Kulturfestival in Wien: Die Kunst der Dauermobilisierung
Bei den Wiener Festwochen sammelt Milo Rau die Widersprüche der Zeit ums Lagerfeuer. Einige Produktionen versuchen Klassiker im Theater neu zu erfinden.

Raus Institutionskritik endet nicht im Kunstsystem. Deliberative Prozesse in der politischen Öffentlichkeit und den Gremien demokratischer Repräsentation scheinen ebenso defizitär und bedürfen verdoppelt im Theater des korrigierenden Eingriffs durch einen imaginierten Volkswillen. Die Moot Courts der Wiener Prozesse wurden damit zum beliebtesten Festivalformat. Als Wiener Kongresse verhandeln sie in der neuen Auflage bei unveränderter Geschäftsordnung weiter.
Die „Republik der Liebe“ wechselt ihre Bilder, recycelt Motive der Hippieära und tauscht Jakobinermützen gegen Buntes und Selbstgebasteltes für den Summer of Love. Über dem alten Wiener Funkhaus, einem einzigartigen Monument österreichischer Mediengeschichte, dessen Stilllegung Proteste des versammelten österreichischen Kulturlebens auf den Plan rief, schwebt nun der Geist von Haight-Ashbury des Jahres 1967. Im Garten eint am Campfire, so verspricht es jedenfalls die Ankündigung, Theorieikonen, ehemalige RAF-Mitglieder, Weltstars und Sexarbeiter:innen zumindest mittelbar in kirchenfreier Agape.
Radikale linke Positionen in der Kultur
Mit der Rede vom Widerstand schon zu seinem Beginn in Wien hat Rau ein verwaistes Terrain radikaler linker Positionen im kulturellen Feld besetzt. Als vor den Wahlen im Herbst eine von der rechtspopulistischen FPÖ dominierte Regierung unter einem „Volkskanzler“ Herbert Kickl drohte, stellte Rau sich mit dem Momentum der Festwochen an die Spitze einer Mobilisierung „gegen rechts“.
Die Auseinandersetzungen von österreichischen Künstler:innen mit der FPÖ und ihren Gefahren nicht nur für den Kulturbetrieb ist seit Jahrzehnten gut dokumentiert. Mit dem Antagonisten Kickl aber war klar, was einen erwartet: zusammengestrichene Budgets und die Besetzung dessen, was übrig bleibt, mit jasagenden Gefolgsleuten wie in den Nachbarländern Ungarn und Slowakei.
Dabei kann die FPÖ im Gegensatz zu früheren Kulturkämpfen nicht wirklich benennen, was sie am Kulturbetrieb stört. Ihr Zyklopenauge erblickt den European Song Contest, nicht gerade kulturpolitische Kernkompetenz, und die Festwochen, eine Angelegenheit der Stadt Wien, weil da und dort Queeres in Erscheinung tritt.
Eine List der Geschichte hat in Österreich, wo es die Brandmauer gegen rechts nie gab, eine rechtspopulistisch geführte Regierung auf absehbare Zeit unwahrscheinlich gemacht. Die FPÖ hatte sich im Machtrausch verzockt und mögliche Steigbügelhalter verprellt.
Sparzwänge beim Film und in der freien Szene
Es regiert eine erstaunlich stabile Koalition aus christlichsozialer ÖVP, Sozialdemokraten und den liberalen Neos. Nach einem Moment von Deeskalation droht dem österreichischen Kulturbetrieb neues Ungemach. Die Exekution von Sparzwängen zur Budgetsanierung beim Film und künftig auch in der freien Szene fällt ausgerechnet dem Hoffnungsträger der Sozialdemokraten, SPÖ-Vizekanzler Andreas Babler, zu. Förderungen in Wien betrifft das bislang nicht. Aber die Aussicht, dass steigende Budgets als Ausweis einer sozialdemokratischen Fortschrittserzählung vermutlich der Vergangenheit angehören, erschüttert gerade hier.
Der Kulturbetrieb erreicht die „Mitte der Gesellschaft“ immer weniger, weil sie in der Zwischenzeit möglicherweise nach rechts gerückt ist. Im Gegenzug erteilt diese ihm, was den Konsens über seine unverminderte staatliche Finanzierung betrifft, zunehmend den Laufpass.
Milo Rau hält an einem Widerstandsbegriff fest, der in der liberalen Demokratie eigentlich überschießend ist. Die Gründe sind weniger politisch als Teil des ästhetischen Verfahrens. Eine Textsammlung im Verbrecher Verlag zu seiner „Resistance Now!“-Vortragstour durch die europäischen Hauptstädte gibt mit dem Titel „Widerstand hat keine Form, Widerstand ist die Form“ Auskunft darüber.
Rau negiert die Differenz von ästhetischer Erfahrung und politischem Handeln. Er tut dies zur Beschleunigung von Arbeitsprozessen auf Kosten jener Momente, die an der Kunst nur über den Umweg der Form lesbar sind. Ist ihre Eigengesetzlichkeit doch das, was die Widersetzlichkeit von Kunst ausmacht, das das Einvernehmen mit dem Bestehenden erschüttert. Das allerdings ist für Rau gerade Ausweis einer identitär gebliebenen bürgerlichen Kunst und als solches lässlich, steht sie dringenderen Inhalten scheinbar im Weg. So aber läuft sie Gefahr zur ästhetisch wohlgesetzten Affirmation der bloßen Meinung, zum Postulat aus der Welt des Sollens zu erkalten.
Neue Produktion „Die Seherin“
Die aktionistische Dauermobilisierung entfacht stetigen Hunger nach neuen Inhalten, der das Konzept eines „Globalen Realismus“ antreibt. In „Die Seherin“ seiner kommenden Premiere mit Ursina Lardi entfaltet Rau in zwei zwischen Präsenz und medialer Absenz verflochtenen Dialogen das Überleben eines Lehrers im Irak, dem der Terror des „Islamischen Staats“ eine Hand abtrennte, und die Geschichte einer Kriegsfotografin, die im Arabischen Frühling in einer Menschenmenge mitten auf dem Tahrirplatz Opfer der sexuellen Gewalt einer Männerhorde wurde.
Rau hat den Kanon dessen, was Theater verhandeln kann, erweitert wie kaum ein/e Autor:in, kaum ein/e Regisseur:in vor ihm. Auch wenn Inklusion auf der Ebene der Repräsentation tatsächlich gelingt, bleibt unter Landlosen am Amazonas oder auf den Trümmern von Mossul ein Gefälle der Ökonomie und der Freizügigkeit für Passinhaber:innen, das kaum auflösbar scheint. Die Europäer:innen kehren von den Schauplätzen wieder zurück und sind als bürgerliche Künstler:innen nun in der Lage Distinktionsgewinne zu realisieren.
Ein autobiografischer Text im Stil von Brechts Herrn Keuner fragt nach dem Gebrauchswert literarischer Texte. Es bleibt zu befürchten, dass diese Frage nicht wie bei Brecht dialektisch, sondern instrumentell gestellt wird. Erinnerungen an kaderpolitische Überlegungen zur „Vermittelbarkeit“ sind nicht ganz zu vermeiden.
Elfriede Jelinek hat mit der Erstaufführung ihres Stücks „Burgtheater“ am Wiener Burgtheater Erfahrungen damit gemacht. Im Grunde drei szenische Kostproben, Filminserts und eine Fülle von Textergänzungen einfacher Sprache schaffen eine Aufführung, die über alle Zweifel erhaben ist, möglicherweise auch jene, die produktiv sein könnten.
Reaktivierung vom Klassikern
Die Reihe „Brand New Classics“ reaktiviert Stoffe aus dem Kanon und leuchtet sie unter aktuellen Leitfragen aus. Die Produktion „Richard III.“ des Burgschauspielers Itay Tiran am Gescher Theatre (Tel Aviv) gibt über Shakespeare hinweg Einblick in eine Binnenreflexion der politischen Gegenwart Israels. Die belgische Regisseurin Lisaboa Houbrechts befragt in der vielsprachigen Aufführung „Moeder Courage“ aus der Perspektive heutiger Kriege.
Darüber hinaus sind die Festwochen noch immer ein Theaterfestival, das auch ohne pädagogisches Leitsystem kleine und große Entdeckungen, Erfahrungen und Verwirrungen erlaubt. Christopher Rüping kommt mit „All About Earthquakes“, einer Koproduktion mit dem Schauspiel Bochum, mit der feinen Präsenz von Elsie de Brauw im Zentrum eines diversen wie inspirierenden Ensembles dem Liebesgebot des Festivals vielleicht am nächsten. Er schneidet Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ und belle hooks „All About Love“ präzise gegeneinander. Thiago Rodriguez’ „No Yoghurt for the Dead“ erzählt im Wechselspiel dreier Schauspielerinnen auf Portugiesisch und Flämisch vom Sterben seines Vaters sensibel wie unsentimental, wo Pathos überhandnehmen würde, hilft der Fado.
„Second Woman“ ist eine szenische Miniatur, die 24 Stunden dauert. Eine Frau im Gena-Rowlands-Kostüm aus dem Film „Opening Night“ macht 100 Mal zum selben Text mit 100 verschiedenen Männern Schluss.
Die brasilianische Autorin und Regisseurin Carolina Bianchi liefert mit „The Brotherhood“ ein dreieinhalbstündiges Opus Magnum über 2.500 Jahre patriarchale Gewaltkultur aus der Perspektive des Überlebens ihrer eigenen Vergewaltigung.
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