: Die Glaubwürdigkeit des Doktors
■ Skandalöse Anklagepunkte, dubioser Zeuge: In einem Pflegeheim in Osdorf sollen zwei Frauen misshandelt worden sein
Die einzigen Zeuginnen können nicht sprechen. Es sind zwei alte Frauen, beide dement und pflegebedürftig. Die praktische Lebenshilfe leistet Michael R., seit 1993 bis vor einer Woche – obwohl er die beiden, so der Vorwurf eines ehemaligen Kollegen, im August 1999 schwer misshandelt haben soll. Dafür steht er seit gestern vor dem Altonaer Amtsgericht.
Im Butenhagen-Haus in Osdorf ist Michael R. seit 1993 auf der Pflegestation im Dienst. An jenem Tag im August soll er die 90-jährige Helene N. aus dem Rollstuhl gezerrt und so brutal aufs Bett geschleudert haben, dass sie mit dem Rücken gegen eine Wand schlug und sich verletzte. Der gänzlich unbeweglichen Else D. soll er die verkrümmten Gelenke durchgedrückt haben. Als die Frau vor Schmerzen schrie, habe er das mit den Worten quittiert: „Jetzt spürst du wenigstens, dass du noch lebst.“
Die Gerichtsverhandlung allerdings wirft mehr Fragen auf, als sie beantworten kann. Die vorgetragenen Fakten sprechen für einen Skandal: Wehrlose Frauen werden misshandelt, die Heimleitung erfährt die Vorwürfe und handelt nicht. Noch Jahre danach mutet sie den Opfern zu, sich von demselben Pfleger waschen, anziehen und betten zu lassen. Zu widersprechen sind sie nicht mehr in der Lage.
Soweit die Fakten. Doch vorgetragen werden sie von dem ehemaligen Kollegen Edgar L., und sobald der den Saal betritt, erscheint die Geschichte in einem etwas anderen Licht. Er trägt den Titel „Dr.“ und ist kein Doktor. Er hat die Misshandlungen, die er beobachtet haben will, auch nicht angezeigt, weder bei der Heimleitung noch bei der Polizei. Und als die dann von anderen Kollegen informiert wurde, welche die Behauptungen von Edgar L. mitbekommen hatten, verweigerte er die Aussage. Mehrfach folgte er der Vorladung zu seiner Zeugenvernehmung nicht, bis die Staatsanwaltschaft ihn schließlich polizeilich vorführen ließ. „Die haben mich zur Aussage genötigt“, nennt das der Belastungszeuge Edgar L.
Die Misshandlungen habe er nicht angezeigt, weil solche Vorfälle in dem Heim Alltag seien, sagt Edgar L. noch. Was wiederum für einen Skandal spräche – wenn man dem Zeugen Glauben schenkt. Ob das Gericht das tut, wird sich kommende Woche zeigen. Da wird der Prozess fortgesetzt. Elke Spanner
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