: Die Lebensader
Unterwegs auf einem turbulenten Linienboot im brasilianischen Amazonasgebiet – Richtung Belém, wo bald die COP30, die Weltklimakonferenz beginnt
Zwischen Manaus und Santarém Christine Wollowski
Die Hängematten baumeln dicht an dicht. Reisetaschen, gefüllte Kartons und andere Besitztümer stapeln sich auf dem Boden dazwischen. Der Schiffsmotor brummt und dröhnt, von beiden Seiten bläst der Wind in den offenen Schlafsaal. Für ein paar Stunden oder Tage entsteht auf der „Estrela“ eine eigene Welt. Das Ufer und das normale Leben sind Hunderte von Metern entfernt, die Schlafnachbarn aber 30 Zentimeter nah – und stoßen nachts fast aneinander. Das Schiff ist hier in der brasilianischen Amazonasregion, was woanders der Überlandbus ist.
An diesem drückend heißen Vormittag wimmelt es im Passagierhafen von Manaus von Menschen. Zwei große Dampfer legen Richtung Santarém ab. Die „Estrela“ hat ihren schweren Dieselmotor zuerst angelassen, ihre Stahlkonstruktion mit drei Decks bietet Hängemattenhaken für fast 1.000 Passagiere. Manche davon sind Stammgäste, manche zum ersten Mal dabei, die meisten sind Brasilianer, einige aus anderen Ländern. Soziale Unterschiede sind hier auf zwei Kategorien reduziert: Die auf ihr Geld schauen müssen, fahren für umgerechnet rund 20 Euro die 876 Flusskilometer in der selbst mitgebrachten Hängematte und teilen sich wenige Duschzellen, in denen Flusswasser aus dicken Rohren strömt. Ein Dutzend besser Gestellte hingegen reisen im Bett – in dreimal so teuren klimatisierten Kabinen mit eigenem Bad. Die Verpflegung kostet extra und ist für alle gleich: Reis mit Bohnen, Maniokmehl, ein bisschen Tomate und Huhn zu Mittag und Abend, ein Stück Papaya, eine Banane, ein Brötchen mit Schinken und Käse und Milchkaffee zum Frühstück.
Schilder verkünden die Anstandsregeln: Es ist verboten, mit bloßem Oberkörper unterwegs zu sein. Und gemischt geschlechtliche Paare dürfen sich nicht die Hängematte teilen. Neben dem Schriftzug zeigen die Schilder zur Sicherheit Piktogramme, da jeder dritte Brasilianer funktionaler Analphabet ist. Im Norden des Landes leben mehr als die Hälfte der nicht vollständig Alphabetisierten.
Der Schiffsmotor liefert das Grundgeräusch der Reise, nur in der Bar auf dem Oberdeck übertönen Herz-Schmerz-Hits das tiefe Brummen. Zwei Paare um die 30, mit Goldschmuck behängt und in überwiegend pinkfarbener Kleidung, trinken an einem der weißen Plastiktische Schlag auf Schlag Bier und Zuckerrohrschnaps. Bedient werden sie von der Barchefin persönlich, einer energischen weiß blondierten Dame in einem stets so adrett wirkenden Kleid, als wechsele sie es dreimal täglich. Eine einzelne junge Frau an der Reling lässt das Handy sinken und fängt unvermittelt an, ihr Leben zu erzählen.
Konferenz Die 30. Weltklimakonferenz (COP 30) findet vom 10. bis zum 21. November im brasilianischen Belém statt. Dort verhandeln alle Mitgliedsländer der UN-Klimarahmenkonvention darüber, wie sie die Erderhitzung bekämpfen wollen.
Elefant im Raum Die USA werden wohl nicht dabei sein – unter Donald Trump stiegen sie aus dem Pariser Klimaabkommen aus. Ob sie trotzdem stören oder ignoriert werden, wird eine der zentralen Fragen der Konferenz.
Regenwald Das Verhalten der USA soll aber nicht die globalen Schlagzeilen dominieren – geht es nach der brasilianischen Regierung. Unter anderem deswegen will sie einen Fonds für den Schutz des Regenwaldes aufsetzen und befüllen. Wie viel Geld dabei zusammenkommt, entscheidet maßgeblich über den Konferenzerfolg. Belém als Tor zum Amazonas soll die Anwesenden überzeugen, spendabel zu sein. (jwa)
Suely Leal ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist auf dem Weg zu ihrer Mutter, die gerade operiert wird. Die Mutter lebt in Parintins der zweitgrößten Stadt des Bundesstaats Amazonas, in der das Folklorefest Boi-Bumbá jedes Jahr im Juni mehr als 100.000 Touristen anzieht. Suely zeigt begeistert Fotos. Zwei ihrer Schwestern treten tanzend und singend beim Fest auf, eine Tante hat ein Gasthaus am Fluss. Suely selbst tanzt und singt nicht mehr, wie sie mit bedauerndem Unterton erklärt. Die 32-Jährige gehört nun einer evangelikalen Kirchengemeinde an, in der solche weltlichen Aktivitäten ebenso wie kniefreie Kleidung oder Make-up verpönt sind als Sünde. Auf je 68 Haushalte kommt in Nordbrasilien statistisch ein evangelikaler Tempel, wo der Pastor neben strengen Lebensregeln auch politische Orientierung verbreitet. Mehr als ein Drittel der Menschen hier gehören dazu. Im Juni 2025 versammelten sich in Parintins rund 40.000 Gläubige beim Marsch für Jesus. Im Juli sündigten ihrer Meinung nach zirka 120.000 Feiernde beim Folklore-Fest – einem anerkannten Weltkulturerbe, das umgerechnet 28 Millionen Euro Umsatz für die Stadt generiert.
Suely Leal erzählt die Geschichte ihrer Bekehrung laut lachend: Sie habe sich betrunken mit einer Frau angelegt und daraufhin Drohungen eines örtlichen Drogenbosses erhalten. Ihre einzige Rettungsmöglichkeit sei es gewesen, sich zum Glauben zu bekennen. Das habe geholfen, danach habe der Mann sie einfach nicht mehr beachtet, beteuert die junge Frau, die in ihrem eng anliegenden Kleid und mit ihrer übersprudelnden Lebensfreude nicht unbedingt strenggläubig wirkt. Im nächsten Atemzug fragt sie, wer denn abends in die Schiffsbar käme, da sei immer Party angesagt.
Auf der 30-Stunden-Fahrt von Manaus nach Santarém sind zwei offizielle Stopps zum Ein- und Ausstieg geplant, doch am Nachmittag verstummt der Motor plötzlich – ohne dass Passagiere das Schiff betreten oder verlassen. Stattdessen kommen ein Dutzend Polizisten und Feuerwehrleute sowie ein Schäferhund an Deck. Viele der Menschen sind tätowiert und präsentieren muskelbepackte Oberarme. Die beiden Paare aus der Bordbar huschen rasch zu ihrem Gepäck und nesteln daran herum, als hätten sie etwas zu verbergen. Polizisten kontrollieren Ausweisdokumente und lassen den Hund an fast allen Taschen und Koffern schnüffeln. Ohne Erfolg. Bald seilen sie den Drogenspürhund in den streng nach Dieselöl riechenden Laderaum ab, wo er sich eingehend an die Arbeit macht. Einsatzleiter Major Figueira erklärt: Seine Truppe besteht aus 25 Männern, die hier an der Basis Candiru jedes Passagierschiff und auch kleinere Motorboote auf dem Fluss auf Drogen kontrollieren. Der größte Fahndungserfolg bisher ist Spürhund Isis zu verdanken. Insgesamt eine Tonne Kokain und Marihuana hat er bei einer Durchsuchung im vergangenen Jahr erschnüffelt, teilweise in Säcken versteckt, deren Inhalt als Papierfetzen deklariert war. Alles in allem sollen laut brasilianischen Medienberichten im Jahr 2024 mindestens 430 Tonnen Kokain, mit einem Handelswert von umgerechnet mehr als 17 Milliarden Euro auf dem Amazonas gereist sein. Nach brutalen Kämpfen mit rivalisierenden Kartellen hat seit 2020 das Comando Vermelho aus Rio de Janeiro die Kontrolle über sämtliche Wasserstraßen und mehr als hundert Städte der Region übernommen. Das Kartell vertreibt nicht nur Drogen, sondern kassiert Passierzölle von Booten, besticht Indigene und Flussanrainer und zögert nicht, aus dem Weg zu räumen, wer die Geschäfte stört.
Die Routineuntersuchung der „Estrela“ dauert kaum mehr als 30 Minuten und bringt keine Funde. Aber sie bringt die Fahrgäste ins Gespräch, als sie alle zu ihren Plätzen zurückkehren, um ihre Dokumente hervorzukramen. Ein Hängemattennachbar, der bisher eingerollt in seine Matte geschlafen hatte, entpuppt sich als fast so gesprächig wie Suely Leal. Es ist Denis Santos, und er arbeitet ein paar Bootstunden von Manaus entfernt tief im Urwald in einem Camp eines Bergbauunternehmens, dessen Namen er nicht nennen mag. Internationale Investoren seien dort auf der Suche nach seltenen Erden. Denis ist Baggerführer und bleibt jeweils zehn Tage im Camp, bevor er mehrere freie Tage bekommt, die er meist in seiner Heimatstadt Santarém beim Angeln verbringt. Er macht seinen Job mit Kopfhörern und seiner Lieblingsmusik – das lasse sich aushalten, sagt er. Außer, wenn etwas schiefläuft, wie vor einigen Monaten, als er in der Nähe eines Rückhaltebeckens baggern musste. Damals brach der Damm, der giftige Schlamm trat so rasch und gewaltig aus, dass ein Kollege darunter begraben wurde, bevor er sich in seinen Bagger retten konnte.
Denis und mehrere Kollegen versuchten, mit ihren Baggerschaufeln den Kollegen zu bergen, aber sie griffen ins Leere, bis die Situation für sie selbst zu kritisch wurde. Danach habe er den Arbeitgeber gewechselt, sagt Denis. Das Wasser rund um die Unfallstelle sei jetzt verseucht. In der brasilianischen Presse ist nichts über den Unfall zu finden. Bootsstunden von Manaus entfernt ist keine kritische Berichterstattung gefragt. Denis zuckt die Schultern wie einer, der überzeugt ist, die Welt nicht ändern zu können und geht zum Essen. Fotografieren lassen möchte er sich lieber nicht.
Duft nach Knoblauch und Gebratenem kündigt das Mittagessen an. Die Schlange zur Essensausgabe zeigt, dass es noch eine dritte soziale Gruppe gibt: diejenigen, denen umgerechnet knapp 10 Euro für eine Mahlzeit zu teuer ist und die sich deswegen entweder reichlich Maniokmehl mit Fleisch mitgebracht haben, oder sich bei fliegenden Händlern eindecken, die bei jedem Halt an Bord kommen und bei denen das Essen weniger als die Hälfte kostet. Von mehreren Hundert Passagieren stehen maximal drei Dutzend in der Schlange – der brasilianische Mindestlohn, den gut ein Drittel aller Brasilianer maximal verdienen, liegt bei umgerechnet 240 Euro im Monat.
Später in der Bar weht ein lauer Fahrtwind zu den üblichen Schnulzen. Es sind nur drei der Camping-Plastiktische besetzt. An einem sitzt Suely, die unverändert gut gelaunt mit Denis flirtet. Am nächsten das die Farbe Pink liebende Quartett, die jetzt erzählen, dass sie Immobilienmakler sind und in Santarém einen Geschäftsabschluss feiern wollen. Und am dritten hocken drei Männer bei Coca-Cola, was in Nordbrasilien ein nahezu untrügliches Zeichen für die Angehörigkeit zu einer Pfingstkirche ist. Suely überzeugt einen von ihnen, bei der gestrengen Barchefin flottere Forró-Musik zu bestellen. Nachdem Denis partout nicht tanzen möchte, greift sie sich kurzerhand den Zugänglichsten der drei Herren, dessen herbes Rasierwasser die Nachtluft durchdringt. Er widerstrebt eine ganze Weile, dann gibt er nach. Evangelikale dürfen eigentlich nicht tanzen, hier sieht es ja keiner. Antonio ist Goldgräber. In einem offiziellen und legalen Camp in der Umgebung von Santarém, sagt er, seine Arbeit sei gut bezahlt und gefährlich.
Unter dem ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro ist der Goldabbau in ganz Brasilien um 54 Prozent gestiegen, mehr als zwei Drittel davon sind illegal. Nachdem Bolsonaro den Kontrollbehörden brutal die Budgets gekürzt und Führungskräfte durch Militärs ersetzt hatte, wurden neue Camps vor allem in indigenen Gebieten und Naturschutzgebieten in Betrieb genommen. Folgen sind unter anderem eine Quecksilberverseuchung der Flüsse, durch die mehrere indigene Völker wie die Yanomami, Munduruku und Kayapó bereits stark bedroht sind. Quecksilbervergiftungen verursachen zum Beispiel neurologische Fehlbildungen bei Babys. Studien, vor allem neurologische, haben gezeigt, dass sowohl ein bestimmtes Titancarbid als auch bestimmte genmodifizierte Bakterien das Quecksilber aus Flüssen binden könnten. Bislang gibt es allerdings keine entsprechenden Projekte.
Allein im Bundesstaat Pará sind insgesamt rund 141.000 Hektar große illegale Goldgräbercamps bekannt. Gewinner sind kriminelle Organisationen oder Unternehmer wie Valdinei Souza. Der „Goldgräber-Nei“ hat laut Staatsanwaltschaft mit illegalem Gold zig Millionen an Reais verdient. Nei unterstützt laut dem Internetportal „Sumauma“ Jair Bolsonaro und andere rechte Politiker. Seit den Wahlen im Jahr 2022 hat sich im Parlament eine inoffizielle Goldlobby gebildet, die sich für den Abbau des Edelmetalls im Amazonasgebiet einsetzt. Das Gold wird unter anderem nach Hongkong, Dubai, Italien und in die Schweiz exportiert. In diesem Jahr allerdings schaffte der brasilianische Oberste Bundesgerichtshof das sogenannte „Gesetz des guten Willens“ ab und erschwerte dadurch den Goldhandel empfindlich. Bis dahin reichte es aus, wenn ein Goldverkäufer angab, das Edelmetall aus legalen Quellen erworben zu haben, damit es von den offiziellen Goldankaufstellen als legal verbucht wurde.
Antonio weist auf dem Boot weitere Fragen ab, tanzt noch eine Weile mit einer großen blonden Frau und zieht sich dann zurück, als bereue er es, sich überhaupt auf dieses Tanzabenteuer eingelassen zu haben. Die pinkfarbene Fraktion hat schon vor einer Weile die Bar verlassen; inzwischen bläst der Wind stärker, ist es kühl und ungemütlich geworden. Die Chefin in ihrem immer noch perfekt sauberen und wie frisch gebügelt wirkenden Kleid stellt die Musik ab und macht um Mitternacht Feierabend. Danach sitzen nur noch Suely und Denis unter der Bordbeleuchtung, die Köpfe nah beieinander, ins Gespräch versunken.
Nachts werden unvermittelt die Regenplanen heruntergelassen, Wassermassen klatschen dagegen, wilde Böen streifen das Schiff. Bei der Anfahrt auf Parintins geht das Licht an. Die Hängematte von Denis ist leer. Er habe mit Suely durchgemacht, erzählt er am nächsten Morgen, als er schlaftrunken seine Sachen zusammenpackt. In der Schlange zum Aussteigen, später dann in Santarém am Endhaltepunkt der „Estrela“, tut Antonio so, als kenne er seine Tanzpartnerin vom Vortag nicht mehr. Neben ihm fällt ein charmant lächelnder hochgewachsenen Mann mit starkem Akzent und neuen Wanderschuhen auf. Victor ist Geologe aus Venezuela. Er ist seit eineinhalb Jahren in Brasilien, arbeite für illegale Goldgräber und suche geeignete Stellen für neue Camps aus. Dabei verdiene er umgerechnet mehr als 12.000 Euro pro Monat. Nach ein paar Monaten im Job gehe er immer auf monatelange Reisen durch das ganze Land. „Man muss seine Chancen nutzen“, sagt Victor, „wenn sie sich bieten, wer weiß, wie lange ich den Job noch machen kann, jetzt wo alles immer stärker kontrolliert wird!“
Wenig später kommt in Santarém die Alltagswelt wieder näher. Jeder verabschiedet sich in seine eigene Realität, der Mikrokosmos des Schiffs löst sich im Makrokosmos der Stadt auf. Wie groß der Wahrheitsgehalt der vielen Geschichten ist, bleibt ein Geheimnis. Antonio, der „legale“, und Victor, der „illegale“, Goldgräber, steigen jedenfalls am Hafen in dasselbe Schnellboot um. Es wird sie beide in die Wälder bringen.
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