Der Straßenzeitungsverkäufer: Nachricht von der Straße
Über 500 Obdachlose verkaufen in Hamburg das Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“. Einer von ihnen ist Thomas Audörsch. Ein Morgen mit ihm vor „seinem“ Edeka.
T homas Audörsch – Spitzname „Audi“ – ist das, was man wohl einen korrekten Typen nennen könnte. Und auf den ersten vorurteilsbehafteten Blick ganz sicher nicht das, was man erwartet, wenn man an einen obdachlosen Zeitungsverteiler denkt. Frisch rasiert, nüchtern, ordentlich und sauber gekleidet. So steht er auch an diesem Mittwochmorgen im August vor dem Edeka Niemerszein, Lange Reihe 110, im Hamburger Stadtteil St. Georg. Hier verkauft er jedem, der möchte, von Montag bis Samstag ab 8 Uhr das Straßenmagazin Hinz&Kunzt.
Zwei Parallelstraße weiter fließt die Außenalster an Udo Lindenbergs Zuhause, dem Hotel Atlantic, vorbei. Es ist eher die obere Mittelschicht, der man hier begegnet. In der anderen Richtung findet sich wenige Meter weiter der Redaktionssitz von Hinz&Kunzt – „Das Hamburger Straßenmagazin“. Hier holen sich die Verkäufer:innen ihre Exemplare ab, bekommen, wenn sie möchten, einen starken Kaffee dazu.
Das Magazin wurde 1993 gegründet, spricht vor allem Themen von der Straße an, Schwerpunkte: Sozialpolitik, Hamburg-Themen und Kultur. Mit einer Auflage von rund 50.000 Exemplaren im Monat ist Hinz&Kunzt Deutschlands auflagenstärkstes Straßenmagazin.
Die Zeitungen
Das Konzept kommt aus New York, wo 1989 die Street News entstanden. Die britische The Big Issue brachte die Idee 1991 nach Europa. Heute gibt es in Deutschland rund 30 Straßenzeitungen. Sie alle arbeiten in voneinander abgegrenzten Regionen, um sich nicht gegenseitig Konkurrenz zu machen. Der Draussenseiter aus Köln wird in diesem Jahr 30, und zu den ältesten Straßenzeitungen hierzulande zählt auch Hinz&Kunzt. Das Magazin aus Hamburg darf im kommenden Jahr den Dreißigsten feiern.
Der Verkauf
Die Verkäufer:innen können selbst regeln, wann sie wie viel verkaufen. Sie müssen das aber auch, denn hier wird Kapitalismus in seiner reinsten Form gelebt: Die Verkäufer:innen dürfen zwar die Hälfte des Erlöses behalten, müssen die Straßenzeitung aber auf eigenes Risiko einkaufen. Sie arbeiten als Freiberufler:innen ohne Absicherung – Festanstellungen für Verkäufer:innen gibt es in Deutschland nur beim Münchner Straßenmagazin Biss.
Die Orientierung
In Deutschland kann man die Straßenmagazine als eine Art Nachfolger der Alternativpresse sehen, die aus den damals neuen sozialen Bewegungen kam, vielfach aber die Achtziger nicht überlebte oder in zunehmend kommerzialisierten Stadtmagazinen endete. Auch die Straßenzeitungen verstehen sich heute nicht nur als Lobby, sondern oft auch als „soziale Stadtmagazine“. Dabei sind sie redaktionell zunehmend professioneller geworden. Und während ihr Fokus anfangs oft ein stark sozialpolitischer war, sind sie heute stärker lokaljournalistisch orientiert.
Verkäufer:innen dürfen Obdachlose und Wohnungslose werden, die „ihre Bedürftigkeit zum Beispiel durch eine Bescheinigung oder einen Eintrag im Personalausweis nachweisen können, und Menschen in prekären Lebenslagen“, so steht es auf der Webseite des Magazins. Rund 500 Verkäufer:innen sind es mittlerweile und die Nachfrage ist hoch.
Einer von ihnen ist Audörsch. Ein Bekannter schlug ihm vor, zu einem Vorstellungsgespräch bei Hinz&Kunzt zu gehen. Das war vor etwa vier Monaten und seitdem geht er nun seiner Arbeit nach. Ein paar Exemplare der August-Ausgabe trägt Audörsch bei sich in einer Plastikhülle. Ab und zu lese er auch selbst das Magazin, erzählt er.
Ein neuer Job, mit 57? Schwierig
„So schaffen wir die Obdachlosigkeit ab“ heißt das Titelthema diesmal, auf der Nummer 354. Ein hoher Anspruch in der zweitgrößten Stadt Deutschlands, die mittlerweile rund 2.000 Obdachlose zählt. Hinzu kommen über 5.000 Wohnungslose in öffentlich-rechtlichen Unterkünften. Tendenz seit Jahren steigend.
An Audörschs Hülle hängt sein offizieller Hinz&Kunzt-Ausweis mit Foto und QR-Code zur Verifizierung. Außerdem: zwei laminierte Werbeplakate für die letzten zwei Magazinausgaben an der Eingangstür zum Supermarkt. All das zeigt: Audörsch ist offiziell für das Straßenmagazin hier. Es seien einige Schwarz-Verkäufer:innen in der Stadt unterwegs, erzählt er: „Man erkennt sie an ihrem aggressiven Betteln. Wir dürfen die Käufer nicht ansprechen. Die Menschen, die offensiv auf Leute zugehen, meist nur eine Ausgabe dabeihaben, sind keine offiziellen Verkäufer.“ Diese wollten die Zeitschrift auch nicht wirklich verkaufen, sondern nur darüber an Spenden kommen.
Audörsch ist 57 Jahre alt. Gebürtig in der „Ex-DDR“, wie er es nennt, in Halle an der Saale. Kurz vor dem Mauerfall über die Prager Botschaft in den Westen gegangen. Später über zwanzig Jahre im Süden Deutschlands, der Schweiz und Österreich, dann als Schausteller gearbeitet. Dann kam Corona, der Job als Schausteller war erst mal weg. Ein neuer Job, mit 57? Schwierig.
„Über einen Bekannten bin ich dann vor einem dreiviertel Jahr nach Hamburg gekommen und geblieben,“ erzählt er, während er eine selbstgestopfte Zigarette aus seinem metallenen Etui nimmt. Direkt auf der Straße habe er nie übernachtet. Zunächst sei er beim „Pik As“ untergekommen, einer Übernachtungsstätte für obdachlose Männer im Zentrum Hamburgs. Von dort habe man ihn dann weitervermittelt.
Jetzt wohne er nicht hier in der Gegend, erzählt er in einem der vielen Momente, in denen er vor der gläsernen Automatiktüre steht und dem ein oder anderen Kunden zunickt, der an dem Morgen seinen Einkauf macht. Sondern er wohne ein gutes Stück weiter im Westen Hamburgs in einem Obdachlosenheim. Teile sich dort das Zimmer zum Glück mit einem Kollegen, dem er vertrauen könne. „Da gibt es mehr Kakerlaken als Bewohner“, spaßt er. Und erzählt dann von Fäkalien in der Dusche, Polizeieinsätzen und dauerhaft fehlender Ruhe. Auch heute sei er deswegen schon seit 4 Uhr wach.
„Seinen“ Edeka hat er vom Hinz&Kunzt zugeteilt bekommen. Das Geschäft funktioniert so, dass Audörsch Anfang des Monats die Hefte, die er schätzt, verkaufen zu können, selbst für 1,10 Euro pro Stück kauft. Verkaufspreis ist dann 2,20 Euro. Macht also 1,10 Euro für ihn pro verkauftes Magazin. Plus gelegentlich etwas Trinkgeld. „Am Ende des Monats sind das vielleicht um die 100 Euro“, meint er. Zusätzlich zum Hartz IV, das er bekommt. „Viel ist das nicht. Frisches Obst und Gemüse ist mittlerweile ja fast nicht bezahlbar. Meine Brille hat die Krankenkasse auch nicht gezahlt. Und dann möchte man ja auch einigermaßen ordentlich gekleidet sein“, rechnet er vor. Hellbraune Anglerjacke, silberne Halskette, Sandalen mit Socken bilden sein heutiges Outfit.
Eine Sache ist Audörsch besonders wichtig: auf keinen Fall mit den Bettlern neben ihm in Verbindung gebracht zu werden. „Für mich ist das hier Arbeit“, sagt er. Selbst Hinsetzen ist nicht gestattet. Bei Regen und Kälte – was in Hamburg nicht selten vorkommt – darf er sich in den Edeka-Eingang stellen. Trinken und Pöbeln seien für ihn tabu. Früher als Schausteller habe er bei Feierabend oft mal bis zu zehn Bier getrunken, erzählt Audörsch. Heute trinke er höchstens am Wochenende ein paar, diese Veränderung habe er ganz von alleine geschafft, sagt er.
Gegen 10 Uhr erscheint einer der beiden Bettler, die oft neben ihm auf dem Boden sitzen und Geld von Passanten bekommen. Letztere meinten bei Nachfrage oft: „Ach, wir dachten, Sie gehörten zusammen.“
Die Edeka-Stammkund:innen kennt Audörsch mittlerweile alle, bei einigen sogar die persönliche Leidensgeschichte, die ihrer Hunde inklusive. Sie halten mal an, um ein paar Worte zu wechseln oder zu schäkern. Auch der ein oder andere vermeintlich politisch unkorrekte Witz fällt. „Das Leben ist hart genug, da können wir auch etwas Spaß haben,“ lacht Audörsch dann. Und Scherze machen kann er gut.
Doch so entspannt war es nicht von Anfang an. „Es hat etwa anderthalb Monate gedauert, bis die Leute mich kennengelernt und akzeptiert haben,“ sagt Audörsch. Außerdem ist da auch die Konkurrenz unter den Verkäufer:innen. Audörsch erzählt, wie ein anderer Verkäufer vor einem Supermarkt in der Nähe am Anfang schlecht über ihn geredet habe. Herumerzählt habe, er erscheine angetrunken zur Arbeit, sei unzuverlässig. „Ich habe das bei Hinz&Kunzt gemeldet, doch die meinten dann, wir sollen das untereinander klären“, erzählt Audörsch weiter. Mittlerweile lasse der Kollege ihn aber in Ruhe.
Viel los ist an diesem Mittwoch nicht. Gegen zehn kommen die ersten Leute aus den Büros aus der Gegend und holen sich ein zweites Frühstück. Ein paar Partygänger:innen das erste. „Freitagabend und samstags kommen natürlich die meisten Kunden. Ich könnte mich auch einfach nur auf die Tage beschränken, doch ich möchte, dass die Menschen sehen, dass ich hier jeden Tag stehe und zuverlässig bin“, sagt Audörsch und bleibt weiter stehen, eine Sitzpause gibt es nicht.
Nur Donnerstag und Freitag arbeitet er ehrenamtlich bei der Essensverteilung und der Suppenküche, die von der Kirchengemeinde St. Georg-Borgfelde organisiert wird. Braucht man Hilfe, hat man eine Frage oder will man bei einer Zigarettenpause zusammen lachen, ruft man dort „Audi“.
Rund 200 Bedürftige werden donnerstags mit Lebensmittelspenden versorgt, erzählt er. Ob er selbst auch etwas mitnehme? „Nein, ich arbeite da ja ehrenamtlich“, antwortet Audörsch. „Ich selbst kaufe im Supermarkt ein.“
Eine junge Frau auf dem Weg in den Edeka fragt, ob er auch etwas vom Bäcker möchte. „Ein Franzbrötchen gerne“, sagt Audörsch. Wenig später hält plötzlich ein älterer Mann vor ihm. „Sie stehen ja immer noch da?“ Audörsch hält inne. Der Mann spricht weiter: „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich das sehr bewundere. Diese Ausdauer, die Sie haben.“ Nickt ihm zu und geht weiter, hört fast das perplexe „Danke“ des Zeitungsverkäufers nicht mehr. „Das war mir gerade viel wichtiger, wie wenn er mir fünf Euro gegeben oder eine Zeitschrift abgekauft hätte“, sagt Audörsch dann nach einer längeren Stille.
Drei Stunden später wird für den Tag erst mal eine Pause eingelegt. Audörsch muss zum Arzt. Er hat sich beim Fußballspiel mit Freunden das Handgelenk verstaucht. Zwei Hefte hat er heute verkauft, ein Franzbrötchen spendiert bekommen und vier Zigaretten geraucht. Morgen steht erst mal die Essensverteilung an, auch da muss er morgens zum Organisieren und Ausladen antreten. Freitags bei der Suppenküche genauso. Samstag steht er dann wieder vor dem Edeka.
Abends nach Feierabend geht Thomas Audörsch oft nochmal mit einem Bollerwagen an den Hauptbahnhof, verteilt Getränke, Hygieneartikel, Lebensmittel. Sonntags? „Schlafen, wenn ich es schaffe, da im Obdachlosenheim Ruhe zu finden.“
Dazwischen kümmert er sich darum, die Sozialämter anzuschreiben und nach einer Wohnung zu suchen. Um hoffentlich bald an eine „richtige“ Arbeit zu kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren