: Der Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs
Die Linke verabschiedet eine Resolution gegen Judenhass und wird dafür desselben bezichtigt. Dabei geht es vorrangigum etwas anderes: die Deutungshoheit im Israel-Palästina-Konflikt

Von Leon Holly
Kaum etwas ist so deprimierend an der politischen Kultur in Deutschland wie der inflationäre Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs. Eben weil sich Antisemiten durch ihr Denken und Handeln unmöglich machen, sollte die Anschuldigung ihre Schärfe behalten und nicht wie ein stumpfes Schwert jedem übergezogen werden, dessen Haltung gerade nicht passt. Als aber die Linkspartei sich auf ihrem Parteitag Anfang Mai für eine Antisemitismusdefinition aussprach – die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) –, wurde sie kurzerhand zur judenfeindlichen Organisation erklärt.
Für die Bild-Zeitung war klar, dass mit der Annahme der JDA die Linke „immer mehr in Richtung Israelhass“ rutsche. Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, spricht von einem „radikalen Kern der Partei, der – getrieben von Israelhass – dazu beiträgt, den Antisemitismus unserer Zeit zu verschweigen“. Er behauptet: „Linker Antisemitismus hat einen Platz innerhalb der Partei Die Linke.“
Rechte Presse und radikalisierte Mitte machen so die orwellsche Tatsachenverdrehung perfekt: Die Verabschiedung einer Definition, die für Judenhass sensibilisieren soll und von führenden Wissenschaftlern unterstützt wird, deuten sie zu einem quasi antisemitischen Akt um.
Diese Propaganda soll verschleiern, dass es nicht vorrangig um Antisemitismus geht, sondern um die Deutungshoheit im Israel-Palästina-Konflikt. Und es geht wie so oft, wenn sich gerade Deutsche über den Nahostkonflikt streiten, am Ende eigentlich um sie selbst.
Die JDA entstand als Reaktion auf eine andere Antisemitismusdefinition, nämlich die der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Die IHRA wird mittlerweile von mehreren Staaten offiziell anerkannt, wird aber wohl mindestens ebenso lange skeptisch beäugt, da sie nicht scharf genug zwischen Kritik am Staat Israel und judenfeindlichen Einstellungen unterscheidet. Sieben der elf Beispiele für Antisemitismus in der IHRA beziehen sich auf Israel.
Laut der IHRA-Definition kann etwa die Aussage als antisemitisch gelten, die Existenz des Staats Israel sei ein rassistisches Unterfangen. Nun haben die neuen Historiker in Israel aber offengelegt, dass die Staatsgründer auch gezielt Palästinenser vertrieben haben, weil sie einen Staat mit jüdischer Mehrheit wollten. Ferner kommen rassistische Gesetze nicht nur in den besetzten Gebieten, sondern auch im israelischen Kernland bis heute zur Anwendung.
Als antisemitisch laut IHRA gelten auch „Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten“. Die Rede ist hier wohlgemerkt von Vergleichen, nicht von einer Gleichsetzung. Vergleichen sollte man erst mal alles können. Aber auch sonst scheint das Diktum überholt, wenn die Regierung die Palästinenser in Gaza ethnisch säubern und im Süden des Küstengebiets „konzentrieren“ will. Oder wenn ein israelischer TV-Produzent öffentlich Gaskammern für „Männer, Frauen und Kinder“ fordert.
Die Schwächen der IHRA wären nicht so bemerkenswert, wenn das eigentlich als „Arbeitsdefinition“ gedachte Papier heute nicht für staatliche Gesinnungsprüfungen dienen würde, sei es in Deutschland oder den USA. Gegen diese Repression spricht sich selbst ein Verfasser der IHRA aus, der Antisemitismusforscher Kenneth Stern. Seine Definition werde missbraucht, sagt Stern, um „propalästinensische Einstellungen“ als antisemitisch zu disqualifizieren. Die Berliner Praxis, etwa die Fördergeldvergabe an Kulturbetriebe von einer Zustimmung zur IHRA abhängig zu machen, bezeichnet Stern als „McCarthyismus“.
Es ist gut, dass die Linkspartei sich als einzig nennenswerte politische Kraft in Deutschland gegen diesen Missbrauch positioniert. Das heißt natürlich nicht, dass es keinen israelbezogenen Antisemitismus gäbe. Entgegen ihrem Ruf befasst sich auch die JDA eindringlich mit dem Verhältnis zwischen Staatskritik und Ressentiment. Nur versucht sie, beides genauer zu unterscheiden. Nicht per se judenfeindlich sind demnach gegen den Staat Israel gerichtete Boykottaufrufe oder Forderungen nach Gleichheit für alle Bewohner zwischen Jordan und Mittelmeer, „ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem demokratischen Einheitsstaat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer“. Sehr wohl antisemitisch sei es hingegen, Juden im Staat Israel ihr Recht abzusprechen, „kollektiv und individuell als Juden zu existieren und zu gedeihen, gemäß dem Grundsatz der Gleichheit“. Ein Existenzrecht haben Menschen, nicht Staaten.
Der Leiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv, Gil Shohat, begrüßte den Entschluss der Linken. Er fügte aber an, er könne „die Kritik derjenigen nachvollziehen, die bemängeln, dass man solch komplexe Fragen nicht durch eine Abstimmung auf einem Parteitag entscheiden kann“ und dass die Linke die Perspektive der Betroffenen „nicht zur Genüge in Betracht zieht“.
Linke müssen also aufpassen, dass sie sich nicht auf das Spiel der Politisierung einlassen. Ihnen fällt die Doppelrolle zu, den Antisemitismus ebenso wie seine Instrumentalisierung durch rechts zu bekämpfen.
Wenn es aber um die Bestimmung von Judenfeindschaft geht, sollten alle rhetorisch abrüsten. Die IHRA und die JDA bieten nicht mehr und nicht weniger als Arbeitsdefinitionen, die erweitert, korrigiert, verbessert werden müssen. Die Arbeit geht weiter.
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