Deutsche Außenpolitik seit 9/11: Deutschlands Dilemma
Das Verhältnis zu den USA war stets das Leitmotiv deutscher Außenpolitik nach 9/11. Der Abzug aus Afghanistan offenbart die Nachteile.
Schröders außenpolitischer Berater Michael Steiner erzählte Jahre später in deutschen Medien, er habe noch versucht, den Kanzler von der Vokabel „uneingeschränkt“ abzubringen. Schließlich hätten die Amerikaner „überreagieren“ können – inklusive Atombombenangriff. Die Lage sei unkalkulierbar gewesen: Die Bush-Regierung habe sich „regelrecht eingebunkert“, berichtete Steiner, man sei in Washington überhaupt nicht durchgekommen.
Dieser Text ist Teil des taz-Dossiers zu den Terroranschlägen vom 11. September vor 20 Jahren. Der Schwerpunkt erscheint in der Ausgabe vom 31. August. Unsere Autor*innen beschäftigen sich darin mit den Folgen des Anschlags. Wie haben sie ihn erlebt? Wie hängt 9/11 mit der Krise in Afghanistan zusammen? Welche Verschörungsmythen bestehen nach wie vor?
Das Dilemma der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik nach 9/11 ist in diesem Szenario unmittelbar nach den Anschlägen bereits komplett enthalten: Einerseits war Solidarität mit den USA so notwendig wie geboten. Andererseits riskierte Deutschland dadurch, in Kriege hineingezogen zu werden, über deren Art die USA wiederum stets allein entscheiden – und die sie doch nicht kontrollieren können, wie die aktuelle Situation in Afghanistan überdeutlich belegt.
An einem wichtigen Punkt hat die Bundesregierung – damals noch Rot-Grün – sich aus dieser Klemme befreit: Sie verweigerte an der Seite von Frankreich 2002/2003 die Teilnahme an einem Krieg gegen den Irak. Man stehe „für Abenteuer nicht zur Verfügung“, lauteten Schröders Worte. Gut möglich, dass dies auch dem damaligen Bundestagswahlkampf geschuldet war. Dann wäre damit eben bewiesen, dass Bekenntnisse in Wahlkämpfen nicht immer wertlos sein müssen.
Politische Gymnastikübungen
Doch wurden die politischen Kosten des „Nein“ zum Irakkrieg als beträchtlich empfunden. Bis heute erklären Außen- und VerteidigungspolitikerInnen von Union, SPD und Grünen, „schon wegen Irak“ habe Deutschland sich in Afghanistan stark engagieren müssen – quasi um die Scharte auszuwetzen.
Nur beruhen solche Rechnungen in der Außenpolitik fast immer auf Eindrücken, auf kaum belegbaren Folgeabschätzungen. Der Irakkrieg war herbeigelogen worden. Daraus, dass Deutschland nicht dabei war (beziehungsweise nur geringfügige Hilfsdienste leistete), muss man nicht zwingend größere Verpflichtungen an anderer Stelle ableiten.
Auch die Nato aber machte Afghanistan zu ihrem wichtigsten, Sinn und Zusammenhalt stiftenden Projekt, und die Bundesrepublik schlüpfte in eine bereits eingeübte Rolle: die der globalen Wirtschaftsmacht, die sich auch außen- und verteidigungspolitisch „erwachsen“ zeigen will – die bloß Mühe hat, dies den eigenen Leuten zu erklären.
Auf den Klassentreffen der sicherheitspolitischen Szene, etwa der Münchner Sicherheitskonferenz, vollführten deutsche PolitikerInnen also jahrelang politische Gymnastikübungen aus Großmachen und Kleinmachen: einerseits betonen, wie bedeutsam der deutsche Beitrag in Afghanistan und der Welt längst sei. Andererseits Richtung „besondere Geschichte“, „pazifistische Grundhaltung in der Bevölkerung“ und „wir bemühen uns ja“ gestikulieren, wenn jemand andeutete, dass so ein Exportkoloss doch zweifellos auch militärisch mehr leisten könne.
Sicherheitslage bröckelte trotz Truppenaufstockung
Unter US-Präsident Barack Obama wurde Afghanistan ab 2009 zum „guten“, richtigen Krieg der USA, im Gegensatz zum „schlechten“ im Irak. Doch auch eine enorme Aufstockung der Truppen – USA vorneweg, Deutschland hinterdrein – brachte nicht das gewünschte Ergebnis. Im Gegenteil, die Sicherheitslage in Afghanistan schien eher zu bröckeln.
Es waren Erkenntnisse, die in Deutschland nicht verarbeitet werden konnten. Denn hier wollten die außen- und sicherheitspolitischen VordenkerInnen die Beliebtheit Obamas auch nutzen, um am weltpolitischen Bewusstsein der Bevölkerung zu arbeiten.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2014 sagten Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) fast wortgleich: Deutschland müsse bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch „früher, entschiedener und substanzieller“ einzubringen.
Die Leitartikel dazu waren allerdings kaum gedruckt, da annektierte Russland die Krim. Statt Aufstandsbekämpfung und Staatsaufbau am Hindukusch war plötzlich eine Art Kalter Krieg zurück. „Früh, entschieden und substanziell“ musste die Bundesregierung handeln – aber in ganz anderem Zusammenhang als gedacht. Die Weltlage hatte sich wieder einmal nicht an die deutschen Fahrpläne gehalten.
Wider die Interventionslogik
Nach dem schmählichen Abzug der Alliierten aus Afghanistan dürfte es künftig nun noch schwerer werden, irgendwen von einer Interventionslogik zu überzeugen, wonach Deutschland unbedingt dabei sein muss, um erwachsen zu sein. Ist jetzt der ganze „Westen“ geopolitisch am Ende und wird nirgends mehr eingreifen, wie überall zu lesen steht? Manche FriedensforscherInnen rollen dazu mit den Augen.
Über Jahrzehnte scheine es „dem Westen“ nicht gelungen zu sein, aus Interventionen und Kriegen zu lernen. Stets werde von „lessons learned“ zwar geredet, aber kaum je eine Lehre gezogen. Weswegen sich die Frage stellt: Warum sollte es nächstes Mal anders sein?
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