch heftiger als die Bild langte der Kommentator der B.Z. zu, mit mehr als einer halben Million Auflage die größte Tageszeitung in der Mauerstadt.
Er sprach unter dem Titel „Das ist Terror“ gleich für alle Bewohner der Halbstadt. „Die Berliner haben keinen Sinn und kein Verständnis dafür, daß ihre Stadt zur Zirkusarena unreifer Ignoranten gemacht wird, die auf ihre Gegner mit Farbbeuteln und faulen Eiern werfen.“ Den „Anständigen“, so die B.Z., die Berlin aufgebaut hätten, „gehört die Stadt. Ihnen ganz allein!“ Der Schlusssatz des Kommentars: „Wer Terror produziert, muß Härte in Kauf nehmen.“
2. Juni 1967: Ein Schuss tötet den Demonstranten Benno Ohnesorg. Dieses Datum markiert den Beginn einer bis heute geführten Debatte über Gegenöffentlichkeit, über die Medien, über Wahrheit und Lüge, oder, wie man heute formulieren würde, über Fake News und alternative Fakten, über Verschwörungstheorien, bürgerliche Zeitungen und alternative (auch rechte) Blätter, über die „Wahrheit“ und die Deutungshoheit gesellschaftlicher Entwicklungen. Nachdenken über 50 Jahre Gegenöffentlichkeit: taz.gegen den stromDie Sonderausgabe taz.gegen den strom – jetzt im taz Shop und auf www.taz.de/gegenoeffentlichkeit
Nicht nur bei der Kommentierung, auch bei den Berichten über die Ereignisse, die der Erschießung Benno Ohnesorgs vorangingen, waren die Springer-Journalisten einseitig. Über den Kommunarden Fritz Teufel berichtete die Welt am Sonntag: „Teufel betätigte sich als Anführer einer Gruppe, die Steine auf Polizeibeamte warf, wobei zwei Beamte verletzt wurden.“
Die Kindergärtnerin Antje Krüger, Mitglied der Kommune 1 und später der Kommune 2, hatte vollkommen andere Erinnerungen. Nach einem bislang unveröffentlichten Vernehmungsprotokoll sagte sie im August 1967 gegenüber einem Oberstaatsanwalt: „Ein Polizist trat hinter Fritz Teufel und zerrte ihn an den Haaren empor, ohne ihn vorher zum Aufstehen aufgefordert zu haben. Mindestens zwei weitere traten ihn mit dem Knie in den Rücken. Später wurde er auch mit Füßen in die Seite getreten. Dann bückten sich die Polizeibeamten und schlugen mit Gummiknüppeln auf Beine und Arme des Fritz Teufel ein. Ein anderer Demonstrant, der Fritz unterstützen wollte, erhielt selbst von den Polizeibeamten Schläge auf die Schultern.“
Stimmen wie die Antje Krügers wurden von den Journalisten nicht gehört. Sie hetzten gegen die Demonstranten, als wollten sie es nachträglich wiedergutmachen, dass sie nicht selbst vor der Oper mit Hand angelegt hatten.
Jahrgang 1955, war Gründungsmitglied der taz und von 1992 bis 1994 Teil der Chefredaktion. Danach ging er zum Spiegel, wo er sich unter anderem mit Wikileaks beschäftigt hat.
Auch der angeblich liberale Tagesspiegel geiferte über die „Randaliersucht gewisser linksextremer deutscher Studentengruppen“. Jeglicher Ärger über mögliche Fehler der Polizei müsse „verblassen vor der Abscheu gegen diejenigen, denen auch jeder andere Anlaß recht gewesen wäre, um hier die Atmosphäre einer Straßenschlacht zu entfachen.“
Das Ende der Geduld
Anfang Juni 1967 standen die Studenten mit dem Rücken zur Wand. Nicht nur die West-Berliner Journalisten, auch die Politiker schlugen auf sie ein.
„Die Geduld der Stadt ist am Ende“, erklärte der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD) nach dem Tod Ohnesorgs. „Einige Dutzend Demonstranten, unter ihnen auch Studenten, haben sich das traurige Verdienst erworben, nicht nur einen Gast der Bundesrepublik Deutschland beschimpft und beleidigt zu haben, sondern auf ihr Konto gehen auch ein Toter und zahlreiche Verletzte.“
Der Politologe Tilman Fichter, 79, war damals aktivistisches Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS). „Nach dem 2. Juni schwoll bei uns Studenten die Erregung über die Springer-Presse an“, erinnert er sich. „Die Springer-Journalisten haben mehr getan als nur parteilich gegen uns berichtet. Sie haben immer wieder die Polizisten, die West-Berliner Bürger und die Senatsangestellten aufgefordert, gegen uns aktiv zu werden.“
Für die Hysterie und Feindseligkeit, mit denen die meisten West-Berliner auf die Studenten reagierten, hat Fichter heute folgende Erklärung: „Die Kalte-Kriegs-Gesellschaft fühlte sich von außen durch die Kommunisten bedroht. Die Studenten waren der innere Feind. Die müssen wir zuerst erledigen, dachten die Kalten Krieger. Die Journalisten haben den inneren Feind bekämpft.“
Die Untersützter
Auf Verständnis und Fairness konnten die Studenten nur bei der Frankfurter Rundschau und den drei großen liberalen Wochenzeitungen aus Hamburg hoffen: Stern, Spiegel, Zeit.
Sebastian Haffner stellte sich in seiner Kolumne im Stern sogar auf die Seite der Studenten: „Was sich in der Berliner Blutnacht des 2. Juni ereignet hat“, schrieb Haffner, „war nicht die Auflösung einer Demonstration mit vielleicht etwas zu rauhen Mitteln. Es war ein systematischer, kaltblütig geplanter Pogrom, begangen von der Berliner Polizei an Berliner Studenten.“
Seit Februar 1967 erschien in West-Berlin das linke Extra-Blatt (aus dem der Extra-Dienst und aus diesem 1979 als taz-Konkurrent Die Neue hervorgehen sollte). Doch Rudi Dutschke und den im SDS tonangebenden Genossen stand das Blatt der DDR zu nahe; sie vermuteten zu Recht, dass es wesentlich von den ostdeutschen Kommunisten finanziert wurde.
Zusätzlich war die Redaktion, wie sich nach dem Ende der DDR herausstellte, von Stasispitzeln durchsetzt. „Mit Gegenöffentlichkeit haben wir zunächst nur Flugblätter gemeint“, sagt Tilman Fichter.
Unbeholfene Studenten und entlarvende Wissenschaft
„Einflußreiche Leute in dieser Stadt verhindern, daß die Bevölkerung die Wahrheit erfährt“, hieß es in einem Flugblatt der Evangelischen Studentengemeinde. „Die Berliner Zeitungen haben es dazu gebracht, daß niemand den Studenten glaubt, daß die Bevölkerung sie haßt und sich freut, wenn sie geprügelt und durch Disziplinarmaßnahmen eingeschüchtert werden.“
Die Allgemeinen Studentenausschüsse (ASten) von Technischer und Freier Universität machten einen unbeholfenen Versuch, die West-Berliner zu besänftigen. „Wir wissen, dass wir Ihnen gegenüber ein Privileg haben, weil wir studieren dürfen“, hieß es in einem Flugblatt. „Wir wissen auch, daß wir Ihnen gegenüber Verpflichtungen haben.“
Die Studenten lagen richtig mit ihrem Eindruck, dass besonders die Springer-Presse gegen sie Meinung machte. Im Jahr nach dem Tod Ohnesorgs untermauerte die konservative Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann die Kritik an der Springer-Presse wissenschaftlich. Die Direktorin des Mainzer Instituts für Publizistik ließ eine Studie mit dem Titel erstellen: „Die Studentendemonstrationen beim Schahbesuch in Berlin in der deutschen Tagespresse“.
Bei der Untersuchung der Artikel vom 3. bis 10. Juni 1967 attestierte Noelle-Neumann 83 Prozent der Springerblätter eine „polemisierende Berichterstattung“, die sich nur bei 6 Prozent aller Zeitungen aus anderen Verlagen ausmachen ließ. Zudem enthielten 67 Prozent der Kommentare in den Springerzeitungen „Kritik an Demonstranten“, aber nur 35 Prozent aller anderen Zeitungen. Dementsprechend waren nur 11 Prozent der Springer-Kommentatoren gegenüber der Polizei kritisch, aber 33 Prozent der anderen Blätter.
„Enteignet Springer“
Schon kurz vor dem Tod Ohnesorgs, in der Ausgabe des Extra-Blatts vom 13. Mai 1967, hatten Studenten die Forderung „Enteignet Springer!“ erhoben. „Die West-Berliner Teile des Springer-Konzerns müssen im Lebensinteresse unserer Stadt enteignet und einer gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen werden.“ In den Versammlungen der Studenten nach dem 2. Juni 1967 gewann die Parole „Enteignet Springer“ rasch an Popularität.
Der SDS-Bundesvorstand erklärte: „Ein großer Teil der Studentenbewegung hat die Durchbrechung der Demokratie durch die Konzentration und Gleichschaltung der Presse in privater Hand erkannt und die Forderung erhoben, den SPRINGERkonzern zu enteignen und zu demokratisieren.“
Ein zentraler Begriff der studentischen Kritik der Springer-Presse war der der „Manipulation“: Den Arbeitern werde Tag für Tag ein „falsches Bewusstsein“ eingeträufelt, das sie davon abhalte, für ihre wahren Interessen einzutreten. Die Kritik an Springers Meinungsmacht war allerdings nichts Neues. Der liberalkonservative Zeit- und Stern-Verleger Gerd Bucerius hatte bereits im Februar 1961 an Springers Generalbevollmächtigten geschrieben: „Es ist meine Überzeugung als Verleger und Politiker, daß die publizistische Macht des Hauses Springers an die äußerste Grenze dessen gekommen ist, was ein Staat hinnehmen kann.“
Spiegel-Gründer Rudolf Augstein, der sich im März 1966 mit Horst Mahler und anderen West-Berlinern getroffen hatte, um Springers Vormachtstellung anzugreifen, schrieb im Oktober 1966: „Springers Konzern wächst, nicht gerade wie eine Lawine, aber wie ein gefräßiger Tumor.“ Augstein finanzierte in West-Berlin ein Zeitungsprojekt namens Heute, das er aber mangels journalistischer Qualität wieder stoppte, kurze Zeit auch das Extra-Blatt.
Der 2. Juni 1967 und die Folgen
Im Mai 1967 berief die Bundesregierung auf Drängen des Bundestags eine Kommission ein, die die möglichen „Folgen der Konzentration für die Meinungsfreiheit“ untersuchen sollte. Ein CDU-Mann in der Kommission forderte, der Anteil eines Verlegers an der Gesamtauflage müsse per Gesetz auf 30 Prozent begrenzt werden.
Der Springer-Verlag kontrollierte bundesweit rund 26 Prozent der Tages- und 29 Prozent der Wochenzeitungsauflage. Die Bundesregierung unter dem Ex-NSDAP-Mitglied Kurt-Georg Kiesinger (CDU) schreckte davor zurück, sich mit dem reizbaren Pressemogul anzulegen.
Nicht so die Studenten. Im Rahmen der selbstinitiierten Kritischen Universität riefen sie ein „Springertribunal“ ins Leben. In ihm arbeiteten, so der Abschlussbericht, neben Studenten auch „Journalisten, Ingenieure, Schüler, Kindergärtnerinnen, Apotheker, Teehausbesitzer, Lehrer und Schauspieler“ mit.
Zur Vorbereitung der „Anti-Springer-Kampagne“ gründeten die Studenten ein Institut für Gegenöffentlichkeit, intern „Göfi“ genannt. „Die zentralen Figuren“, so erinnerte sich SDS-Aktivist Christian Semler später, „waren Bernhard Blanke und Hans-Jörg Hameister; Peter Schneider war eher ein Satellit.“
In der Broschüre „Der Untergang der Bild-Zeitung“ hieß es: „Dieses Institut sollte langfristig von den bürgerlichen Koalitionspartnern finanziert werden und einer großen Anzahl von Genossen die Möglichkeit geben, sich auf nicht entfremdete Weise zu reproduzieren.“
Aus der Alimentierung durch die liberale Bourgeoisie wurde nichts; ihr Geld und ihre Unterstützung blieben aus; Intellektuelle wie Alexander Mitscherlich und Jürgen Habermas wollten nicht an einem Tribunal teilnehmen.
Eine Absage kam auch von Spiegel-Verleger Rudolf Augstein, der zunächst 50.000 Mark für die Anti-Springer-Kampagne gespendet hatte. Das Hearing am 2. Februar 1968 war ein Reinfall, die Initiatoren brachen es ab.
Mitorganisator Bernhard Blanke zog vor ein paar Jahren dennoch ein positives Resümee: „Die Anti-Springer-Kampagne hat gewirkt“, meinte der 2014 verstorbene Politik-Professor. „Die Bild verlor langsam an Auflage und veränderte sich, sie hetzte nicht mehr so bösartig wie noch 1967.“
Springer will Entschuldigung
Es dauerte bis zum Februar 1969 – die Studentenbewegung zerfiel bereits in diverse Fraktionen –, bis Antiautoritäre in West-Berlin ein Organ der Gegenöffentlichkeit schufen, die Wochenzeitung Agit 883. Auf sie folgten 1972 die Hundert Blumen, mit dem heutigen taz-Aushilfshausmeister Helmut Höge als Spiritus rector. 1973 und 1974 wurden Der lange Marsch und das INFO BUG gegründet, eher Szene-Postillen als einflussreiche Medien einer Gegenöffentlichkeit.
Als im Sommer 2009 bekannt wurde, dass Karl-Heinz Kurras, Ohnesorgs Mörder, nicht nur West-Berliner Kriminalbeamter, sondern auch Ost-Berliner Stasi-Spitzel war, sah Matthias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Axel Springer Verlages, eine historische Chance gekommen.
Es sei nun an der Zeit, erklärte Döpfner, „dass sich die uneinsichtigen Protagonisten der 68er-Bewegung bei unserem Haus entschuldigen“.
Döpfner – als die West-Berliner Studenten ihre Anti-Springer-Kampagne starteten, im Kindergartenalter – glaubte, „dem Axel Springer Verlag ist Unrecht widerfahren in dieser Auseinandersetzung, die bis heute negativ auf unser Haus wirkt“. Seit damals werde der Springer-Verlag als „Hort des Reaktionären“ begriffen und als „zentral gelenktes Meinungsmonstrum“ gesehen.
Die Bewegung hat nicht vergessen
Als „dummdreist“, kritisiert Bernhard Blanke, einst Organisator der Kampagne, Döpfners Forderung. Er lehnte eine Entschuldigung rundweg ab.
„Absurd“ fand auch der Schriftsteller Peter Schneider die Forderung. Es habe sich bei der Kampagne um „Notwehr“ gehandelt, „angesichts der ständigen Aufrufe der Springerblätter, gegen uns Studenten Selbstjustiz zu üben“.
In der Bild vom 7. Februar 1968 hieß es in der Tat zum angemessenen Umgang mit den protestierenden Studenten: „Man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen.“ Kurz darauf, Ostern 1968, schoss der Bild-Zeitungs-Leser Josef Bachmann auf Rudi Dutschke, den Kopf der Studentenbewegung, und verletzte ihn lebensgefährlich.
„Die Springer-Zeitungen haben damals zum Pogrom gegen uns Studenten aufgerufen“, resümiert Tilman Fichter. „Darüber kommen die Springer-Leute noch immer nicht weg. Diese Hetze damals, die hängt den Springer-Zeitungen nach. Bis heute. Seit 50 Jahren.“
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