Luftalarm in Kiew: Das Geräusch der Sirenen
In der ukrainischen Hauptstadt Kiew gibt es fast alle zwei Stunden Luftalarm. Sobald die Sirene heult, verspürt unsere Autorin Angst.
M an kann sich schwer vorstellen, dass ein Geräusch einen Brechreiz hervorrufen kann. Und doch ist es möglich. Für mich ist es das Geräusch der Sirenen bei Luftalarm. Seit vier Wochen höre ich es mindestens zehn Mal pro Tag.
Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.
Die Sirene beginnt mit so einem fiesen Geräusch zu heulen, im Kopf dreht sich alles, und dann hast du das Gefühl, als ob dir irgendeine eiskalte Hand die Gurgel zudrückt. In dem Moment begreifst du, dass die Rakete schon abgefeuert wurde und in deine Richtung fliegt. Es ist nie klar, wo sie einschlagen wird, aber es besteht immer die Gefahr, dass es ganz in deiner Nähe passiert. Dann hörst du eine Explosion oder zwei. Entweder wurde die Rakete von der Flugabwehr zerstört. Oder sie ist irgendwo eingeschlagen. Schlimm ist es in beiden Fällen. Auch eine zerstörte Rakete ist gefährlich wegen ihrer Splitter. Auch die zerstören und töten.
Raketen töten in Sekunden Leben
Erst kürzlich war ich an so einem Ort, an dem eine Rakete herunterkam. Sie fiel in den Hof einer Wohnsiedlung. Mit einem Schlag waren sechs Häuser zerstört: vier fünfstöckige Wohnhäuser, eine Schule und ein Kindergarten. Innerhalb einer Sekunde war damit das alte Leben von Hunderten Menschen einfach weg. In eine dieser Wohnungen bin ich hineingegangen.
Die Druckwelle der Explosion hatte alles zerstört, was in der Wohnung gewesen war, so, als sei es durch einen Fleischwolf gedreht worden. Töpfe, Gläser, Schuhe, Bücher, Schränke, Kleidung, Lebensmittel aus dem Kühlschrank. Die Splitter der Fensterrahmen waren in der ganzen Wohnung verteilt. Aber am meisten erstaunt hat mich das Omelett auf dem Herd, übersät von Glassplittern der kaputten Fensterscheiben. Nach dem, was mir der Wohnungsinhaber erzählte, konnte ich die Abfolge der Ereignisse rekonstruieren.
Die junge Mutter kam morgens aus der Dusche, und bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machte, bereitete sie noch das Frühstück vor. Während sie ihren Morgenkaffee trank, sah sie aus dem Fenster, weil schon seit Sonnenaufgang Schüsse zu hören waren. In diesem Moment schlug eine Rakete direkt neben ihrem Haus ein.
Tausende von winzig kleinen Glassplittern durchbohrten ihr Gesicht und ihren Körper, und auf ihrem weißen Frotteebademantel waren schnell überall rote Flecken zu sehen. Ihr Blut lief in die Küche, in die wenige Minuten später ihr Sohn und ihr Mann zum Frühstück kommen sollten. Die Frau hatte, anders als die Leute aus den Nachbarwohnungen, Glück. Sie hat überlebt. Solche Tragödien ereignen sich täglich in der Hauptstadt der Ukraine.
Genau wie alle anderen Ukrainer bin auch ich sehr erschöpft von dem permanenten Gefühl der Angst und Gefahr. Aber jetzt ist nicht die Zeit für Selbstmitleid. Jeder in der Ukraine tut gerade alles, damit dieser Krieg bald beendet ist. Aber nur mit einem Ergebnis: dem Sieg des Lichtes über die Dunkelheit und die für immer zum Schweigen gebrachten Sirenen.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Finanziert wird das Projekt durch die taz Panter Stiftung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!