Die Geschichte des Turnschuhs: So wird ein Sneaker draus
Vor 30 Jahren begannen schwarze Jungs, ihre Turnschuhe auf den Straßen der Bronx zu tragen. Heute werden Modelle für Tausende Euro verkauft.
„Ich werde nie das Gefühl vergessen, als ich aus dem Laden kam“, sagt er heute. „Ich schaute auf meine Schuhe und dachte: Wer will was von mir?!“ 20 Jahre später steht Janiv Koll, braune Augen, Käppi auf dem rasierten Kopf, vor seiner Wohnzimmerwand, 4,5 Meter lang, 3 Meter hoch, ein Meer aus blauem, rotem, gelbem Plastik. Er sagt: „Dieser erste Schuh war der Grundstein für alles, was heute ist.“ An diesem Nachmittag im November stehen exakt 194 Paar Nike Air Max 1 in seinem Wohnzimmer, aufgereiht an seiner Wand.
Janiv Koll besitzt keine anderen Schuhe mehr. Keine Anzugschuhe, keine Sportschuhe, keine von Puma oder Adidas, nicht mal andere Nike-Modelle. Nur Nike Air Max 1er. Wobei, stimmt nicht ganz. An diesem Nachmittag trägt Koll, 34, ein rot-weiß kariertes Hemd, eine rote Stoffhose, weiße hochgezogene Nike-Socken und rosa Plüschschlappen. Es gibt in Deutschland nur eine 1er Sammlung, die an seine rankommt, sagt er. 50.000 bis 70.000 Euro stehen da an der Wand, genau kann man das schwer sagen, denn der Wert von seltenen Sneakern geht hoch und runter.
Bezahlt hat Koll vielleicht ein Drittel. Die wenigsten Schuhe trägt er, die Weichmacher sind zerfallen, die Sohle würde brechen. Kaum jemand in Deutschland hat so viel Wissen über den Nike Air Max 1 angehäuft wie Janiv Koll. Vor ein paar Monaten wurde er Administrator einer Facebookgruppe, auf der seltene 1er angeboten werden. Die Gruppe hat 35.000 Mitglieder. Wer über andere Schuhe schreibt, fliegt raus. Janiv Koll, das kann man ruhig so sagen, ist süchtig nach Sneakern. Und er ist nicht allein.
Anfang des Jahres 2018 übernachteten über 500 Leute vor einem Laden in Berlin-Kreuzberg, um einen Schuh zu kaufen, den Adidas mit den Berliner Verkehrsbetrieben herausbrachte und der als Jahreskarte galt. Auf der Sneakerbörse stockx.com werden Schuhe gehandelt wie Wertpapiere. Eines der teuersten Modelle, ein Nachbau des selbstschnürenden Turnschuhs von „Zurück in die Zukunft“, wurde 2016 für 28.357 Euro verkauft.
Auch abseits dieser Hypes sind Sneaker eine Weltmacht geworden. Nach Zahlen des Instituts für Handelsforschung hat sich ihr Anteil am Schuhmarkt seit Anfang der neunziger Jahre mehr als verdoppelt. Nike und Adidas, die beiden größten Hersteller, hatten 2017 das erfolgreichste Geschäftsjahr ihrer Geschichte.
Karl Lagerfeld, der einmal sagte, wer im Alltag eine Jogginghose trage, habe die Kontrolle über sein Leben verloren, designt mittlerweile Sneaker – dabei waren sie doch, als sie noch Turnschuhe hießen, nichts anderes als eine Jogginghose für die Füße.
Warum sind Sneaker heute überall?
Falls Sie sich jetzt fragen, warum hier die ganze Zeit von Sneakern die Rede ist, und nicht von Turnschuhen – das ist schon ein Teil der Antwort. Früher war das ein- und dasselbe: etwas, das man zum Sport anzog. Laufschuhe, Basketballschuhe, weiße Schuhe, die Kinder sich für den Sportunterricht kauften, um keine Streifen auf dem Parkett zu machen. Heute sind Sneaker viel mehr als das. Sie sind im Sport, auf der Straße, bei der Arbeit, auf dem Laufsteg.
Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Liverpool Rubber Company damit, Gummisohlen mit Leinenstoff zu kombinieren. Die weiße Sohle zierte ein schwarzer Strich. Die viktorianische Mittelklasse trug die leichten Schuhe zu Ausflügen an den Strand und nannte sie Plimsolls, denn der Strich an der Sohle erinnerte sie an die Lademarke bei Hochseeschiffen, genannt Plimsoll-Line. Wer ein Schiff über diese Marke belud, lief Gefahr, zu kentern. Wer mit den neuen Leinenschuhen über die Gummisohle hinaus ins Wasser ging, bekam nasse Füße.
In den zwanziger Jahren erfand Marquis Mills Converse gemeinsam mit dem Basketballer Chuck Taylor den Chuck Taylor All Star, besser bekannt als Chuck. Er wurde zum Standardschuh der Basketballer bis weit in den Kalten Krieg hinein. Einen schwarzen Strich hat er bis heute. Sneaker waren Sportschuhe, Instrumente für Läufer, Turner, Tennisspieler und Basketballer. Noch 1970 gab es in den Vereinigten Staaten genau fünf Modelle.
Weiterentwickelt wurden sie nur aus sportlichen Gründen. In den siebziger Jahren verletzte sich ein junger Leichtathlet namens Tinker Hatfield beim Hochsprung. Er begrub seine olympischen Träume, studierte Architektur und wurde Designer bei Nike. Er wollte einen Schuh entwickeln, der Sportler beschützen sollte. Heraus kam der Nike Air Max 1, in den sich Jahre später Janiv Koll in Freiburg verlieben sollte.
Empfohlener externer Inhalt
In die Sohle des Nike Air Max 1 war ein Airbag eingelassen. Hatfield hatte sich in Paris das Centre Georges-Pompidou angeschaut, entworfen vom Architekten Renzo Piano, ein Gebäude, dessen Rohre und Leitungen nach außen gekehrt sind. Er designte den Air Max 1 nach diesem Prinzip und legte den Airbag frei.
Die Leute hassten es. Und sie liebten es. Es war Punk, Provokation, es war wie Elton John, der in High Heels mit Goldfischglassohlen auf die Bühne ging. Doch auch der Nike Air Max 1 war immer noch ein Sportschuh. Es ging um Sprunggelenke von Läufern und Basketballern.
Dann passierte etwas: Sneaker wurden cool. Einige wenige Menschen begannen, Sneaker auf der Straße anzuziehen. In den Achtzigern bildete sich um diese Schuhe herum eine Kultur, mit eigenen Codes und Regeln. Man kann das bei der Kultursoziologin Yuniya Kawamura nachlesen.
Die sneaker culture war eine Subkultur, und sie war schwarz. Geboren in der South Bronx, New York, dem ärmsten Viertel einer bankrotten Stadt. Gangs markierten ihr Territorium, indem sie ihre Namen an Wände sprayten. Diese Leute trugen eine Uniform, die Uniform des Hip-Hop: Jeans, T-Shirt, Sneaker. Niemand sonst trug damals Sportschuhe außerhalb von Turnhallen. Die Straße war nicht bunt, sondern schwarz und braun: Lederschuhe, Arbeitsstiefel, Halbschuhe.
Es gibt eine Art nachträgliches Gründungsdokument der Sneakerbewegung. Bobbito Garcia, der erste berühmte Sammler, schrieb es für das Hip-Hop-Magazin „The Source“. Titel: „Confessions of a Sneaker Addict“. Garcia, ein Streetballer, DJ und Moderator, erzählt darin, wie das Sneaker Game, die Jagd nach den angesehensten Modellen, funktioniert. Gerade waren Wiederauflagen alter Modelle, Nike Air Force Ones oder Adidas Forums, populär.
Kein Nike-Marketinggenie aus Manhattan ahnte, was damals passierte. Der Kult ging völlig an den Herstellern vorbei. Sie dachten bei der Entwicklung neuer Modelle immer noch an Kinder in Sporthallen. Ganze Wochenenden ist Garcia mit seinen Jungs unterwegs, die sich Ted Nitro nennen oder Sake Lover, um neue Geschäfte aufzutreiben, in irgendwelchen Kellern alte Bestände abzugreifen oder in andere Städte zu fahren, wo ein Laden seltene Modelle hat.
Alles für diesen einen Moment: Es gebe nichts Besseres, schreibt Bobbito Garcia, als von einem Typen gescannt zu werden, der diese Schuhe an deinen Füßen noch nie gesehen hat. „Dein Tag war gerettet, wenn der Typ dich fragte: ‚Ay yo, where’d you get those?‘“ Bobbito Garcia ist der erste, der berühmteste Sneakerhead. Ein Verehrer des Schuhs. Ein Trendsetter. Und er gibt den geneigten Lesern ein paar Tipps, wie man diese Schuhe richtig trägt.
Tipp 1: Die sehen nur gut aus, wenn sie frisch aus der Box kommen. Das Beste ist es, sich neue Schuhe zu kaufen, sie ein paar Jahre auf Eis zu stellen und sie dann, wenn sie gereift und wieder modern (und nirgendwo zu finden sind), frisch und jungfräulich zu tragen.
Tipp 2: Pass auf, wem du dein Wissen verrätst. Erzähle niemandem, wo du dein Sneakerparadies gefunden hast. Denn in jedem Bekanntenkreis gibt es doch immer diesen einen Typen. Der mit dem X-Faktor, mit der Fähigkeit, alles, was er anzieht, scheiße aussehen zu lassen. Kommt dieser Typ in den Besitz deiner Schuhe, sind die ruiniert.
Die Sneaker-Ökonomie funktioniert damals so: Trends entstehen auf der Straße. Der richtige Typ trägt die Schuhe, seine Coolness geht auf sie über, dann trägt der nächste Typ sie. Und der Hype ist da. Coolness ist etwas Organisches, eine flüchtige Verbindung, keiner kann sie kontrollieren. Die großen Schuhkonzerne haben die kommerzielle Macht dieses Faktors noch nicht entdeckt.
Ungefähr zehn Jahre nach seinem ersten Air Max 1 in Freiburg wurde Janiv Koll zum Sammler. Bis dahin hatte er auch mal Adidas gekauft, dann nur noch Nike, bis er zuletzt nur noch 1er trug, der Schuh hatte schon früh eine „intakte Ästhetik“, sagt er. Aber nur eine einzige Linie einer einzigen Marke? Pass auf, sagt Koll, mit Sneakern ist es so. Er holt tief Luft, denn gleich geht es los und wenn Janiv Koll redet, dann redet er. Wie ein Presslufthammer, präzise, laute Schläge, Bambambam, ohne Äh, ohne Pause, höchstens Not-Schnappatmung.
Koll also: „Wenn ich jetzt sage, jetzt habe ich von Air Max 1ern ein ganz bisschen Plan und von Air Max 90 hab ich auch ein ganz bisschen Plan, dann hab ich noch ein ganz bisschen Plan von Asics, dann ab ich noch ganz bisschen Plan von Adidas, noch ganz bisschen Plan von Puma, dann bin ich halt im Endeffekt … (keuch!) … ein Dude mit’n bisschen Plan von bisschen was.“
Koll aber wollte der Dude sein, den man fragt, wenn es um Air Max 1 geht. Ein Purist. Ein Jäger und Sammler in legitimer Ahnenreihe. So wie die Jungs vor 30 Jahren in der Bronx. Aber etwas Entscheidendes hatte sich verändert. Früher bestand das Sneaker Game darin, neue Läden zu finden, nach Baltimore zu fahren, um Restbestände abzugreifen und Geheimnisse zu bewahren. Im 21. Jahrhundert pflegt Janiv Koll das Sneaker Game im Internet. Das geht zum Beispiel so:
Irgendwann im Herbst 2016 bekommt Koll auf Facebook eine Nachricht aus Los Angeles. Es ist ein Kollege, der ihn schon oft um Rat gebeten hat. Meistens fragt er: Was krieg ich für den? Die Preise für den Air Max 1 in Europa sind höher als in den Vereinigten Staaten, wo der Schuh viel getragen wird. Der Kollege schreibt also: Hey, wie viel kann ich für den hier nehmen? Und schickt ein Bild von einem zitronengelben Schuh mit grünen Schnürsenkeln. Janiv Koll antwortet: Hold on now.
Der fragliche Schuh ist ein Nike Air Max 1 Powerwall Lemonade, von 2005. Dazu muss man ein paar Dinge wissen: Die Powerwall-Serie feierte den 20. Geburtstag der Air Max. Darunter sieben Varianten des Air Max 1, retro, supergreen, extraordinary red, „ein Arsch voll“, wie Koll das nennt.
Koll hat alle sechs bis auf den Lemonade. Koll schreibt: Der kommt zu mir. Ich brauch den. Dann beginnt eine monatelange Verhandlungsschlacht. Im Facebook-Chat liest sich das so: Der Kalifornier schreibt: „Some guy just offered a wicked deal!“ Koll schreibt: Don’t you think I deserve to have these?“ Der Kalifornier schreibt: „Man, I need the money for my family.“ Koll schreibt: „All jokes aside now. I need this.“
Die Verhandlungen dauern Monate, Koll wird, so sagt er, unausstehlich. Er formuliert Nachrichten fünfmal, bevor er sie versendet, er schickt Bilder, Gifs, psychologische Kriegsführung. Er verfolgt eine Strategie, er hat ein Narrativ, es geht so: Ich bin der Dude, der dir ständig hilft. Jetzt hast du einmal die Chance, mir zu helfen. Wie willst du sonst morgens in den Spiegel gucken?
Zwei Monate später bekommt er den Lemonade im Austausch für 700 Euro und einen anderen Schuh, den Koll einem Bekannten für einen Betrag weit unterhalb des Marktpreises aus der Hüfte leiert. Heute, zwei Jahre später, ist der Lemonade locker 2.000 Euro wert. Janiv Koll bezieht seine Stellung als Sammler aus solchen Geschichten. Es geht nicht darum, dass er viel Geld für Schuhe ausgeben kann.
Es geht darum, dass er sich mit Ausdauer, Tricks und Verbindungen eine Sammlung aufgebaut hat, die es so kaum ein zweites Mal gibt. Das verschafft ihm Ansehen. Janiv Koll ist ein Bobbito Garcia im Internet. Ein Sammler, Teil einer Subkultur, wie der Sneaker es bis Mitte der 80er Jahre blieb. Aber heute tragen nicht nur Nerds, sondern fast alle Sneaker. Damit das möglich wurde, brauchte es einen Mann, der so genannt wird wie Kolls Sneaker: Michael „Air“ Jordan.
Der beste Basketballer aller Zeiten, den sie „Air“ nannten – denn er konnte fliegen. 1984 designte Nike einen Schuh für ihn und nannte ihn „Air Jordan“. Der schwarz-rote dreiviertelhohe Schuh verstieß gegen die Farbregularien der Basketballliga NBA. Jordan trug ihn trotzdem, und musste Strafe zahlen. Nike machte daraus eine Werbung: „Banned by the NBA.“ Danach saß Jordan in David Lettermans Talkshow. Der fragte ihn: Warum um alles in der Welt sind diese Schuhe verboten? Jordan: „Well, it didn’t have any white in it.“ Letterman: „Well, neither does the NBA.“
Die Air Jordans verkauften sich so gut, dass der Schuh bis heute in über 30 Ausgaben aufgelegt wurde. Er verkaufte sich in der schwarzen South Bronx ebenso wie im weißen mittleren Westen. Jordan, ein schwarzer Athlet in einem von Weißen dominierten Land, verbot sich krampfhaft politische Statements. Er soll einmal gesagt haben: „Republicans buy sneakers, too.“
Die Air Jordans machten eine schwarze Subkultur zum Mainstream, die Soziologin Yuniya Kawamura nennt das die „Kommodifizierung einer Subkultur.“ Die Coolness, die die Jungs aus der Bronx ihren Sneakern verliehen, diese organische Verbindung, wurde von Nike, Adidas, Reebok und den anderen Schuhkonzernen erforscht, verstanden und zur Ware gemacht. Langsam ging die kulturelle Macht von den Sammlern zu den Herstellern über.
Regel Nummer 1: Verknappe das Gut
An einem heißen Julitag sitzt ein Mann auf einem Bordstein im Schatten. Berlin-Alt-Treptow, die Spree fließt vorbei, und in einem roten Backsteinbau ist gerade Streetstyle-Modemesse. Hikmet Sugoer, 45, abrasierte Haare, grauer Vollbart, pastellfarbene Diadora-Sneaker, hat fast die Hälfte seines Lebens mit Schuhen gearbeitet.
Sugoer sagt: „Der Sneakermarkt ist zu 80 Prozent homogen geworden.“ Irgendwann zwischen dem Air Jordan und heute entdeckten die Hersteller, dass sie Coolness, dieses organische Element, selbst herstellen konnten. Es gibt verschiedene Wege, einen Trend zu starten, hat der Sneakerblog „High Snobiety“ mal beschrieben:
1. Verknappe das Gut. Liefere weniger aus, als es an Nachfrage gibt. Auf Pre-Launch Events sehen Blogger und Journalisten den neuen Schuh. Die Leute erfahren, wie heiß der Schuh ist – sie können nur kein Paar bekommen. Vergrößere dann langsam die Menge, damit es Wachstum gibt. 2. Veröffentliche exklusive Schuhe, die nur in bestimmten Städten erscheinen. 3. Influencer Marketing: Bezahle coole Leute dafür, deine Schuhe anzuziehen, auf dass ihr Glanz auf sie abstrahle.
Die Technik ist so alt wie Givenchys Kleid für Audrey Hepburn in „Breakfast at Tiffany’s“. Mittlerweile aber tragen Prominente die Schuhe nicht nur, sie designen sie, egal ob Basketballer, Rapper, Modezaren oder Popstars, und es werden nicht mal ausnahmsweise Leute bezahlt, um die Sachen zu tragen wie früher, sondern es ist die Regel, nicht nur bei A-Promis, sondern auch bei unzähligen Influencern auf Instagram.
2002 machte Hikmet Sugoer im Herzen von Westberlin seinen Sneakerladen „Solebox“ auf. Es gab weniger Auswahl, weniger Modelle als heute. Es war schwieriger, an sie heranzukommen. „Aber wenn man sie hatte“, sagt Sugoer, „war es etwas Besonderes.“ Heute gibt es eine globale Kollektion. Früher gab es Modelle für den amerikanischen Markt, für den europäischen Markt, Sneakers made in West Germany, Sneakers made in Yugoslavia.
Sugoer fuhr ins Umland von Berlin und klapperte Sportgeschäfte ab, um alte Bestände aufzukaufen. Er telefonierte sich durch den Senegal. Er bekam seine Hände an Modelle, die Adidas für den jugoslawischen Markt gemacht hatte. Sugoer trieb seltene Modelle auf, Connaisseurs kauften sie und dann sprach sich herum, welche Schuhe cool waren.
Mit den Herstellern zusammen arbeiten
Sugoer griff in die Politik der Hersteller ein – er untergrub ihr Marketing. Also arbeiteten sie mit ihm zusammen. Solebox wurde von Nike in eine Kategorie gesteckt: Tier Zero. Alle Hersteller gruppieren ihre Schuhe und Händler in eine Art Pyramide ein. Ganz oben hieß die Kategorie bei Nike Tier Zero, bei Puma The List: Superlimitierte, superwichtige, superseltene Schuhe, die gerne 280 Euro kosten, und die nur ein paar Dutzend Nischenstores weltweit verkaufen dürfen.
Je weiter nach unten man in der Pyramide kommt, desto häufiger sind die Schuhe und desto leichter findet man sie. Sugoer hatte in Deutschland den ersten Laden, der die Hersteller in ihre Topkategorie steckten. Und so kam er in den Genuss von Marketingaktionen der außerirdischen Art. 2009 feierte Reebok das 20-jährige Jubiläum von „The Pump“. Der Schuh war damals ein revolutionärer Basketballschuh, weil man mit Druck auf die Lasche Luftkissen im Inneren, genau, aufpumpen konnte.
Reebok machte dazu eine Werbung, in der zwei Bungeejumper von der Brücke springen, nur einer hatte den Pump an. Und nun raten Sie mal, welcher von beiden aus den Schuhen rutschte. Zum Jubiläum lud Reebok Sugoer und 19 weitere Schuhhändler aus aller Welt nach Boston ins Firmenquartier ein. Sie lernten den CEO kennen und wurden zu einem Spiel der NBA eingeladen. Dann überlegten sie gemeinsam: Wie können wir das Jubiläum zelebrieren? Am Ende stand ein Konzept: 20 Versionen des Jubiläumsschuhs, einen pro Laden.
Sugoer codesignte also einen Schuh und nahm ein Bungeeseil als Schnürsenkel. Sie feierten das Release mit einer Party. Für die großen Konzerne sind solche Aktionen Brand-Building. Sie machen das, um Fans das alte Gefühl wiederzugeben. Die Jagd. Den Hustle. Das Gefühl, sich einen Schuh verdienen zu müssen. Sie bringen limitierte Modelle heraus, Fans stellen sich vor Läden und warten nächtelang.
Aber ist das noch dasselbe? Hikmet Sugoer sagt: Die Hersteller sind gut darin, Hypes auszulösen. Aber sie machen das zu häufig. Die Pyramide ist stumpf geworden, sagt er. Es gibt wöchentlich limited releases. Es gibt Sneakerstores wie Sand am Meer. Es gibt immer mehr Hype-Schuhe, die sich immer ähnlicher werden. Immer mehr Leute sind bereit, verrückte Preise zu bezahlen.
„Nicht jeder sollte alles bekommen“, sagt Sugoer. Früher entstanden die Trends organisch, keiner hatte Kontrolle darüber. Jetzt, wo sich Hersteller dieses Mechanismus bemächtigt haben – kann man sie dafür verurteilen, dass sie so viele Trends wie möglich starten wollen?
Luxusmarken und Streetwear verschmelzen
Vor ein paar Jahren fiel die letzte Grenze. 2009 verpflichtete die Luxusmarke Louis Vuitton Kanye West, den einflussreichsten Rapper seiner Zeit, seine eigenen Sneaker zu designen. Das Aufeinandertreffen von Kanye West und Vuitton wirkt auf den ersten Blick unfassbar, doch es folgte einer Logik. West stand für Menschen, die Street Wear tragen, die aus ärmeren Verhältnissen kommen, eine materialistische Klientel, für die Luxusmarken ein unerreichbares Statussymbol darstellten.
Street-Wear-Marken fingen an, die Luxusmarken zu imitieren. Stussy, eine kalifornische Skatermarke, ahmte bei ihrem Logo, zwei ineinander verschränkten S, das Logo von Chanel nach. Kanye West wollte sein Leben lang teure Klamotten tragen, konnte sie sich aber lange Zeit nie leisten. Und dann arbeitete er mit Louis Vuitton zusammen. Kanye West riss Grenzen ein. Street Wear wurde High Fashion. Mittlerweile gibt es Sneaker von Givenchy, Balenciaga, Dior, Dolce & Gabbana und, und, und.
Die ersten von West designten Schuhe kosteten an die 1.000 Euro und waren sofort ausverkauft. Als Resale, auf dem Wiederverkaufsmarkt, werden sie heute für hohe vierstellige Summen gehandelt. Mittlerweile hat er über 30 Modelle designt, für Louis Vuitton, Nike, Adidas.
Wann platzt die Blase?
Der Sneaker-Hype zeigt mittlerweile alle Anzeichen einer Blase. Limited Releases gibt es nicht mehr ein paarmal im Jahr wie früher, nicht mehr einmal im Monat wie vor nicht allzu langer Zeit, sondern ungefähr jede Woche. Immer weniger Läden lassen sogenannte „Camp-outs“ zu, also das Zelten vor dem Laden. Denn dort tauchen immer mehr „Reseller“ auf, Leute also, die seltene Schuhe direkt weiterverkaufen. Eine Blase, so definieren das Ökonomen, ist dann erreicht, wenn ein Gut deutlich mehr kostet, als es an Gebrauchswert hat.
An einem sonnigen Tag Mitte November kommen die neuen Schuhe von Kanye West in Berlin auf den Markt. Der Adidas Yeezy Boost 350 V2, 220 Euro, ein Schuh, der aussieht wie ein Schlauchboot, über das man ein Zebrafell gezogen hat. Der Yeezy wird hier in Kreuzberg, im Sneakergeschäft „Overkill“, als „In-Store Release“ veröffentlicht. Leute müssen also früh genug vor dem Erscheinungsdatum auftauchen und sich in Listen eintragen.
Als im April 2015 die zweiten Adidas Yeezy von West veröffentlicht wurden, standen in Berlin-Kreuzberg an die 100 Leute an, sie putzten sich draußen die Zähne, sie campten vor dem Laden. An diesem sonnigen Novembermorgen, eine Stunde vor Öffnung des Ladens, stehen vier Leute vor der Tür.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball