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Der Normalzustand in Corona-ZeitenJetzt ist Krisenherbst

Die Coronapandemie hat uns ein neues „normal“ gebracht. Das war im Sommer ganz okay, doch was wird aus dem „neu-normal“ im Herbst?

Auf den Sommer folgt der Herbst, normal Foto: Paul Zinken/dpa

E s ist Herbst, oder, wie Markus Söders Teetasse prophezeit: Winter is coming. Dass auf Sommer erst Herbst und dann Winter folgen, ist (noch) normal. Selbst Menschen wie ich müssen sich das eingestehen, also Leute, die jedes Jahr zum Sommer­ende so lange wie möglich Schuhe ohne Socken tragen, nicht von Weißwein auf Rotwein umsteigen und keine Gerichte mit Kürbis zubereiten. Nun finde ich den Sommer nicht extrem viel besser als jede andere Jahreszeit. Aber dieses Jahr schon. 2020 war der Sommer anders wichtig, die Alles-ist-gut-trotz-allem-Jahreszeit.

Wir sind ja noch in der Krise. Richtig tief drin stecken wir, auch wenn mache das gern mit Ökoheizpilzen wegglühen wollen. Fast zehn Monate nach Bekanntwerden des ersten Covid-19 Falls in China ist weiterhin Ausnahmezustand – nur gewohnter. Intellektuelle in weißen Sneakern nennen das gern the new normal. Neu normal ging gut im Sommer. Ich habe mir einen Ventilator gekauft (wegen Klimakrise) und eine Siebträgermaschine (wegen Homeoffice), zweimal geknutscht (wegen Seele) und Urlaub von Deutschland in Deutschland gemacht. Wussten Sie, dass es in der Pfalz 2.000 Sonnenstunden im Jahr gibt und Feigenbäume? Ich nicht. Man lernt nie aus, normal.

Jetzt ist Krisenherbst und ich überlege, was daran gut sein kann. Luft, die morgens nach feuchtem Laub riecht, vielleicht. Und Übergangsjacken. Die erste Kastanie des Jahres habe ich in meine Jackentasche gesteckt, normal, wie immer seit 1994, aber dann war in der Jackentasche noch ein alter Mund-Nasen-Schutz, den ich im Frühling dort vergessen haben muss – normal, zum ersten Mal seit 2020. Eine Kastanie (alt-normal) neben einem Mundschutz (neu-normal) in derselben Jackentasche.

In einer Gesellschaft beschreibt Normalität einen gewohnten Zustand, der den Gewöhnten nicht mehr erklärt werden muss. Die Normalität ist selbstverständlich und wird demnach nicht mehr groß nachverhandelt. Was normal geworden ist, das gehört dazu – und wer sich an der Normalität stößt, ist selbst schuld und wird mit der Zeit lernen, sich entweder an die Stöße zu gewöhnen oder an die kleinen Schlenker um das Hindernis herum. Bis das Hindernis irgendwann verschwindet, weil es normal wird, den Schlenker zu machen oder sich weh zu tun. Mein kleiner Zeh grüßt die Bettkante.

Manchen Dingen tut es gut, wenn sie selbstverständlich werden. Mit Maskennormalität ist viel mehr gewonnen als verloren. In der anderen Jackentasche leuchten Push-Nachrichten. Ein AfDler, der Migrant:innen „erschießen oder vergasen“ will: Alt-normal? Neu-normal? Nicht normal, Normalität. Wir lernen mit ihr zu leben wie mit einer schlechten Diagnose. In unachtsamen Momenten knallen wir gegen die Kante von einem Bett, das wir uns nicht ausgesucht haben. Der Schmerz zieht vom Zeh in den Bauch, einmal, zweimal, hundertmal, normal. „Erst zuerst, dann wieder“ schrieb May Ayim vor 28 Jahren in ihrem Gedicht „Deutschland im Herbst“. Und: „Mir graut vor dem Winter.“

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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1 Kommentar

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  • Lin Hierses poetische Nüchternheit und ihr fokussiert umherschweifendes Auge für Schlüsseldetails bezaubern mich jedes Mal. Mystisch geradezu. Bitte mehr davon!