Desolate Lage der Deutschen Bahn: Die Bahn wird zur Chefsache
Verkehrsminister Wissing will im DB-Konzern stärker mitmischen. Schienensanierungen sollen klüger geplant werden. Die Verkehrsbranche ist skeptisch.
Das Schienennetz wurde über Jahre auf Verschleiß gefahren, das rächt sich jetzt. Die nötigen Sanierungen führen momentan zu massiven Störungen. Wegen der umfangreichen Bauarbeiten kommt es immer wieder zu erheblichen Verspätungen, Züge fallen aus oder sind – nicht nur wegen des 9-Euro-Tickets – überfüllt. Nach Wissings Angaben stehen 200 Güterzüge still.
„So wie es ist, kann es nicht bleiben“, sagte Wissing bei einem gemeinsamen Auftritt mit Bahn-Chef Richard Lutz in Berlin. „Ich will die Probleme angehen und lösen, indem ich sie zur Chefsache mache.“ Dazu wird zum 1. Juli im Verkehrsministerium eine Steuerungsgruppe eingerichtet, die Probleme früh erkennt und Gegenmaßnahmen einleitet. Damit sollen auch „die Eigentümerinteressen des Bundes“ stärker durchgesetzt werden, sagte Wissing. „Ich nehme die Unzufriedenheit bei den Bürgerinnen und Bürgern sehr ernst.“ Ein besserer Schienenverkehr sei zentral für die Erreichung der Klimaziele.
Die Bahn will künftig durchdachter planen
Der Minister und Lutz stellten ein neues Sanierungskonzept vor: Die Deutsche Bahn will besonders stark frequentierte Strecken zu sogenannten Hochleistungskorridoren und einem Hochleistungsnetz ausbauen, etwa die Verbindung Frankfurt–Mannheim oder die Verkehrsknoten Köln, Hamburg oder Nürnberg. Bislang wurde so billig wie möglich gebaut, auch wenn Strecken dafür mehrfach nacheinander gesperrt werden mussten.
Künftig will die Deutsche Bahn intelligenter planen, indem sie später anstehende Renovierungen vorzieht und alles auf einmal erledigt. Strecken werden dann etwas länger gesperrt, aber sollen für viele Jahre nicht renoviert werden müssen. Die erforderlichen Mittel würden zur Verfügung gestellt, versicherte Wissing. „Das hat für uns absolute Priorität.“ Zahlen nannte er aber nicht.
Die Deutsche Bahn will mit der Bau-Bündelung 2024 beginnen. „Wir müssen erst mal Umleitungsstrecken fit machen“, erklärte Bahn-Chef Lutz. Er ist seit 2010 im Vorstand des Konzerns und seit 2017 dessen Vorsitzender, für die desolate Lage also durchaus mitverantwortlich. Angesichts der Ankündigung von Wissing, den Einfluss des Bundes zu stärken, gab er sich gelassen. „Ich fühle mich nicht an die Leine genommen“, behauptete er. Es gebe eine große Einigkeit in der Diagnose, was gemacht werden müsse.
Mehr Einfluss für den Bund
Wissing kündigte außerdem an, dass 2024 eine gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft der Bahn starten soll. Darin sollen verschiedene Tochtergesellschaften zusammengefasst werden. Darauf hatten sich SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag geeinigt. Auch mit der neuen Gesellschaft sollen die Steuerungsmöglichkeiten des Bundes gestärkt werden, sagte Wissing. Im Jahr 2023 soll ein geeignetes Modell entwickelt werden. „Es darf nicht passieren, dass die Möglichkeiten des Eigentümers, Einfluss zu nehmen, durch das Gesellschaftsrecht eingeschränkt werden“, sagte Wissing.
In der Bahnbranche kommen die angekündigten Sanierungsvorhaben nicht gut an. Mit Skepsis reagierte der Bundesverband SchienenNahverkehr (BSN). „Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem“, so BSN-Präsident Thomas Prechtl. Seit Jahren fordere der Verband, dass die verschiedenen Bahn-Töchter ihre Baumaßnahmen aufeinander abstimmen sollen. „Die Ankündigungen von Besserung hören wir jedes Jahr aufs Neue“, sagte er.
Netz bleibt überlastet
Der Güterbahnenverband Netzwerk Europäischer Eisenbahnen (NEE) findet das vorgestellte Konzept zu vage. „Hochleistungsnetz ist eine undefinierte PR-Floskel für Strecken, auf denen schon heute bis zu 250 Züge am Tag fahren müssen“, sagte Ludolf Kerkeling vom NEE. „Die Bündelung von Baumaßnahmen in Korridoren hatten schon Andi Scheuer und der DB-Vorstand 2019 angekündigt.“
Die Allianz pro Schiene – ein Bündnis aus Organisationen wie Gewerkschaften und Umweltverbänden – begrüßt dagegen den Ansatz, besonders stark frequentierte Schienenstrecken zu einem Hochleistungsnetz zu entwickeln. „Insbesondere die Bündelung von Baumaßnahmen und Entwicklung von leistungsfähigen Korridoren sind wichtige Schritte zur Systemstabilisierung“, sagte Geschäftsführer Dirk Flege. Die Sanierung sei aber kein Ersatz für mehr Tempo bei der Erweiterung des Schienennetzes, mahnte er. Ein bereits überlastetes Netz bleibe auch mit einer besseren Baustellenplanung überlastet.
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