piwik no script img

Deutsche Erinnerungskultur im WandelIm Dialog dekolonisieren

Kirsten Kappert-Gonther
Gastkommentar von Kirsten Kappert-Gonther

Die Bedeutung postkolonialer Kritik wächst. Das ermöglicht und erfordert eine kritische Weiterentwicklung der deutschen Erinnerungskultur.

Die deutsche Kolonialherrschaft und damit verbundene Verbrechen müssen kritisch aufbearbeitet werden Foto: akg images/picture alliance

O b und wie in postkolonialen Debatten israelbezogener Antisemitismus auszumachen ist, wurde in den vergangenen Wochen kontrovers diskutiert.

Dass diese Debatte jetzt breit geführt wird, liegt auch an der zunehmenden Bedeutung postkolonialer Kritik. Wurde die Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes über Jahrzehnte verdrängt, hat die Restitutionsdebatte in den vergangenen Jahren eine Tür geöffnet, durch die Stimmen postkolonialer Theoretiker*innen und Aktivist*innen vermehrt gehört werden. Das ist auch dem beständigen Engagement postkolonialer Initiativen zu verdanken, ohne welches das Bekenntnis zur „Aufarbeitung des Kolonialismus“ wohl kaum Eingang in den aktuellen Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD gefunden hätte.

Entgegen den Verlautbarungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist die Debatte über das Humboldt Forum und die Rückgabe von Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu Recht nicht bei einer „Sommerloch-Debatte“ geblieben. So hat der Restitutionsbericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr – eigentlich eine Handlungsempfehlung für den französischen Staatspräsidenten – auch in Deutschland hohe Wellen geschlagen.

Diese zunehmende Bedeutung des Postkolonialismus ermöglicht und erfordert eine Weiterentwicklung unserer Erinnerungskultur. Erinnerungskultur ist genuin dynamisch, sind die ihr zugrundeliegenden Narrative doch stets Gegenstand von Deutungskämpfen. Ein Wandel der Gesellschaft muss sich auch in einer Weiterentwicklung der Erinnerungskultur widerspiegeln. Gerade in einer Einwanderungsgesellschaft müssen wir der Frage nachgehen, wie aus vielen verschiedenen Perspektiven und Erzählungen ein gemeinsames Erinnern entstehen kann.

Bild: Thomas Trutschel
Kirsten Kappert-Gonther

ist Mitglied der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Als stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Kultur und Medien ist sie zuständig für die Aufarbeitung des kolonialen Erbes. Sie ist Vizepräsidentin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.

Fortwirken kolonialer Machtverhältnisse

Zweifelsohne muss die kritische Aufarbeitung der deutschen Kolonialherrschaft und der damit verbundenen Verbrechen eine bedeutendere Rolle einnehmen. Postkoloniale Asymmetrien können nur überwunden werden, wenn wir ein kritisches Bewusstsein über und einen Umgang mit unserem kolonialen Erbe schaffen. Demut und die Abgabe von Deutungshoheit der eurozentristischen Sicht sind dabei elementar.

Bei der fortgesetzten Suchbewegung nach einer angemessenen Erinnerungskultur ist das Sich-selbst-Hinterfragen ebenso elementar, wie Widerspruch konstruktiv aufzunehmen. Dekolonisierung kann nur im Dialog entstehen. Zu Recht weisen die Vertreter*innen des Postkolonialismus auf das Fortwirken kolonialer Machtverhältnisse in der Gegenwart hin; darauf, dass durch Kolonialismus und Imperialismus verfestigte Strukturen bis heute wirkmächtig sind.

Das Humboldt-Forum erinnert mit einer Skulptur von Sunkoo Kang an Kolonialismus Foto: David von Becker/shf/dpa

Der aktuell kritisierte Philosoph Achille Mbembe hat eindrücklich gezeigt, dass der Kapitalismus der Gegenwart und der Kolonialrassismus – also der durch das koloniale Projekt hervorgebrachte und dieses System gleichzeitig stützende Rassismus, der sich gegen People of Color richtet und sich nicht zuletzt in der rassistischen Polizeigewalt zum Beispiel in den USA äußert – aufs Engste miteinander verbunden sind. Die nun geäußerte Kritik bezieht sich aber eben nicht auf diese Erkenntnis. Vielmehr steht dabei der antisemitische Antizionismus innerhalb des postkolonialen Diskurses im Vordergrund, der sich unter anderem durch die Unterstützung der BDS-Bewegung äußert.

Die Verdienste des postkolonialen Diskurses werden in keiner Weise geschmälert, wenn wir festhalten: Die kritische Aufarbeitung des kolonialen Erbes und die Überwindung von Kolonialitäten brauchen nicht den Rekurs auf Israel. Die wiederkehrenden polemischen Versuche, Israel als „Siedlerkolonie“ oder „rassistischen Apartheidstaat“ zu delegitimieren und zu dämonisieren, sind historisch falsch und ihnen muss aufs Schärfste widersprochen werden.

Mehr Wachsamkeit gegenüber strukturellem Antisemitismus wird die Bedeutung postkolonialer Kritik stärken

Der Staat Israel wurde 1948 als Refugium einer ethnisch-religiösen Gruppe gegründet, die in Europa über Jahrhunderte unterdrückt, verfolgt und während der Schoah industriell vernichtet wurde. Lange gab es die jüdische Präsenz in Palästina; „Eretz Israel“ ist die uralte Heimstätte der Jüd*innen, aus der sie mehrfach vertrieben wurden. Ein „arabisches Land Palästina“ gab es nicht. Durch die Gleichsetzung werden reale Siedlerkolonien von Kolonialmächten relativiert, wie sie etwa in Namibia („Deutsch-Südwestafrika“) und Südafrika aufgebaut wurden und dort das Ziel der Unterwerfung und Ausbeutung der lokalen Bevölkerung verfolgten.

Der „Apartheidstaat“-Vorwurf ist ebenso unhaltbar, verkennt er doch, dass Israel ein Rechtssaat ist, in dem jüdische wie nicht-jüdische Staatsbürger*innen die gleichen Bürger*innenrechte haben. Durch die Gleichsetzung wird auch hier ein über Jahrzehnte dauerndes rassistisches System in Südafrika relativiert, das auf ungleichen Rechten und diskriminierenden Gesetzen beruhte. Die Gleichsetzung der Staatsgründung Israels mit einem „kolonialen Projekt“ wird beiden Phänomenen nicht gerecht, sie ist gefährliche Geschichtsklitterung.

Inwieweit sich Postcolonial Studies und Antisemitismusforschung zukünftig produktiv aufeinander beziehen werden, ist im Moment noch nicht abzusehen. Eine zunehmende Wachsamkeit gegenüber strukturellem Antisemitismus wird die Bedeutung postkolonialer Kritik stärken. Wünschenswert ist ein vertiefter interdisziplinärer und öffentlicher Austausch allemal, weil so auch im politischen Raum ein notwendiger Selbstreflexionsprozess im Hinblick auf unsere Erinnerungskultur entstehen könnte. Gemeinsames Anliegen aller Beteiligten sollte es dabei sein, grundsätzlich Antisemitismus keinen Raum zu geben – weder israelbezogen noch sonst. Dieser Grundsatz stellt für mich eine wesentliche Prämisse, eine normative Orientierung der Erinnerungskultur dar, für die ich streite.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Selbst israelische Historiker bezeichnen Israel als siedlerkoloniales Unternehmen, wie z.B. Prof. Ilan Pappe (Autor von „die ethnische Säuberung Palästinas“), sowie der Gründer der zionistischen Bewegung Theodor Herzl (Autor von „Der Judenstaat“). Ob es also angebracht ist ihnen aufs Schärfste zu widersprechen, wie Fr. Kappert-Gonther schreibt wage ich zu bezweifeln. Die Idee einen zionistischen Staat zu gründen war anfangs auch nicht auf Palästina fokussiert (Argentinien, Uganda waren angedacht), trotz einer über viele Jahrhunderte andauernden „jüdischen Präsenz“ dort. Auch wenn es vor der Gründung des Staates Israel keinen „Staat Palästina“ gab, muss man bedenken, dass es auch nie einen „Staat Israel“ in Palästina gegeben hat. Vor vielen Jahrhunderten gab es eine zeitlang ein Königreich Juda und ein Königreich Israel, deren Territorien decken sich aber nicht mit dem Territorium das der Staat Israel heutzutage beherrscht, denn sie waren viel kleiner. Davon aber abgesehen taugt ein solches Argument nicht zur Rechtfertigung von Enteignung und Verdrängung der einheimischen palästinensischen Bevölkerung im 20. und 21. Jahrhundert, denn das widerspricht internationalem Recht. Nach einer solchen Logik könnten arabische Staaten heutzutage Teile Spaniens zurückfordern, schliesslich herrschten sie jahrhundertelang dort.

  • Für diese Erinnerungskultur, die sich natürlich verändern und erneuern und einen Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen haben muss, streite auch ich.



    Danke Frau Kappert-Gonther!

  • Liebe Frau Kappert-Gonther, was Sie hier konstruieren ist nur eine gefällige und vereinfachende Lesart. Die Gründung des Staates Israel ist nur aus der postkollonialer Machttradition der Führungsmächte des Völkerbundes, nach dem Ende des ersten Weltkriegs, möglich gewesen und daraus zu erklären. Die von Amos Goldberg, hier in der "taz", bejahte Sichtweise von Achille Mbembe, dass die Staatsgründung Israels, die verdrängten/vertriebenen angestammten Bewohner zu Opfern dieser Staatsgründung gemacht hat, wird der Frage gerecht. Und jede Erweiterung des Staates Israel machte und macht aus den Betroffenen Opfer einer israelischen Kollonisierung dieser Gebiete.



    Neben einer uralten jüdischen Präsenz in Palästina gab es nach Ihrer Lesart,also keine andere legitimierte Präsenz die dort lebte, oder später dort ein gleichwetiges Recht zur Existenz hatte. Das kann sich nur jemand zusammenfabulieren, der sich den momentanen Status, aus Bequemlichkeit oder ....?, zu eigen gemacht hat. Nur die, von Amos Goldberg gefordete, Akzeptanz beider Sichtweisen und einer daraus resultierenden Koexistenz kann eine Lösung sein.

  • Ich möchte einige Fehleinschätzungen von Frau Kappert -Gonther richtig stellen:



    1. Antizionismus ist nicht automatisch antisemitisch: es gibt Tausende Israelis und Juden, die sich als antizionistisch verstehen, von ultraorthodoxen Juden, die den Staat Israel ablehnen, bis zu linken Kritikern, die eine Erweiterung des Staatsgebiets Israels über die Grenzen von 1967 hinaus als völkerrechtswidrigen Landraub brandmarken.



    2. Jüdische Präsenz in Palästina. Es gab sie immer, aber nach der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert ist Palästina arabisch geworden. Anfang des 19.Jahrhunderts gab es 3% Juden, 1918 ca. 10%, 1947 30%. Bei der Gründung Israels waren zwei Drittel der Bewohner Palästinas Araber/Palästinenser, von denen über die Hälfte aus ihrer Heimat vertrieben wurde.



    3. Rechtsstaat und Apartheid: Ja, Israel ist ein Rechtsstaat, aber nur für Juden. Es gibt über 50 Gesetze, die Nichtjuden diskriminieren, das Nationalstaatsgesetz spricht das deutlich aus. Diese Ungleichbehandlung kann man Apartheid nennen oder nicht, eindeutig gibt es jedoch ein Apartheidssystem in den besetzten Gebieten und demnächst auch in ganz Israel, wenn Teile des Westjordanlandes annektiert werden und die dort lebenden Menschen keine Bürgerrechte erhalten.



    Claus Walischewski

  • ".....Diese zunehmende Bedeutung des Postkolonialismus ermöglicht...".



    Bedeutung hat das Thema auf dem Afrikanischen Kontinent schon lange. Die Wahrnehmung in Europa nimmt zu. Kleiner Unterschied.