Der männliche Blick: Aus dem Tagebuch des „Male Gaze“

Was schön ist, stark ist, richtig ist. Der männliche Blick macht alles zu Objekten, seinen Ansprüchen nachzukommen, ist quasi unmöglich, oder?

Nahaufnahme der Augen eines Mannes

Das lustvolle Starren macht alles, was es erfasst, zu Objekten Foto: Ana Paula Biondetti/EyeEm/getty images

Verzeihung, dass ich mich kurz einmische. Du erkennst mich vielleicht gerade nicht, aber du kennst mich. Schon lange, ich war die ganze Zeit dabei. Du siehst mich nicht immer, aber ich sehe dich. Und das weißt du natürlich. Du weißt, dass ich immer mal wieder nach dir schaue. Ob du etwas falsch machst.

Sie nennen mich den Male Gaze. Den männlichen Blick. Das lustvolle Starren, das alles, was es erfasst, zu Objekten macht. Aber ich bin so viel mehr als das. Nicht nur Male. Ich bin auch Cis Gaze und Het Gaze, ich bin all das, was du nicht bist. Oder nicht genug bist. Und trotzdem sein willst, weil ich es so will. Kannst du dich erinnern, als du das erste Mal das Bedürfnis hattest, einen Teil von dir zu verstecken? Um besser zu gefallen? Um richtig zu sein?

Ist es dir gelungen?

Ich bin der Blick, dem nichts genügt. Nicht der Geist, der stets verneint, das ist ein anderer. Aber mit dem spiele ich donnerstags Schach. Ich lebe an vielen Orten, am liebsten an der Innenwand deines Hinterkopfs. Aber ich spaziere auch durch die Illustrierten und über die Leinwände und über deine Schulter lächle ich dir in deiner Selfie-Cam zu. Fun Fact: Ich bin das Gegenteil von einem Vampir, weil es mich nur als Spiegelbild gibt.

Ich weiß nicht viel, aber ich habe viele Fragen. Wirklich?, frage ich, wenn du den Lippenstift aufträgst. Wenn du dieses Kleid anziehst, deine Brüste ausstopfst. Wirklich nicht?, frage ich, wenn du all das unterlässt.

Nichts als Versprechen

Was bist du?, frage ich. Nicht: Wer. Was für ein Geschlecht?, will ich wissen, damit ich weiß, was ich als Nächstes fragen kann. Ich weiß, dass du begehrt werden willst, dass du geliebt werden willst. Manchmal willst du auch einfach bloß gesehen werden, und ich helfe dir dabei. Ich sage dir, was schön ist. Was stark ist. Ich forme dich zu einem Bild. Und wenn du damit fertig bist, alles zu tun, um mir zu gefallen, wechsle ich die Form und mache, dass du dich schämst, mir gefallen zu wollen.

Ich habe nichts zu bieten, aber viele Versprechen. Nächstes Mal werden sie dich lieben. Wenn du nur das Richtige trägst. Nächstes Mal werden sie dich hören, wenn du nur deine Stimme änderst. Wie wirst du sprechen? Wie wirst du laufen? Als was wirst du dich vorstellen?

Ich bin der ultimative dominante Partner, außer dass du mich nie darum gebeten hast. Ich herrsche durch Knappheit. In meiner Welt gibt es kein richtig, nur falsch. Und Strafen: Scham und Selbsthass. Aber keine Sorge, ich bin auch Ansporn. Bist du schon genug?, ist eine meiner Lieblingsfragen. Die meisten antworten mit Nein und machen sich daran, das Nächste an sich zu optimieren, zu verstecken, anzupassen. Das freut mich unheimlich. Denn sie kommen nach kurzer Zeit zurück zu mir und fragen, was sie als Nächstes tun sollen.

Die wenigsten antworten mit Ja. Was mit ihnen passiert, da bin ich leider überfragt. Die sehe ich nie wieder.

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