Die Krim im Ukrainekrieg: Die Suche nach Licht

Auf der Krim gibt es mehrheitlich Putin-Anhänger. Unsere Autorin berichtet, wie sie die Stimmung auf der Halbinsel nicht mehr erträgt – und flieht.

Menschen stehen vor Plakaten, auf denen Putin groß zu sehen ist

Propaganda in Simferopol: „Russland fängt keine Kriege an, sondern beendet sie“ (Plakat Mitte) Foto: Alexey Pavlishak/reuters

SIMFEROPOL taz | Be­woh­ne­r*in­nen der Krim, freut euch, dass ihr nicht bombardiert werdet!“, so lauten die Zurufe von allen Seiten. Da würde niemand widersprechen … vor allem nicht auf dem Höhepunkt des Krieges.

Schon in den ersten Tagen fliegen über uns Dutzende Militärflugzeuge hinweg. Direkt über unsere Köpfe. Abends, nachts, manchmal auch tagsüber. Alle wissen bereits, was es bedeutet, dieses schreckliche Dröhnen. Sie bringen den Tod von unserer Krim in unsere Ukraine.

Das tut unglaublich weh. Und in all diesen Tagen, seit dem 24. Februar, raunen wir uns zu: Das schmerzt uns, aber wir werden immerhin nicht selbst bombardiert und getötet. Doch nein, auch wir werden angegriffen, weil sie unser Land zerstören, unsere Städte, unsere Menschen. Das ist unser aller Krieg.

Am 24. Februar, als sich der morgendliche Schock langsam gelegt hat, trifft sich unsere kleine Gemeinschaft ukrainischer Frauen im Zentrum von Simferopol (Hauptstadt der Krim, Anm. d. Red.). Wir gehen in die Kirche, stellen Kerzen auf, beten – den 90. Psalm, den man liest, wenn man Schutz sucht. Dann gehen wir hinaus, um an dem Schewtschenko-Denkmal (Taras Schewtschenko, bedeutendster Lyriker der Ukraine, der im 19. Jahrhundert lebte, Anm. d. Red.) die Buchstaben „Nein zum Krieg“ anzubringen. Wir fixieren sie mit Klebeband in der Hoffnung, dass jemand das lesen, dass es irgendwem dadurch leichter wird. Uns wird die Seele in Stücke gerissen. Das alles ist unmöglich zu begreifen, und dazu verspüren wir diese Machtlosigkeit.

Hausdurchsuchung bei einer Dichterin

Menschen gehen vorüber, ohne auf unser Transparent zu reagieren, alle sind mit sich selbst beschäftigt. Ein älterer, groß gewachsener Mann nähert sich, sagt, sie würden uns alle einsperren. Er zieht ein altes Tastentelefon heraus. Ich hätte es ahnen können! Einige Tage später wird in der Russischen Föderation ein neues Gesetz über die Diskreditierung der eigenen Armee verabschiedet. Auf die Worte „Nein zum Krieg“ stehen jetzt 15 Jahre Haft.

Die nächsten Tage des Krieges ziehen sich schier endlos hin. Cherson, Mariupol, Charkiw, Kiew. Die Ukraine steht in Flammen und auch unsere Herzen brennen. De Verfolgung von Ak­ti­vis­t*in­nen beginnt, von Menschen, die ihren Standpunkt geäußert oder etwas in den sozialen Netzwerken veröffentlicht haben. Eine bekannte Dichterin und Lehrerin für ukrainische Sprache und Literatur, die schon in Rente ist, muss eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen. Als wir sie anrufen, geht sie nicht ans Telefon.

„Wir fixieren das Transparent mit Klebeband. Einige Tage später wird ein neues Gesetz verabschiedet. Auf die Worte 'Nein zum Krieg“ stehen jetzt 15 Jahre Haft“

Wie schon 2014 (völkerrechtswidrige Annexion der Krim, Anm. d. Red.) suchen wir nach Kontakten, gehen zu Treffen. Dann finden wir sie, die Dichterin. Sie sagt, sie brauche keinen Anwalt. Die Nachbarn berichten, dass sie und ihr Mann die Ukraine doch so sehr liebten.

Am 2. März reiche ich bei meinem Arbeitgeber die Kündigung ein. An der Seite von Menschen zu arbeiten, die für diesen Krieg sind (in ihren Worten eine „Spezialoperation“), ist mir nicht mehr möglich. Ein ständiger Strom von Hass und Wut. Sie erklären, dass das alles eine Antwort auf die ukrainische Politik im Donbass sei und darauf, dass die Krim 2014 kein Wasser und keinen Strom hatte (2014 stellte die Ukraine der Krim Strom und Wasser ab, die Stromversorgung wurde nach drei Monaten wieder aufgenommen, Anm. d. Red.). Und darüber, dass die Ukraine nicht existiere und es sie nie gegeben habe.

Der heilige Buchstabe „Z“

An der Fassade eines alten Hauses unweit einer kleinen Station auf dem Weg in die Stadt Jewpatorija taucht eine Losung auf: „Tod den Bandera-Leuten (An­hän­ge­r*in­nen von Stepan Bandera, [1909–1959], nationalistischer ukrainischer Politiker, NS-Kollaborateur und Partisanenführer, Anm. d. Red.). Offensichtlich ist es der Besitzer, der die halbe Hauswand mit dem Spruch bepinselt und auch vermerkt hat, dass er für die russische Armee sei. Und natürlich klebt daneben der heilige Buchstabe „Z“. Er findet sich massenhaft als Aufkleber an den Autos derer, die für den Krieg sind und jetzt „Zetas“ genannt werden. Das „Z“ ist zum Symbol des Kampfes gegen die „Chochlis“ (schlimmes Schimpfwort für Ukrainer*innen, Anm. d. Red.) und die „Nazis“ geworden – mit anderen Worten gegen uns, die Ukrainer*innen. So wird es im Fernsehen gesagt und die Menschen wiederholen das eins zu eins.

Einige wenige haben Angst, dass es bald an Lebensmitteln und anderen Waren fehlen werde, sie hetzen von einem Geschäft ins nächste. Doch das führen sie nicht auf den Krieg zurück. Sie glauben, das seien nur vorübergehende Schwierigkeiten. Oder das Resultat von Sanktionen, die ihrer Meinung nach bald wieder aufgehoben würden – danach würden alle wieder ruhig und glücklich leben. Mariupol wird wieder aufgebaut und auch nach Cherzon kehrt die Ordnung zurück. So reden die Rent­ne­r*in­nen und die, die kurz vor dem Ruhestand sind. Währenddessen diskutieren die jungen Leute über Waffentypen, die Löhne in der Armee, doch sich dort zu verpflichten haben sie keine Eile.

Das Schwerste ist, wenn Menschen so reden, die dir nahestehen. Verwandte, Freunde von Kindesbeinen an. Sie freuen sich und gratulieren einander, dass der Himmel über der Krim friedlich ist. Die „Nazis“ jedoch, sagen sie, die machten sich schon selbst den Garaus und den Zi­vi­lis­t*in­nen gleich mit.

Unter solchen Menschen zu leben, wird ab einem gewissen Punkt unerträglich. Zu bleiben heißt, diejenigen zu verraten, die mittellos, zerrissen und verkrüppelt sind – die Opfer des Krieges.

Zugfahrt durch die Hölle

Zwei Wochen später klaube ich überall Geld zusammen. Ich habe einen Kredit aufgenommen, kann die fällige Rate jedoch nicht zahlen, stecke irgendwelche Sachen in zwei kleine Rucksäcke und springe in den Zug. Ich fahre auf der Route Simferopol–Moskau–Brest–Warschau ins Nirgendwo. Ja, ich fahre durch die Hölle, mit Umstieg in Moskau, aber ich habe nur Rubel und keinen anderen Weg herauszukommen.

Annexion

Die Halbinsel gehörte ab 1954 zur ukrainischen Sowietrepublik und war seit Auflösung der Sowjetunion 1991 Teil der Ukraine. Als dort 2014 die Euromaidan-Proteste ausbrachen, kam es zu einer russischen Intervention und separatistischen Bestrebungen auf der Krim. In einem Referendum am 16. März 2014 stimmten laut russischen Behörden 96,7 Prozent für einen Anschluss an Russland. Die Krim wurde wenige Tage später Teil der Russischen Föderation.

Die Abspaltung und das Referendum sind auf internationaler Ebene mehrheitlich nicht anerkannt. In Deutschland wird der Begriff „Annexion“ verwendet.

Bevölkerung

Etwa 60 Prozent der Be­woh­ne­r*in­nen auf der Krim sind ethnisch russisch. 25 Prozent der Bevölkerung sind Ukrainer*innen. Es gibt außerdem die Krimtataren, eine turksprachige und mehrheitlich sunnitische Ethnie, die aktuell etwa 12 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Politisch stehen die Krimtataren in der Regel auf der Seite der Ukraine, gegen die russische Regierung.

Meine Freundin aus Kindertagen, die sich als „Putinistin“ bezeichnet und an die Völkerfreundschaft glaubt, verabschiedet mich. Und ihr finster dreinblickender ältester Sohn, der schon nicht mehr weiß, was er noch glauben soll. Mein Mann kommt nicht auf den Bahnsteig, aber er hat die Abreise unterstützt, so gut er konnte. Die offizielle Version lautet, das passiere alles zu meiner Sicherheit. Denn sie (Geheimdienstler, Polizisten, mit einem Wort „Monster“) können jederzeit auftauchen. So ist es bereits unserem krimtatarischen Menschenrechtler Abdureschit Dschepparow ergangen (Dschepparow wurde Mitte März festgenommen, Anm. d. Red.).

Die Fahrt nach Moskau ist qualvoll. Im Waggon wimmelt es wie in einem Ameisenhaufen. Zwei Nächte fast ohne Schlaf, es ist stickig und ich bin mit den Nerven am Ende. Ständig weint ein Kind. Und wieder Gespräche über den Krieg. Das dauere nicht mehr lange und alles werde wieder gut.

Moskau ist voll von Obdachlosen und Alkoholikern. Zwei abgerissene Männer trinken in der Wartehalle des Bahnhofes Wodka, ein Polizist schimpft fast freundschaftlich und nimmt ihnen die Flasche weg. Sie sind verwirrt und besorgen sich dann Bier. Abends erreicht der Zug Brest. Mein roter (der russische, Anm. d. Red.) und mein ukrainischer biometrischer Pass reichen für eine ruhige Fahrt.

Ein Medikament gegen Hass und Krieg

Einen älteren Mann mit Koffern lassen sie nicht in den Brester Zug. Er hat nur einen ukrainischen Personalausweis. „Aber warum haben sie mir dann ein Ticket verkauft?“, fragt er verwirrt. In Brest taucht eine Frau mit Kind im Zug auf, die Kleine hat keine Dokumente. „Gehen Sie zur Botschaft“, sagt der Schaffner ungerührt.

Polen ist die letzte Grenze. Ich zeige meinen Pass vor, sage, wo ich herkomme und wo ich hin möchte. „Bleiben Sie lange in Polen?“, fragt eine junge Grenzbeamte. „Das weiß ich noch nicht“, antworte ich, „vielleicht fahre ich von hier aus in die Ukraine.“ Aus irgendeinem Grund breche ich auf dieser Reise zum ersten Mal in Tränen aus. Schnell drückt die junge Frau einen Stempel in meinen Pass und winkt mich durch.

Im Moment habe ich für mein Emigrantenleben keinen Plan. Wie weiter? Ja, ich bin aus der Pestbaracke geflohen, in die sich meine geliebte Krim verwandelt hat. Vor mir liegt die Suche nach neuen Wegen, einer Unterkunft, Arbeit, Menschen. Die Suche nach einem Medikament gegen Hass und Krieg. Die Suche nach Licht. Einverstanden, das klingt zu positiv, die Realität wird eine andere sein. Davon werde ich erzählen, wenn ich überlebe.

Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der Panter Stiftung.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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