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Deutsche Wunden

Der Vorlauf zur Debatte: Seit Jahrzehnten arbeitet Martin Walser am Phantasma eines kollektiven Körpers. Das jüdische Thema ist eingebunden in eine literarische Nationalisierung des Diskurses

Der Autor als Nationalreferent und sein Gegenüber: der jüdische Kritiker

von ELKE BRÜNS

Martin Walser hat seine Rolle in der zeitgenössischen Literatur einmal als die eines „Nationalreferenten“ bezeichnet – und sich damit selbstironisch auf ein ihn beleidigendes Missverständnis bezogen. Denn bereits in den Siebziger- und Achtzigerjahren hatte er die „nationale Frage“ aufs Tapet gebracht und damit die Teilung Deutschlands zu einer Zeit thematisiert, als dies angesichts der offiziellen Sprachregelungen und politischen Realitäten eher weltfremd scheinen musste. So forderte er 1977 in einer Rede, man müsse „die Wunde namens Deutschland offenhalten“. Der verletzte Körper Deutschland sollte nicht vernarben, nicht heilen – mit Wolf Biermanns Worten gesagt: „In diesem zerrissenen Land / Die Wunden wollen nicht zugehn / Unter dem Dreckverband“.

Zehn Jahre später griff Walser in seiner Novelle „Dorle und Wolf“ auf den aristophanischen Mythos der geteilten Kugelwesen zurück und ließ die Hauptfigur deutschlandpolitisch klagen: „Wir sind Halbierte.“ Walsers Verwendung des Körpers als politische Metapher bildete nicht nur eine bildlogische Kontinuität zu den Kugelwesen in Platons „Gastmal“, sondern auch zur deutschen Vergangenheit. Die ersehnte Wiedervereinigung des geteilten Landes wurde gleichsam als natürlicher Prozess eines heilenden Volkskörpers imaginiert.

Eine Wiedervereinigung allerdings unter einer Bedingung: „Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden.“ So hatte Walser schon 1979 die entsprechende Marschroute formuliert. Er stand auch hier in langer Tradition: Seit dem Humanismus haben Schriftsteller die Nation als imagined community (Benedict Anderson) mit herbeigeschrieben. Dabei entwarfen sie nicht selten Bilder des sozialen Körpers mit äußerst problematischen Konnotationen. Zwar geht das Bild des Kollektivkörpers bis ins alte Ägypten und in die Antike zurück, aber in Deutschland als der „verspäteten Nation“ (Plessner) gewann es als Sehnsuchtsbild eine besondere Qualität. Seine furchtbarste Ausprägung fand es im Nationalsozialismus, der den „gesunden Volkskörper“ seinen Feinden gegenüberstellte.

Walsers umstrittene Friedenspreis-Rede von 1998 setzte die body politics fort. Wieder überträgt der Autor ihm unliebsame Tatbestände – diesmal den neu aufflammenden Rechtsradikalismus – in ein Körperbild: „Die […] wollen uns weh tun, weil sie finden, wir haben das verdient.“ Die Aggressoren, um die es hier geht, sind erstaunlicherweise nicht etwa die Rechtsradikalen, sondern die darüber informierenden Berichterstatter. Konstruiert wird ein für seine geschichtliche Vergehen bestrafter Körper, der sich unter den „Schmerz erzeugenden Sätzen“ leidend erfährt. Walser forderte in dieser Rede angesichts der „Instrumentalisierung unserer Schande“ einen neuen Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust: „An der Disqualifizierung des Verdrängens kann ich mich nicht beteiligen. Freud rät, Verdrängen durch Verurteilung zu ersetzen. Aber soweit ich sehe, gilt seine Aufklärungsarbeit nicht dem Verhalten des Menschen als Zeitgenossen, sondern dem vom eigenen Triebschicksal Geschüttelten.“ Dass Walser hier einen Gegensatz sehen will, macht die Problematik seiner Texte aus.

Denn er schreibt dem Kollektivkörper eine Angstvision ein, die Jacques Lacan als „Fantasie des zerstückelten Körpers“ beschrieben hat. Es ist die Angst, ein als ganzheitlich, integral imaginiertes Ich könne wieder zerfallen. Die nationale Einheit wurde in Walsers Denken durch eine „unbewältigte Vergangenheit“ verhindert, das Bild der Nation mithin an die „Bewältigung“ derselben gebunden. Schon die schmerzhaften Sätze über den Rechtsradikalismus – als Strafe für die NS-Zeit gedeutet – bedrohen die physische Integrität des Kollektivs. Dieses Konstrukt muss zwangsläufig zur Abwehr der Vergangenheit führen, scheint diese doch die neu gewonnene Einheit zu gefährden. Solchermaßen wird die Vergangenheit, der Holocaust selbst zur Bedrohung der ersehnten Einheit.

Die Erfindung der Nation folgt einem historisch bewährten Muster: Die Konstruktion der „imaginären Gemeinschaft“ vollzog sich nicht selten über den imaginären Anderen, den Feind. Das den body politics implizite Spiel einer Verkörperlichung und damit Entsprachlichung der Zeichen verläuft nach kohärenten Regeln: Abgespalten als traumatisches Anderes zum eigenen Ich werden schließlich die physischen Repräsentanten des Anderen zur Bedrohung, die aggressiv abgewehrt werden müssen. In der Debatte zwischen Walser und Ignatz Bubis nach der Friedenspreis-Rede standen sich der Vertreter der neu gewonnenen Einheit ohne belastende Vergangenheit und sein intrapsychisch Anderer als Repräsentant der traumatischen Vergangenheit gegenüber.

Mit „Tod eines Kritikers“ scheinen die literarischen body politics auf ihrem eigensten Feld angekommen zu sein: der Autor als „Nationalreferent“, dessen Gegenüber der jüdische Kritiker ist. Wieder markieren Körper Differenz. Dabei verdecken die abfällige Charakterisierung des jüdischen Kritikers als alter, widerlicher Lüstling und die von Walser im Text schon als Skandalon antizipierte und ausgestellte Ermordung eines Juden – hier wurde das Antisemitische des Romans gesehen – geradezu die bedenkliche Nähe dieses Textes zur kulturhistorischen Konstruktion des jüdischen Körpers als des anderen Körpers.

Schon das Romanpersonal bildet in den widerspruchslos vorgetragenen Anklagen gegen den Kritiker – sogar die Mutter hat ihn immer schon gehasst, die Ehefrau selbst bezichtigt sich gar des Mordes – eine unangenehm einmütige Gemeinschaft. In einer Zukunftsfantasie wird das Thema des Romans – die Auslieferung der Autoren an den Medienbetrieb – unter biopolitischen Vorzeichen noch einmal surreal übersteigert. Die alterslose Menschheit – Stammzellen! – lebt in der „E-O-Kultur“ von „Ejakulation und Orgasmus“, deren Höhepunkt eine tägliche Literatursendung bildet: „Solche Event-Manegen gab es in allen Erdteilen. Aber die Großen Vier, die die gläserne Manege erfunden hatten, waren die Größten. Im Leiden und im Jubilieren. Der Aal war der unübertreffbare Meister in beiden.“ Dessen Körper ist – die Plattitüde liegt nahe – zur Messlatte literarischen Erfolgs geworden: „Der Aal ließ, während er litt oder jubilierte, sein Geschlechtsteil zoomen. Und was dann zu sehen war, war Wirkung von Literatur.“

Der leibhaftige Exzess des Sexuellen verdeckt, was diesen Körper charakterisiert: seine andersartige Physis. „Auch als man noch nicht jede Körperzelle in Stammzellen umwandeln konnte, hatte man schon Antiaging- Cells aus den Hoden der Drosophila gewonnen. […] Der Aal gehörte zu den ersten zehn Menschen, die die Antiagingcells noch von der Drosophila bezogen hatten. Schon deshalb ist er ein Heros der E-O-Kultur.“

Sind diese biomedizinischen Fantasien SF-Trash oder Back to Future? Im Roman sind es nur beiläufige Sätze über die genetische Abweichung einer im Hybrid aus Tier-Mensch entstandenen Minderheit und den Rest der Menschheit, der sich offenbar aus körpereigenen Zellen regeneriert und so seinen eigenen Stamm bildet. Von Juden ist in dieser Zukunftsvision übrigens keine Rede. Irgendwelche Assoziationen? Alles Wirkung von Literatur.

Dass Walsers „Tod eines Kritikers“ daraufhin gelesen wird, ob er antisemitisch sei, ist auch Resultat seiner jahrzehntelangen body politics – der imaginierenden Arbeit am Kollektivkörper – in Reden und Texten. Sie sind nicht jenseits der politischen Sphäre lesbar. Fortgesetzt wird – jenseits aller Debatten um die (un)ästhetischen Qualitäten des Textes – damit einmal mehr die Nationalisierung des Diskurses mit den Mitteln der Literatur. Und so findet man sich verblüfft in einer historischen Wiederholung wieder. In den Siebziger- und Achtzigerjahren, so der Literaturwissenschaftler Helmut Peitsch, haben insbesondere die gemeinhin in Deutschlandfragen als Antipoden wahrgenommen Autoren Martin Walser und Günter Grass zu einer Nationalisierung des Diskurses beigetragen – allerdings mit unterschiedlichen Zielrichtungen.

Während Walser die deutsche Einheit beschwor, setzte Grass auf die Kulturnation. Für beide Autoren meinte „die ‚deutsche Frage‘ niemals nur das Verhältnis der beiden deutschen Staaten“ zueinander, „sondern stets zugleich das zur nationalsozialistischen Vergangenheit“. So besehen setzt sich in jüngsten Debatten um Grass’ Roman „Im Krebsgang“, dem vorgeworfen wurde, Deutschland den Eintritt in die Opferkultur zu ermöglichen, und um Walsers unter Antisemitismusverdacht stehenden „Tod eines Kritikers“ die Nationalisierung des Diskurses fort: Die imaginäre Gemeinschaft wird nach der Wiedervereinigung neu herbeigeschrieben, neu debattiert und neu fantasiert. Die unterschwelligen Bilder, die der literarische Diskurs (re)aktiviert, zählen dabei zu den wirksamsten Mitteln.

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