Luftalarm in Kiew: Das Geräusch der Sirenen

In der ukrainischen Hauptstadt Kiew gibt es fast alle zwei Stunden Luftalarm. Sobald die Sirene heult, verspürt unsere Autorin Angst.

Bombenentschärfer untersuchen den Ort einer Explosion

Bombenentschärfer untersuchen den Ort einer Explosion nach einem Einschlag in Kiew Foto: Felipe Dana/ap/dpa

Man kann sich schwer vorstellen, dass ein Geräusch einen Brechreiz hervorrufen kann. Und doch ist es möglich. Für mich ist es das Geräusch der Sirenen bei Luftalarm. Seit vier Wochen höre ich es mindestens zehn Mal pro Tag.

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.

Die Sirene beginnt mit so einem fiesen Geräusch zu heulen, im Kopf dreht sich alles, und dann hast du das Gefühl, als ob dir irgendeine eiskalte Hand die Gurgel zudrückt. In dem Moment begreifst du, dass die Rakete schon abgefeuert wurde und in deine Richtung fliegt. Es ist nie klar, wo sie einschlagen wird, aber es besteht immer die Gefahr, dass es ganz in deiner Nähe passiert. Dann hörst du eine Explosion oder zwei. Entweder wurde die Rakete von der Flugabwehr zerstört. Oder sie ist irgendwo eingeschlagen. Schlimm ist es in beiden Fällen. Auch eine zerstörte Rakete ist gefährlich wegen ihrer Splitter. Auch die zerstören und töten.

Raketen töten in Sekunden Leben

Erst kürzlich war ich an so einem Ort, an dem eine Rakete herunterkam. Sie fiel in den Hof einer Wohnsiedlung. Mit einem Schlag waren sechs Häuser zerstört: vier fünfstöckige Wohnhäuser, eine Schule und ein Kindergarten. Innerhalb einer Sekunde war damit das alte Leben von Hunderten Menschen einfach weg. In eine dieser Wohnungen bin ich hineingegangen.

Die Druckwelle der Explosion hatte alles zerstört, was in der Wohnung gewesen war, so, als sei es durch einen Fleischwolf gedreht worden. Töpfe, Gläser, Schuhe, Bücher, Schränke, Kleidung, Lebensmittel aus dem Kühlschrank. Die Splitter der Fensterrahmen waren in der ganzen Wohnung verteilt. Aber am meisten erstaunt hat mich das Omelett auf dem Herd, übersät von Glassplittern der kaputten Fensterscheiben. Nach dem, was mir der Wohnungs­inhaber erzählte, konnte ich die Abfolge der Ereignisse rekonstruieren.

Die junge Mutter kam morgens aus der Dusche, und bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machte, bereitete sie noch das Frühstück vor. Während sie ihren Morgenkaffee trank, sah sie aus dem Fenster, weil schon seit Sonnenaufgang Schüsse zu hören waren. In diesem Moment schlug eine Rakete direkt neben ihrem Haus ein.

Tausende von winzig kleinen Glassplittern durchbohrten ihr Gesicht und ihren Körper, und auf ihrem weißen Frotteebademantel waren schnell überall rote Flecken zu sehen. Ihr Blut lief in die Küche, in die wenige Minuten später ihr Sohn und ihr Mann zum Frühstück kommen sollten. Die Frau hatte, anders als die Leute aus den Nachbarwohnungen, Glück. Sie hat überlebt. Solche Tragödien ereignen sich täglich in der Hauptstadt der Ukraine.

Genau wie alle anderen Ukrainer bin auch ich sehr erschöpft von dem permanenten Gefühl der Angst und Gefahr. Aber jetzt ist nicht die Zeit für Selbstmitleid. Jeder in der Ukrai­ne tut gerade alles, damit dieser Krieg bald be­endet ist. Aber nur mit einem Ergebnis: dem Sieg des Lichtes über die Dunkelheit und die für immer zum Schweigen gebrachten Sirenen.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt durch die taz Panter Stiftung

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Anastasia Magazova ist 1989 auf der Krim (Ukraine) geboren. Studium der ukrainischen Philologie sowie Journalismus in Simferopol (Ukraine). Seit 2013 Autorin der taz und seit 2015 Korrespondentin für die Deutsche Welle (DW). Absolventin des Ostkurses 2014 und des Ostkurses plus 2018 des ifp in München. Als Marion-Gräfin-Dönhoff-Stipendiatin 2016 Praktikum beim Flensburger Tageblatt. Stipendiatin des Europäischen Journalisten-Fellowships der FU Berlin (2019-2020) in Berlin. Als Journalistin interessiert sie sich besonders für die Politik in Osteuropa sowie die deutsch-ukrainischen Beziehungen.

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

Diese Kolumne ist nur möglich dank Ihrer finanziellen Hilfe. Spenden Sie der taz Panter Stiftung und sorgen Sie damit für unabhängige Berichterstattung von Jour­na­lis­t:in­nen vor Ort.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.