Die Kunst der Zeitungskolumne: Es lebe der Kolumnismus!
Liebe zur Sprache, Verantwortung, Unberechenbarkeit und persönliche Anmaßung: vom Wesen der Zeitungskolumne.
A ls ich heute Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich mich in einen deutschen Zeitungskolumnisten verwandelt. Jemand musste mich verleumdet haben, denn ohne dass ich etwas Böses getan hätte, wurde ich haftbar gemacht für das seelische und soziale Wohlergehen von Redakteuren, Kolleginnen, Leser*Innen, Kommentatoren und Kommentatorinnen, Juristen und Polizistinnen. „Wir sind angekommen“, sagte Frau N. gerade in einem meiner verlorensten Momente.
Der Text also ward gefordert, in den wesentlichen Kategorien „deutsch“, „Zeitung“ und „Kolumne“. Und beim Deutsch, da stock ich schon. Einerseits bilde ich mir ein, diese Sprache, die Worte wie „obzwar“ oder „Rentenfeststellungsbescheid“ hervorgebracht hat, vielleicht zu einem Viertel so zu beherrschen wie der Wahnsinnige, der sie erfunden hat. Andererseits aber ist gerade dies ein Hindernis für soziale Akzeptanz. Denn in diesem Lande ist eine Liebe zur Sprache höchst verdächtig. Besonders natürlich von rechts. Einen Menschen, der vor allem stolz darauf ist, Deutscher zu sein und „Kanaken“ deshalb in höflichem SA-Stil bittet: „Sprich erst mal deutsch, wenn du mit mir reden tust“, erkennt man an seinem offenkundigen Hass auf die eigene Sprache.
Ich will gar nicht darauf hinaus, dass Nazis in der Regel mit Orthografie und Grammatik, wie man so sagt, auf Kriegsfuß stehen, sondern es geht vielmehr um die Art, wie sie dieser Sprache alles auszutreiben versuchen, was nicht Befehl, Drohung, Waffe, Häme, Propaganda und Niedertracht ist. Aber noch weiter verbreitet ist das Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten der eigenen Sprache. Sprachliebe gilt hierzulande als elitär, untüchtig, klassistisch oder abgehoben. Pauschalurteil mit leicht narzisstischer Tendenz? Ich darf das, ich bin Kolumnist.
Bevor sie von irgendwas anderem handeln, handeln Kolumnen von der Mühe, die sich Autorinnen und Autoren mit der Sprache machen, und bestenfalls auch von der Freude, die dabei für sie und die Leser*innen abfällt. Dabei gibt es offenbar zwei literarische Hauptstrategien. Die eine lädt die Adressaten zu einem Spiel der Assoziationen, Mehrdeutigkeiten oder Engführungen ein (Letzteres natürlich vor allem in politisch-moralischer Hinsicht), die andere nutzt ein Rollenspiel. Das schreibende Ich als Zeitgenosse, Kumpel, Mensch wie du und ich, Kind, Vater, Mutter, Arzt oder auch mal Stammtischbruder/-schwester, jedenfalls, um mit Markus Söder zu sprechen: audendisch.
Georg Seeßlen,
geboren 1948 in München, ist freier Journalist, Autor und taz-Kolumnist. Gerade neu erschienen ist sein Buch: „Corona-Kontrolle.
Die Post-Corona-Gesellschaft und was sie uns über die Zukunft erzählt“ (bahoe books, Wien).
Wie auch immer, eine Kolumne ist keine Information, keine Analyse und keine Kritik. Aber wenn sie nicht auf diese drei Bausteine der Kommunikation aufbaut, dann bleibt sie eine ziemlich leere Angelegenheit, vielleicht sogar der Missbrauch einer in der Tat privilegierten Position. Weil Kolumnistinnen und Kolumnisten mehr dürfen als wirkliche Journalisten, haben sie auch eine besondere Verantwortung. Auch und gerade der Sprache gegenüber.
Die zweite Kategorie ist „Zeitung“. Gedruckte, klassisch gegliederte Zeitungen sind ja ein sogenanntes Auslaufmodell. In der traditionellen Form war die Kolumne eine Methode, dem starren semantischen und methodischen Regelwerk – Nachricht, Kommentar, Glosse; Politik, Kultur, Sport etc. – zu entkommen. Eine Kolumnistin, ein Kolumnist darf sich nicht nur, was die persönliche Einstellung anbelangt, etwas mehr an Freiheit herausnehmen als die Redaktion. Dafür ist er oder sie eben auch nur ein Gast und bleibt für sein Schreiben am Ende selbst verantwortlich. Eine Insel der Subjektivität im Meer der, nun ja, objektiven oder wenigstens argumentierenden Informationen. In der Kolumne darf auch von Gefühlen die Rede sein. In der elektronischen Form der Informations- und Meinungsverbreitung gibt es keine Kolumnen mehr – oder es gibt sozusagen nur noch Kolumnen, was in etwa auf dasselbe hinausläuft.
Aber was, dritte Kategorie, ist das überhaupt, eine Kolumne? Bemerkenswerterweise findet sich in der Zeitungswissenschaft, doch, die gibt es, keine wirkliche Definition für dieses Textformat. Kolumnen können verschärfte Formen von Kommentaren sein, sie können Expertenwissen vermitteln, ebenso gut aber, und besonders populär, kann eine Kolumne launige Mitteilungen aus dem Alltagsleben beinhalten, Plätzchenrezepte, Pubertätsnöte der Kinder oder Homöopathie für Goldfische. Großmeister der Kolumne, wie Umberto Eco, stellen unter Beweis, dass einfach alles kolumnentauglich ist, wenn man nur akzeptieren kann, dass alles mit allem verbunden ist, und daher die Schwierigkeit, einen geschenkten Lachs in einem Hotelzimmer-Minibar-Kühlschrank aufzubewahren, sich zugleich subjektphilosophisch oder historisch-materialistisch deuten lässt.
Aber gleichgültig auf welchem Niveau, in welchem Lebenssegment, mit welcher Perspektive und Absicht, mit welchem Eros und welchem Ethos: Kolumnen sprechen in der ersten Person Einzahl. Das birgt die Gefahr von Anmaßung und Peinlichkeit, und es schafft Angriffsflächen für unsere derzeitige Lieblingsbeschäftigung: die Empörung. Was wäre eine Kolumne schon wert, wenn man nicht gleich darauf sagen dürfte, dass der oder die absolut keine Ahnung hat und kein Recht, das zu sagen und überhaupt weggehört, weil man nämlich sonst das Abo kündigt oder zu den Nazis geht oder nur noch Twitter guckt. Die Guten halten’s aus, den Antikolumnismus dieser Tage.
Eine Kolumne hat etwas von einer Bußpredigt, einer Tagebuchnotiz, einem Mini-Essay, einer Ideenskizze, einem freundschaftlichen Ratschlag, einer Anekdote, einer Etüde, einem Work in Progress, einem Gedankenexperiment, einem Tratsch, einem Einwurf und vielem mehr. Sie ist jedenfalls in einem Zeitungsumfeld ein Relikt des Unberechenbaren und Offenen. Dementsprechend mit Risiken und Nebenwirkungen behaftet: Schon okay, wenn sie noch etwas von den unruhigen Träumen enthält, die ihr vorangegangen sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei