Deutschlands Silvesterknall: Nur der ganz normale Wahnsinn
Die Einsicht fällt schwer, dass wir hier in Deutschland einen Knall haben. Nicht die Böller sind das Problem, sondern deren Verkauf.
W ar was? Irgendwas wird schon gewesen sein. 4.000 Polizist:innen waren in der Silvesternacht im Einsatz, um die Hauptstadt – ach was, die Republik! – vor dem Untergang auf der Sonnenallee im berüchtigten Neukölln zu retten. Fast 400 Festnahmen in Berlin bis zum Neujahrsmorgen, annähernd viermal so viele wie bei der heiß diskutierten Krawallnacht vor einem Jahr, sprechen für sich, oder?
Die hohe Zahl der Festnahmen lässt sich einfach erklären: Wo viele Polizist:innen genau hinschauen, da finden sie einen Grund zum Eingreifen. Über die reale Dichte von Delikten sagt das nie etwas aus. Die war in der Berliner Silvesternacht offensichtlich sogar erstaunlich niedrig. Und das, obwohl wegen der durch den Nahostkrieg aufgeheizten Gemüter doch Schlimmeres zu erwarten gewesen war.
Die Liebhaber:innen der harten Linie, von Berlins Regierendem Bürgermeister bis hin zur Bundesinnenministerin, schienen zuletzt kaum noch in der Lage, auch nur einen Satz ohne „volle Härte“ und „durchgreifen“ formulieren zu können. Jetzt klopfen sie sich auf die Schultern, weil sie mit massivem Einsatz Ausschreitungen im Keim erstickt haben wollen. Vielleicht haben sie recht. Vielleicht nicht.
Belegen ließe sich beides nicht. Fest steht nur, dass es Krawallzyklen gibt. Orte und Termine, die einmal das Label „Randale“ bekommen haben, bleiben Attraktionen. Eine unausgesprochene Verabredung von Möchtegernrandalierern, Möchtemehrpolizeiforderern und Gaffern – zu denen auch die Presse gehört. Das geht über Jahre, bis alle müde sind. Oder sich ein anderes Date bietet.
Deutsche Leitkultur
Hintergrundforschung, die die Motive der Eskalierenden benennt – nicht um sie als sozial Abgehängte und rassistisch Ausgegrenzte zu entschuldigen, sondern um sie zu verstehen und so Ansätze für Lösungen zu finden –, ist wenig gefragt.
In Berlin muss man aber nicht einmal besonders tief forschen. Der Kern des Problems liegt auf der Hand. Was man hier sehen konnte und hören musste, war nicht mehr als der ganz normale Wahnsinn einer Silvesternacht. Wer Böller vertreiben lässt, darf sich nicht wundern, wenn es knallt. Die Eskalation und die explosive Grenzüberschreitung gehören zur deutschen Leitkultur wie Friedrich Merz zum Weihnachtsbaum.
Da fällt die Einsicht schwer, dass wir hier in Deutschland einen Knall haben. Dass Pyrotechnik faszinierend sein kann, wenn sie von Profis gezündet wird. Aber dass Feuerwerk niemals in die Hände von Besoffenen gehört. Ein Böllerverzicht könnte also endlich Ruhe bringen. Auch in die gesellschaftliche Debatte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu