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Die Exilanten Zwei Generationen, zwei unterschiedliche Biografien: Aber eins haben Demir Küçükaydın und Rezan Aksoy gemein. Sie sind in der Türkei geboren und leben heute im deutschen Exil. Küçükaydın saß wegen politischer Aktivitäten 10 Jahre in Haft. Aksoy arbeitete als Theaterregisseur, bis gegen ihn ermittelt wurde. Ein Treffen in Berlin„Wir lasen noch Marx, die Jugend heute liest Nietzsche und sagt, sie sei links“

Interview Volkan AğarFotos Ksenia Les

taz: Herr Küçükaydın, wie viele Putsche haben Sie schon miterlebt?

Demir Küçükaydın: Lassen Sie mal zählen: 1960, 1971, 1980, die Putschversuche 1961 und 1963, dann gab es einen sogenannten „postmodernen Putsch“ 1997. Zuletzt haben wir drei weitere erlebt: Erdoğan hat nach den Wahlen vom 7. Juni 2015, als es die HDP ins Parlament geschafft hatte, faktisch geputscht. Gegen diesen Putsch Erdoğans gab es dann im Juli 2016 einen zweiten Putsch – ob er nun kontrolliert war oder nicht –, der scheiterte. Dann kam der dritte Putsch, den Erdoğan seit dem Scheitern des Letzteren vollzieht. Also ich glaube, mit den Putschversuchen zusammen sind das neun? (lacht)

Und seit wann leben Sie im Exil?

Kücükaydın: Als der Putsch von 1980 stattfand war ich in der Türkei, aber im Gefängnis. Insgesamt 10 Jahre lang. Anfang 1984 kam ich frei. Als mich daraufhin das Militär einzog, bin ich nach Europa geflohen.

Wieso waren Sie im Gefängnis?

Küçükaydın: Ich war politisch aktiv. Mein Vater war Sozialist, einer der Gründer der Türkischen Arbeiterpartei in der Stadt Soma. Er gab mir Schriften von Çetin Altan zu lesen, sein Name war quasi synonym mit dem Sozialismus. Mit 19 oder 20 habe ich dann eine Entscheidung getroffen: Ich will als Revolutionär leben. Genauso wie Mönche, die sich entschließen, in ein Kloster zu gehen. Ich wollte mein ganzes Leben den Unterdrückten und ihrer Emanzipation widmen. In der letzten Klasse der Oberstufe schloss ich mich der Türkischen Arbeiterpartei in Izmir an.

Das hört sich aber noch nicht so revolutionär an …

Küçükaydın: Der wichtigste Wendepunkt in meinem Leben kam später, während meiner Zeit an der Istanbul Universität. Es gab einen Ort dort, der hieß „Unter der Platane“. Eines Mittags saßen dort Deniz Gezmiş und seine Freunde.

Deniz Gezmiş – einer der prominentesten Mitglieder der türkischen 68er Bewegung …

Küçükaydın: Ja, bei ihm saß ein Freund von mir, den ich aus Izmir kannte. Er rief mich zu ihnen. Sie organisierten einen Protestmarsch von Samsun nach Ankara und fragten, ob ich teilnehmen will. Ich sagte: „Ja, klar, ich laufe mit.“ Das waren große Sozialisten, die in der 68er Studentenbewegung von sich Reden gemacht hatten. Mit ihnen schloss ich mich dem Revolu­tio­nären Studentenverband an und später wurde ich Teil der Bewegung „Dev-Genç“. Dann ging ich auch für viereinhalb Monate nach Palästina, um Guerillakampf zu erlernen.

Die 1965 gegründete linksradikale Jugendorganisation Dev-Genç wurde 1971 verboten. War das der Grund, warum Sie ins Gefängnis kamen?

Küçükaydın: Nach dem Putsch am 12. März 1971 wurde ich verhaftet und saß ein paar Monate im Gefängnis, weil ich in leitender Position der Dev-Genç war.

Sie sprachen doch von 10 Jahren Gefängnis …

Küçükaydın: Ja, später wurde ich zu 100 Jahren verurteilt, weil ich eine Zeitung herausgegeben hatte, die Kıvılcım (Funke) hieß. Ich habe nur sechs Ausgaben geschafft. Die hundert Jahre haben sie später auf 17 verkürzt, damit es nicht ganz so peinlich ist. Beim Versuch, einen Tunnel aus dem Gefängnis zu buddeln, wurde ich erwischt und meine Strafe nochmals verschärft. Nach 10 Jahren Haft kam ich aber frei, wegen einer Bestimmung im Vollstreckungsrecht. Als ich rauskam, floh ich erst nach Frankreich, von dort dann nach Deutschland.

Haben Sie in Deutschland weitergemacht mit Politik?

Küçükaydın: In Deutschland beschäftigte ich mich mit den Kämpfen von Migranten. Und als in den 1990ern das türkische Kriegsregime verschärft gegen die Kurden vorging, konzentrierte ich mich auf die kurdische Bewegung. Ich schrieb für kurdische Zeitungen wie Özgür Gündem, Özgür Politikia oder Yeni Gündem. Seit den letzten Jahren unterstütze ich die prokurdische, linke HDP und HDK.

Wie war es für Sie, ins Exil zu gehen?

Küçükaydın: Schwer. Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit 35 Jahren nach Europa, davor waren Sie Teil der revolutionären Bewegung in der Türkei, haben sich dort einen Namen gemacht. Hier kannte mich niemand. Ich kannte die Sprache nicht, keinen Weg, nichts. Ich fühlte mich wie ein neugeborenes Kind. Wenn Sie die Sprache nicht gut können, interpretieren das die Leute so, als wüssten Sie gar nichts. Und Sie verlieren Ihr Selbstvertrauen.

Und wie haben Sie Ihren Lebensunterhalt gesichert?

Demir Küçükaydın und Rezan Aksoy

Demir Küçükaydın, 68, geboren in Balıkesir, war Teil der revolutionären Studentenbewegung in der Türkei. Wegen politischer Aktivitäten saß er 10 Jahre in Haft. Nach seiner Freilassung floh er Mitte der 1980er Jahre nach Frankreich, später nach Deutschland. Er hat verschiedene theoretische und politische Bücher verfasst. Heute kommentiert er das politische Geschehen regelmäßig auf seinem Blog demirden-kapilar.blogspot.de.

Rezan Aksoy, 32, geboren im kurdischen Mardin, studierte Bühnenkunst in Izmir und arbeitete als Theaterregisseur. Er engagierte sich zudem beim Verein „Brücke der Völker“, der sich u. a. für Geflüchtete in der Türkei einsetzt. Im November 2016 kam Aksoy nach Berlin, um Vorträge zu halten. Als die türkische Polizei dann gegen ihn ermittelte, entschied er, in Deutschland zu bleiben. Aksoy sieht sich als Teil der kurdischen Bewegung.

Küçükaydın: Ich habe im Exil immer von der Hand zum Mund gelebt. Ich habe geputzt, war 15 Jahre lang Taxifahrer. Später wurde ich Rentner, wegen gesundheitlicher Beschwerden.

Herr Aksoy, Sie sind 36 Jahre jünger als Herr Küçükaydın, was fühlen Sie, wenn Sie ihm zuhören?

Rezan Aksoy: Diese Geschichten von früher kommen mir bekannt vor. Und ich kann das teils auch nachvollziehen, weil ich auch ganz frisch hier bin. Ich habe in Izmir an zwei verschiedenen Theatern als Regisseur gearbeitet. Dann kam ich hier her, geplant war nur ein kurzer Aufenthalt, aber dann musste ich alles zurücklassen. In Izmir und Istanbul hatte ich ein großes soziales Umfeld. Man wusste voneinander, von welcher Theatertradition man kam, von welcher politischen Strömung. Dann bin ich auf einmal hier, obwohl ich nicht bleiben wollte.

Wie ist das passiert?

Aksoy: In Izmir habe ich neben meiner Arbeit am Theater in einem Verein namens „Brücke der Völker“ gearbeitet, unter anderem mit Geflüchteten. Eine Gruppe von der Berliner Alice Salomon Hochschule kam zu unserem Verein, um zu forschen. Ich habe den Kontakt zwischen ihnen und Geflüchteten betreut. Später luden sie mich ein, in Berlin einen Vortrag über das Verhältnis von Flucht und Kunst zu halten. Gleichzeitig wurde ich unter anderem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung eingeladen, einen Vortrag über die politischen Entwicklungen in der Türkei zu halten.

Wann war das genau?

Aksoy: Ich kam im November 2016. Während meines Aufenthalts durchsuchte die türkische Polizei meine Wohnung in Izmir und nahm Ermittlungen gegen mich auf. Dann entschied ich mich, hier zu bleiben. Ich beantragte Asyl und bekam einen positiven Bescheid.

Und nun?

Aksoy: Ich versuche, meine Theaterarbeit im kleinen Maßstab fortzusetzen, ein Theaterkollektiv aufzubauen.

Und begegnen Sie ähnlichen Schwierigkeiten wie Herr Kü­çük­aydın vor über 30 Jahren?

Aksoy: Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Generationen des Exils: Viele, die heute kommen, sindUniversitätsabsolventen, ihr Englisch ist okay, viele von ihnen haben eine Möglichkeit gefunden, legal in Deutschland zu bleiben, mit Studienvisen oder Stipendien. Und diejenigen, die schon länger in Deutschland sind, helfen ihnen dabei, den ersten Schock des Exillebens zu überstehen. Bemerkenswert ist aber, dass viele Neuankömmlinge Vorurteile gegenüber jenen haben, die früher als Exilanten gekommen sind oder als sogenannte Gastarbeiter.

Um welche Vorurteile geht es denn?

Aksoy: Die Neuankömmlinge denken von den Alteingesessenen, dass sie alle vom Land kämen, religiös und ungebildet seien und eine Art von neuem, besonderem Türkentum für sich kreiert hätten. Die Alteingesessenen wiederum haben auch Berührungsängste: Sie haben Angst, dass dieNeuankömmlinge die politischen Probleme der Türkei nach Deutschland bringen könnten.

Ist diese Angst Ihrer Meinung nach berechtigt?

Aksoy:Die neue Generation von ExilantInnen, also meine, hat vor allem ein Problem: Gehen wir in den tagtäglichen, praktischen Problemen des Exillebens unter? Oder halten wir zusammen und schaffen eine starke Rückwirkung von hier aus? Es gibt viele Menschen hier mit großen Potenzialen: Akademiker, Künstler, Journalisten. Schaffen wir es, gemeinsam mit der alten Diaspora eine neue, starke Diaspora zu erschaffen?

Küçükaydın: Ich beobachte die neuen Exilanten hier in Berlin. Und manche von ihnen habe ich vorsichtig gewarnt. Sie sind frisch hier und sie haben gewisse Vorteile, Englischkenntnisse und Netzwerke wie Herr Aksoy es eben gesagt hat. Das sind die Besonderheiten des neuen Exils. Andererseits behandelt sie Deutschland vielleicht auch aus politischen Motiven gut, empfängt sie besser als uns damals. Das muss nicht so weitergehen. Was ist wenn Aufenthaltsgenehmigungen auslaufen? Was ist in fünf oder zehn Jahren?Aksoy: Das stimmt. Deswegen müssen wir uns gut vernetzen und organisieren.

„Ich mache Theater, keine Politik. Aber Theater ist politisch. Brecht hatte auch so ein Verständnis“

Rezan Aksoy

Herr Aksoy, das machen Sie ja bereits. Sie sind erst seit wenigen Monaten hier, sind aber schon im kurdischen Verband HDK und bei der Linkspartei aktiv.

Aksoy: Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich bade mich in Melancholie und klage über meine Exilexistenz. Oder ich sage mir: Es ist egal, wo ich bin, es kommt darauf an, was ich mache. Es gibt keinen Luxus, der erlaubt, rumzusitzen und über die Welt zu klagen. Die Realität schlägt einem ins Gesicht.

Prägt diese Haltung auch Ihr Verständnis von Theater?

Aksoy: Ich bin politisch aktiv, aber kein Politiker. Ich bin Theatermacher. Und Theater ist auch politisch. Vielleicht klingt es ein bisschen romantisch, aber: Wir sind hier in der Heimat von Bertolt Brecht. Er hatte auch so ein Verständnis von Theater.

Wieso haben Sie sich entschieden, in Berlin zu bleiben? Wieso keine andere Stadt?

Aksoy: In Berlin habe ich während meines Aufenthaltes viele Menschen kennengelernt. Es war strategisch klug, hier zu bleiben. Aber gleichzeitig ist Berlin das politische und künstlerische ZentrumDeutschlands. Es ist kosmopolitisch, wie eine kleine Welt. Und diese Stadt spiegelt auch den Durchschnitt der Gesellschaft in der Türkei ganz gut wider. Beim Referendum ähnelten die Ergebnisse in Berlin jenen in der Türkei sehr. Wenn man wissen will, wie in der Türkei gewählt wird, kann man auf Berlin schauen. Die Dynamiken in der Türkei sind auch hier in ähnlicher Form wahrnehmbar. Wenn man auf andere europäische Städte schaut, ist das anders.

Gefällt Ihnen Berlin auch so gut, Herr Küçükaydın?

Küçükaydın: Ich mache jeden Tag einen Spaziergang am Landwehrkanal. Es ist wie im Paradies dort. Viele junge Menschen, die viele verschiedene Sprachen sprechen. Man denkt sich: Wäre die Welt überall so wie hier, dann wäre alles gut. Das politische Leben ist sehr lebendig hier, auch unterTürkeistämmigen. Berlin ist ein Ort, an dem man sich gut weiterentwickeln kann. Auch wenn ich schon zu alt dafür bin.

Verstehen Sie die neue Generation?

Küçükaydın: Ich bin in einerganz anderen Zeit aufgewachsen. In den 60ern, als die revolutionären Bewegungen im Aufschwung waren, habe ich meine Kindheit erlebt. Eine Zeit, in der die Sowjetunion Juri Gagarin in den All schoss. Der Vietnamkrieg, die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, die globalen Unabhängigkeitsbewegungen. Ich wurde von so einer Welt geprägt. Die heutige Generation wächst in einer Welt auf, in der der Sozialismus offiziell als gescheitert gilt. Eine Welt, in der verschiedene andere Ideologien kursieren.

Worin macht sich der Unterschied bemerkbar?

Küçükaydın: Bei den Gezi-Protesten zum Beispiel. Dort gab es eine große Unlust bei den jungen Menschen, Entscheidungen zu treffen. Unsere Generation hatte andere Probleme. Wichtig war es, sich zu organisieren. Wir haben Marx gelesen und haben versucht, einen Begriffsapparat zu entfalten, mit dem wir die Welt verändern konnten. Dieser Marxismus mag ein falscher oder richtiger gewesen sein. Aber heute zitieren junge Menschen Nietzsche und sagen von sich, sie seien links. Es gibt einen schrecklichen Eklektizismus. Einen anderen Blick auf die Welt, den ich nicht ­verstehe. Und doch kommen wir uns bei manchen Fragen sehr nahe.

Demir Küçükaydın „Mit 19 habe ich eine Entscheidung getroffen: Ich will als Revolutionär leben. Genauso wie Mönche, die sich entschließen, in ein Kloster zu gehen. Ich wollte mein ganzes Leben den Unterdrückten und ihrer Emanzipation widmen“

Herr Aksoy, würden Sie dem zustimmen?

Aksoy: Es gibt eine andere Denkweise heute, das ist richtig. Wir leben in einer Gesellschaft mit ganz anderen technischen Möglichkeiten. Das hat auch die Kommunikation verändert. Ich finde aber, dass wir von unseren älteren Genossen und Freunden viel lernen können. Alles, was wir von ihnen aufschnappen können, ist ein Zugewinn. Aber natürlich hat meine Generation ihre eigenen Codes. Es stimmt, dass wir uns nicht immer verstehen, dass wir gar miteinander ringen. Wenn wir immer offen zueinander wären, dann würden wir auch streiten.

Küçükaydın: Ist das eine Drohung? (lacht)

Aksoy: Nein, das ist nicht persönlich gemeint. Aber wir sind ebenanders. Ihr habt einen anderen Blick. Es gibt immer noch ältere Menschen im linken Milieu in der Türkei, die sagen, Alkohol schade der politischen Arbeit. Die neue Generation kümmert sich nicht darum. Sie sagt: „Das ist nicht unser, sondern euer Problem.“

Herr Aksoy, lesen Sie die Texte von Herr Küçükaydın?

Aksoy: Ich weiß, dass er seit ein paar Wochen nicht mehr publiziert hat. Ich kann nicht sagen, dass ich alles gelesen habe. Aber ich kann sagen, dass er gut schreibt.

Küçükaydın: Ich schreibe viel. Aber das ist nicht dasselbe wie gut. (lacht)

Aksoy: Ja, ich lese Ihre Schriften, vielleicht bin ich eine Ausnahme. Es ist ein Problem unserer Generation, dass sie Informationen nur noch kompakt verpackt aufzunehmen bereit ist. Twitter oder Wikipedia, alles muss schnell gehen. Ob das gut oder schlecht ist, kann man diskutieren.

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