: Die Aufstachler
EXTREMISTEN Das Bundesinnenministerium verbietet das Salafistennetzwerk „Die Wahre Religion“. Die Gruppe verschenkte den Koran und rechtfertigte Anschläge. Anhänger schlossen sich selbst dem Terror an
Aus Berlin Sabine am Orde undKonrad Litschko
Noch vor wenigen Tagen stand Ibrahim Abou-Nagie wieder in einer deutschen Einkaufspromenade und verteilte kostenlos den Koran, neben sich junge Mitstreiter. Was er denn zum IS sage, fragte eine Passantin. Abou-Nagie antwortete: „Wir haben damit gar nichts zu tun.“ So viel aber sei klar: Europa versuche, die Muslime auszubeuten und zu diffamieren. „Ihr zerstört unsere Länder.“
Die Szene ist auf einem Video von Abou-Nagies Verein „Die Wahre Religion“ festgehalten. Es ist das letzte, das der Verein online stellte, noch am Montag. Am Dienstagmorgen rückten bundesweit Polizisten aus. 190 Durchsuchungen führten sie in zehn Bundesländern durch, darunter in zwei Moscheevereinen. Schwerpunkt war Hessen: Dort gab es 64 Razzien. Festnahmen gab es keine. Dafür wurden Handys und Festplatten beschlagnahmt, vereinzelt auch Messer. Am Ende wurde auch die Website des Vereins abgeschaltet. Anlass des Einsatzes: Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte zuvor den Verein verboten.
„Mit der Koranübersetzung in der Hand werden Hassbotschaften und verfassungsfeindliche Ideologien verbreitet“, begründete de Maizière (CDU) das Verbot. Der salafistische Verein erkläre die Ablehnung der Demokratie zur Pflicht für jeden Muslim und schaffe ein Rekrutierungsbecken für dschihadistische Islamisten. Mindestens 140 Aktivisten seien in den vergangenen Jahren nach Syrien und Irak ausgereist. Mit angeblicher Religionsfreiheit habe dies nichts mehr zu tun, sagte de Maizière. „Hier setzt der Rechtsstaat ein klares Zeichen.“
2005 hatte Abou-Nagie sein Netzwerk „Die Wahre Religion“ gegründet. Anfangs konzentrierte er sich noch auf Vorträge, später schwenkte er auf die „Lies!“-Kampagne mit den Informationsständen um. Mehr als 3,5 Millionen Gratis-Korane will er seitdem verteilt haben. Allein in Nordrhein-Westfalen soll es im vergangenen Jahr 350 Stände gegeben haben.
Bundesweit existierten 60 „Lies!“-Ableger mit über 500 Anhängern. Zielgruppe waren junge Nichtmuslime. An Interessenten wurden kostenlose „Starterpakete“ verschickt – Gebetsteppich und Koran inklusive.
Dass sich Abou-Nagie und seine Gefolgsleute vom IS distanzierten, halten die Sicherheitsbehörden für ein „taktisch motiviertes Lippenbekenntnis“. Das Netzwerk habe wiederholt Anschläge damit entschuldigt, der Islam müsse verteidigt werden, heißt es in der Verbotsverfügung. Es sei ein „Magnet für dschihadistische Islamisten“.
So bewegte sich einst in dem Netzwerk auch der Berliner Rapper Denis Cuspert, der später ein führender IS-Propagandist wurde. Oder der Ennepetaler Ahmet C., der noch im März in Videos mit dem „Lies!“-Shirt posierte. Vier Monate später sprengte er sich im Irak in die Luft und riss 54 Menschen in den Tod. Auch die Verdächtigen für einen Anschlag auf einen Essener Sikh-Tempel im April sollen Kontakte zu der Kampagne gehabt haben.
Nach Angaben der Sicherheitsbehörden dienten die Razzien auch dazu, die Finanzströme des Netzwerks offenzulegen. Bis heute ist unklar, wie dieses seine Koran-Verteilungen finanziert. Durch Spenden deutscher Muslime, behauptet der Verein. Die Behörden vermuten dagegen Geldgeber aus Saudi-Arabien.
Abou-Nagie bezeichnete das Vereinsverbot in einer Mitteilung als „Irrsinn“. Es beweise „den ideologischen Kampf gegen den Islam“. Sein Verein teilte mit: „Liebe Geschwister, der Koran wurde verboten in Deutschland.“
De Maizière versucht genau diesen Eindruck zu zerstreuen. Ermittler hätten keine der Korane beschlagnahmt, betonte der Bundesinnenminister: „Das Verbot zielt nicht auf die Verbreitung des islamischen Glaubens oder die Verteilung von Koranen.“ Verboten werde vielmehr der Missbrauch dieser Religion. Auch Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) betonte: „Wer Hassbotschaften verbreitet, kann sich nicht auf die Religionsfreiheit berufen.“
Bundesinnenminister Thomas de MaiziÈrem, CDU
Die Islamismusexpertin Claudia Dantschke vom Berliner Verein Hayat begrüßte das Verbot, es komme indes „fünf Jahre zu spät“. Schon 2011, als ein Verbot des Vereins „Einladung zum Paradies“ des Salafistenpredigers Pierre Vogel diskutiert wurde, sei Abou-Nagies Gruppe „viel gefährlicher“ gewesen. Pierre Vogel aber habe die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dabei habe „Die Wahre Religion“ stets den Einsatz von Gewalt legitimiert, auch wenn sie dazu nicht öffentlich aufgerufen hat.
Seit gut einem Jahr hatten Bund und Länder nun an dem Verbot gearbeitet. Ziel sei es gewesen, dieses gerichtsfest zu bekommen, begründete de Maizière die lange Dauer.
Der Schlag am Dienstag reiht sich ein in mehrere Maßnahmen gegen Islamisten. Erst vor einer Woche hatte die Polizei fünf mutmaßliche IS-Anwerber festgenommen. Schon vor einem Jahr verbot de Maizière die Dschihad-Gruppe „Tauhid Germany“, ein Jahr zuvor die Verwendung aller IS-Insignien.
Gut möglich aber, dass sich die salafistische Szene nun wieder neu organisiert. Und auch die „Lies!“-Kampagne existiert weiter – im Ausland. Die zweite Meldung des Netzwerks am Dienstag war denn auch: ein Verweis auf ihren britischen Ableger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen