piwik no script img

Die Kunst der WocheDas Material malt mit

Der Projektraum Scotty hat das Jahr des Materials ausgerufen. In der Ausstellung zum Open Call tritt die Materialität der Kunst handlungsstark zu Tage.

Blick in die Ausstellung mit Arbeiten von Susanne Specht und beate maria wörz Foto: Kiki Gebauer

Der Kalksteinbrocken, in den Birgit Cauer für ihre Arbeit „Litho Vital V“ mit Salzsäure geätzt hat, schwebt bei SCOTTY an der Wand. Losgelöst von seiner ursprünglichen Formation birgt er die Spuren jahrtausealter Ablagerungsprozesse in sich, die die Künstlerin durch ihre Behandlungsverfahren innerhalb von Tagen in ihrem Atelier freizulegen vermag. Die Korrosion, die Cauer im Zeitraffer sichtbar macht, deutet daraufhin, dass sie mit ihrer Frage, ob Steine tatsächlich als die leblose Materie gelten können, zu der das Anthropozän sie so lange erklärt hat, auf der richtigen Spur ist.

Dieser Spur folgt auch das Jahresthema „Material“, das der Projektraum für zeitgenössische Kunst und experimentelle Medien für dieses Jahr ausgerufen hat und der er sich nun mit 25 Positionen, die aus dem Open Call zum Thema ausgewählt wurden, annähert. Buchstäbliche Spuren bildet Juliane Tübke mit ihrer Tonskulptur „KIN (12099)“ ab, für die sie die Textur eines luftentleerten Basketballs von außen nach innen gekehrt hat.

Wie Raum sich ausdehnt und aufs Kleinste zusammenfaltet, vollzieht Helena Kauppila mit ihrer Textilskulptur „Event Horizon (Information Paradox)“ nach. In ihrem Konglomerat aus Merinowolle und Sicherheitsreflektorgarn schmiegen sich einzelne Blätter wie bei einem Kohl umeinander und kommen sich zum innern hin immer näher.

Die Ausstellung

Material, Gruppenausstellung bei SCOTTY, bis 29. Juli, Do.–Fr. 15–19 Uhr, Sa. 14–18 Uhr, Finissage am 29. Juli von 15 bis 18 Uhr, Oranienstr. 46

Das bewusst gewählte Strickwerk, so beschreibt es die Künstlerin und Mathematikerin, erfordert einen ganz bestimmten Standpunkt, um die Oberfläche der bunten Wollelemente vor den Augen der Betrachter_innen zum Flirren zu bringen. Welche Ereignisse und Zusammenhänge wir überhaupt wahrnehmen können und von welchen wir uns mit bestimmten Bewegungen abschirmen, hängt – so leeren es uns Schwarze Löcher – davon ab, welche Schritte wir zu gehen bereit sind.

Welch irreversiblen Schaden die verheerende Unterschätzung beziehungsweise bewusste Inkaufnahme der materiellen Konsequenzen von Ölkatastrophen durch Tankerunglücke und Pipelinelecks ausrichtet, referiert Markus Willekes Tuschezeichnung, auf der das gelb-rote Shell-Zeichen gerade im Begriff ist, von der Logo-Muschel in einen Totenkopf zu morphen.

Alltagrsreste und malende Materie

Materialeigenschaften wie Transparenz und Schwere drehen sich hier ebenfalls ins Gegenteil. Fragile Neonröhren empfindet Markus Wüste in Marmor nach, Atelierreste erscheinen bei Olivia Martin Moore als schwerer Steinklumpen, der so wie er hier in einer hauchdünnen Plastiktüte für Obst aus dem Supermarkt nicht mal wenige Sekunden durchhalten würde.

Noch unnachgiebiger ist das überdimensionale Aluminium-Mobile „Ab OVO“ von Susanne Specht, aus dessen Mitte die Künstlerin rechteckige Rahmen herausgesägt hat, die sich in glühendem Orange aus dem silbern glänzenden Oval herauswinden.

Das Material der Malerei – als Malsubstanz und als Farbe – kommt hier ebenfalls zur Anerkennung. NK Doege legt für „Production“ Stoffproben einer Strickmaschinenfirma als geschichtete Farbfeldmalerei an. Bei beate maria wörz wird das Malmaterial aus der Küche gewonnen. Ihr Diptychon „grün_2022“, setzt, wie es der Name schon sagt, die Farbe Grün in Szene. Gehalten wird die Akrylfarbe von Papierbindestreifen, die die Künstlerin auf Museumskarton senkrecht aneinander reiht. Das klare Raster ermöglicht den Farbnuanzen in alle Richtungen auf- und abzusteigen. Auch Alltag kann die Wahrnehmung wunderbar frei setzen.

Ganz subtil drückt sich dies noch einmal bei Alketa Ramaj aus, die für ihre trägerfreie Malerei „Impurity (line 5)“ eine Reihe rechteckiger Stoffstücke gesammelt hat, die in Industriewaschmaschinen Farbüberschüsse von Kleidung in sich aufnehmen. Ebenfalls als Fächer laufen die subtil getränkten Lappen in dieser spannend gehängten Ausstellung die Wand empor.

Geka Heinke schließlich überlässt auf ihrer anziehenden Arbeit „Floating Grid #3“ nach dem wiederholten Auftragen roter Farbe, die in Form einer Reihe prominenter Rechtecke das Papier strukturiert, schließlich Öl und Wasser das Feld, die diese Rechtecke unterlaufen und gleichzeitig tragen. Kurz: Das Material malt mit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!