Die Deutschen und der Krieg: Das Monster im Raum
Einst konnten sie gar nicht genug von ihm bekommen, dann verdrängten sie ihn gründlich. Wie der Krieg dann doch wieder über die Deutschen kam.
Es waren solche ganz realen Horrorbilder, die ich vor sieben Jahren in einer Rezension zu einem Buch über die Ardennenschlacht 1944 zitierte; und selten habe ich bei einer taz-Konferenz so viel kopfschüttelndes Unverständnis geerntet: Warum ich nun ausgerechnet ein abseitiges Ereignis wie ein winterliches Gemetzel am Ende des Zweiten Weltkriegs zum Thema einer ganzen Seite machte.
Der Krieg und seine Schrecken, sie waren sehr weit weg im Berlin des Jahres 2017. Man machte sich ein wenig altmodisch-lächerlich, wenn man – weil zwar als Nachgeborener, aber eben doch verwandtschaflich in die Sache verwickelt – an sie erinnerte. Einer, der immer die Bedeutung des Friedens als Hauptverdienst der europäischen Einigung betont hatte, Helmut Kohl, starb in diesem Jahr. Wie sich überhaupt die Generation, die den Weltkrieg noch erlebt hatte, peu à peu verabschiedete.
Dass der Krieg da allerdings längst auf die auch europäische Bühne zurückgekehrt war, belegte der Prozess gegen Ratko Mladić. Am 22. November 2017 verurteilte das UN-Kriegsverbrechertribunal in seinem letzten Völkermordprozess zum früheren Jugoslawien den damaligen bosnisch-serbischen Militärchef wegen Kriegsverbrechen, unter anderem für das Massaker von Srebrenica 1995, zu lebenslanger Haft.
Alles Militärische in Parallelgesellschaft
Fast genau vier Jahre nach meinem Artikel über den Horror des realen Krieges sprachen der taz-Kollege Daniel Schulz und ich über unser Aufwachsen unter Soldaten des sogenannten Kalten – des Gott sei Dank nie offen ausgebrochenen – Krieges: er im Osten als Kind eines NVA-Offiziers, ich im Westen als Sohn eines Bundeswehrjuristen. Das zweiseitige Interview schaffte es nicht zum Titel, es war Coronazeit, und die Schlagzeile lautete „Die Verschwörungsindustrie“. Wir wunderten uns nicht zu sehr drüber, auch weil wir viele Rückmeldungen auf unser Gespräch bekamen – allerdings ausschließlich von Menschen, die selbst in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen waren.
Seitdem wissen wir, wie viele taz-Kollegen Väter im Generalsrang haben; und wir erfuhren im Allgemeinen, wie alles Militärische in der Bundesrepublik in eine Art Parallelgesellschaft verwiesen worden war, in der sich die ihr zugehörigen Menschen – ob Aktive oder Verwandte – mehr oder weniger schicksalsergeben eingerichtet hatten.
Deutschland wollte Helme schicken
Das war im März 2021. Wiederum ziemlich genau ein Jahr später, am 24. Februar 2022, begann der russische Überfall auf die Ukraine. Die offizielle deutsche Reaktion auf diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg war immerhin schon vorab erfolgt. Die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte am 22. Januar auf dringende Warnungen der ukrainischen Regierung vor einem russischen Einmarsch mit der Zusage einer Lieferung von 5.000 Schutzhelmen reagiert.
Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, geografisch, historisch und intellektuell deutlich näher dran am Geschehen als Lambrecht, kommentierte das wörtlich und sehr verständlich, nämlich auf Deutsch: „Das ist ein Witz. Das muss ein Witz sein.“
In dem Gespräch mit Daniel hatte ich auf die Frage, was von meinem Aufwachsen geblieben sei, geantwortet: „Wenn ich sehe, die Politik schickt Soldat:innen in den Krieg und die Ausrüstung ist nicht adäquat, dann denke ich: So etwas macht man nicht. Dann lasst es mit der Armee. Da habe ich ein starkes, mir unheimliches Kameradschaftsgefühl.“
Intellektueller Totalausfall
Lambrechts Move war allerdings dermaßen grotesk, dass ich durch ihn ein sehr klares, solidarisches Gefühl für die Lage der Ukraine entwickelte: Eine Lage, die eben nicht zuletzt deswegen so fatal war, weil ein potenziell wichtiger Partner, wenn nicht Verbündeter der Ukrainer:innnen, die Bundesrepublik Deutschland, intellektuell, emotional und personell ein Totalausfall war – fast.
Ein Helm war nämlich schon im Wahlkampf 2021 für ein schlagzeilenträchtiges Bild gut gewesen. Ende Mai 2021 hatte Robert Habeck ein zerstörtes Dorf in der Ostukraine besucht, sich sehr zivil hockend mit Schutzweste und Helm abbilden lassen und gesagt, Waffen zur Verteidigung, also Defensivwaffen, könne man der Ukraine „schwer verwehren“.
„Kriegsgeile“ Grüne
Trotz Habecks frühem und klarem Blick auf die Lage – erwartet man eigentlich nicht eben das von einer politischen Führungsfigur? – wurde das Bild zur negativen Ikone. Es war der Beginn der Kampagne gegen die ‚kriegsgeilen‘ Grünen. Und ob das nun individuell aus Angst oder Egoismus, aus Kalkül oder Dummheit, zur Selbstberuhigung oder schlicht aus Bosheit geschah – das Hufeisen von linken wie rechten Realitätsverweigerern, moralischen Defätisten und unmittelbar vom Putinregime Korrumpierten hatte sich Habeck, den Grünen sowie allen, die aus einer antifaschistischen Grundhaltung heraus sich der Ukraine nah fühlten, damit fest um den Nacken gelegt.
Klassisch war die Kommentierung des damaligen Chefs der damaligen Noch-Fraktion der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch: „Robert Habeck hat sich da total vergaloppiert. Sich als deutscher Parteichef mit Stahlhelm in der Nähe der russischen Grenze ablichten zu lassen, ist angesichts unserer Geschichte unangemessen, für einen Grünen-Parteichef geradezu grotesk.“
Persönliche Aufarbeitung des Jugoslawienkriegs
Auf diesen rhetorischen Trick, der weiß Gott nicht nur Bartsch einfiel, fiel ich nun allerdings nicht mehr rein. Dass die deutsche Nazivergangenheit bedeute, man dürfe sich nicht vor russischen Snipern schützen, wenn man das Territorium eines souveränen Staats besuche: Darauf musste man als ehemaliger Bürger eines Staates, Mitglied von dessen Staatspartei und Soldat seiner Nationalen Volksarmee, die tatsächlich mal an einem Überfall auf ein Nachbarland beteiligt war, nämlich dem der Warschauer-Pakt-Staaten auf die Tschechoslowakei 1968, erst mal kommen.
Vor allem aber hatte ich meine ganz persönliche Aufarbeitung des Jugoslawienkriegs hinter mir. Die zentrale Lehre, die mir von Betroffenen aus Bosnien und Kroatien mit großer Geduld vermittelt worden war, lautete: Hör auf, dich als Deutscher selbst zu bemitleiden. Hör auf, linke Pseudolehren aus den Morden der Vergangenheit ziehen zu wollen, die in der Gegenwart neues Morden erst ermöglichen. Fang an hinzuschauen und wahrzunehmen, was vor deinen Augen geschieht.
Opfer Serbien zum Täter Serbien
Eben dazu war ich während der Jugoslawienkriege nicht fähig gewesen. Dass aus dem Opfer Serbien der Täter Serbien hatte werden können, aus dem im Zweiten Weltkrieg von Deutschen Überfallenen der chauvinistische Aggressor: Das überstieg nicht nur meine Vorstellungskraft, sondern schlicht auch meine Bereitschaft, mich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen und empathisch zuzuhören, was die Menschen, die die serbische Aggression erlebten, zu sagen hatten.
Ich habe heute fast täglich mit Menschen zu tun, die der russischen Aggression mit der gleichen Beschränktheit, der gleichen Hemmung begegnen wie ich einst der serbischen. Und ich versuche die gleiche Geduld zu bewahren, von der ich einst profitieren konnte.
Die polnische Erfahrung
Dabei hilft mir auch eine andere Erfahrung, die schon angeklungen ist – die polnische. Es ist unmöglich, sich mit Polen über die Vergangenheit zu unterhalten, ohne über die Polnischen Teilungen zu reden, die zum mehrmaligen Verschwinden des polnischen Staates geführt haben. Die letzte, die vierte Teilung ist noch gar nicht so lange her, es leben noch Menschen, die sich an sie erinnern können.
1939 teilten Russland und Deutschland sich Polen auf, einvernehmlich und mit militärischem Zeremoniell: Mein Großvater, der Pionierhauptmann Johann Waibel, war an der Demarkationslinie dabei (siehe Foto). Polen war das erste Opfer des Zweiten Weltkriegs; und man muss nicht im entferntesten die sowjetische Okkupation (die sich dann 1945 fortsetzte) mit der der Nazideutschen gleichsetzen, um dennoch genau hinzuhören, wenn Polen vor Russlands Imperialismus warnen – und das schon lange vor dem Angriff auf die Ukraine.
Für mich gibt es – und vielleicht war der hier skizzierte Erfahrungsverlauf zum Nachvollziehen hilfreich – deswegen nur eine Leitlinie, was den Widerstand der Ukraine angeht: Wir müssen ihn unterstützen, solange das ukrainische Volk ihn leisten kann und will beziehungsweise in freier Selbstbestimmung darüber entscheiden kann: Voraussetzung dafür ist der bedingungslose Abzug der russischen Okkupanten und Entschädigung für die von ihnen angerichteten Verwüstungen.
Whatever it takes
Unterstützung bedeutet, mit den Worten Mario Draghis zur Eurorettung: Whatever it takes. Und nicht zuletzt eben mit modernen Waffen, die die personelle Unterlegenheit ausgleichen und ganz konkret Leben retten. Dass die Herkunft des dafür nötigen Geldes im dauernden Klassen- wie im aktuellen Wahlkampf umstritten ist und vor allem von denen aufgebracht werden müsste, die es sich leisten könnten, ist offensichtlich, ändert aber nichts an der Tatsache, dass die derzeitige Unterstützung der Ukraine gering ist „im Vergleich zu dem, was ein möglicher Sieg Russlands im Angriffskrieg auf die Ukraine Deutschland kosten würde“, wie das Institut für Weltwirtschaft Kiel aufgezeigt hat.
Ich finde, dass wir uns das tatsächlich als insbesondere westdeutsche Nazinachkommen schuldig sind. Sind es im Westen eher Denkfaulheit und allgemeine Abneigung gegen Ereignisse, die einen irgendwie aus dem Wohlstandstrott herausreißen könnten, die den militärischen Widerstand der Ukrainer:innen gegen das mafiös-faschistische Putinregime nicht würdigen und adäquat unterstützen können, so mag man dem Osten eine gewisse geschichtliche Erschöpfung zugute halten: eine Stimmung, die von AfD-Nazis, den Bauernfängern der Wagenknecht-Kader und dem Generalsekretär der SPD, Matthias Miersch, nur zu gern bedient wird.
Aber wie im Spanischen Bürgerkrieg, als die Demokratien allerdings damit scheiterten, dem Guten – oder jedenfalls dem Besseren – zum Sieg gegen den Faschismus zu verhelfen, muss die Devise, ob in Kyjiw oder in Hannover, gegen die Putinisten lauten: No pasarán!
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