
Der Krieg und seine Opfer : „Das ‚Faschisten‘-Narrativ stellt die Ukraine als Feind dar“
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Das Dekoder-Projekt würdigt vergessene Opfer des Zweiten Weltkriegs. Es zeigt, wie historische Narrative heute politisch instrumentalisiert werden.
Der postsowjetische Raum ist ein Schwerpunkt der taz Panter Stiftung. Diese Podcastfolge ist ein Kooperationsprojekt mit Dekoder im Rahmen von „Der Krieg und seine Opfer“. Im Gespräch mit dem taz-Redakteur Martin Krauss sind Tanja Peters, Historikerin und Professorin für osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg sowie Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Ambivalent Enmity“, und Leonid A. Klimov, promovierter Kultur- und Literaturwissenschaftler. Peters forscht zu zivilen Opfern der deutschen Besatzungsverbrechen in der Ukraine sowie zur Nachkriegsgeschichte der juristischen (Nicht-)Aufarbeitung dieser Verbrechen. Klimov studierte in St. Petersburg und Hamburg. Er ist Wissenschaftsredakteur bei Dekoder und koordiniert das Projekt „Der Krieg und seine Opfer“.
In diesem Beitrag wird einen Auszug des Gesprächs veröffentlicht:
taz: Herr Klimov, „Der Krieg und seine Opfer“ von Dekoder war für den Online-Grimme-Preis 2024 nominiert. Was hat Sie zu diesem Projekt bewegt?
Leonid A. Klimov: Der erste Impuls lag in einer auffälligen Lücke der deutschen Erinnerungskultur. Während der Holocaust und Auschwitz als zentrale Symbole für die NS-Verbrechen stehen, bleibt eine andere Dimension oft im Hintergrund: Noch bevor die Gaskammern in Auschwitz industriell in Betrieb genommen wurden, wurden in Osteuropa bereits bis zu zwei Millionen jüdische Menschen erschossen. Der Vernichtungskrieg Deutschlands gegen die Sowjetunion kostete insgesamt mindestens 14 Millionen Zivilist:innen das Leben. Diese oft vergessenen Opfer wollten wir mit unserem Projekt würdigen.
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taz: Neben klassischen Texten werden die Kriegsgeschehnisse mithilfe anschaulicher Illustrationen und interaktiver Karten aufgearbeitet. Welche Herausforderungen gab es bei der Umsetzung?
Klimov: Uns war wichtig, sowohl journalistisch als auch wissenschaftlich fundiert vorzugehen. Eine besondere Herausforderung war die mangelnde digitale Infrastruktur: Viele historische Karten sind zwar gescannt, aber nicht für interaktive digitale Projekte aufbereitet. Wir haben hier Schritt für Schritt neue Wege der digitalen Erinnerungskultur entwickelt.
taz: Wie unterschiedlich wird die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Russland und Deutschland verstanden?
Klimov: Im Gegensatz zur deutschen Erinnerungskultur, die stark von der Täter-Opfer-Perspektive geprägt ist, dominiert in Russland das Narrativ des siegreichen Widerstands gegen Nazideutschland. Dabei wird der Sieg bewusst Russland und nicht der gesamten Sowjetunion zugeschrieben – eine Interpretation, die für die heutige politische Agenda instrumentalisiert wird.
taz: Mit seiner Rhetorik der „Entnazifizierung“ stellt Putin auch den Ukraine-Krieg in direkten Bezug zum Zweiten Weltkrieg. Welche Rolle spielt diese Geschichtsinterpretation im russischen Angriffskrieg?
Es wird ein direkter, wenn auch absurder Zusammenhang zwischen dem heutigen Konflikt und dem Zweiten Weltkrieg konstruiert. Dabei werden sowjetische Kriegsnarrative reaktiviert: die Bezeichnung des Gegners als „Faschisten“ und das Narrativ einer angeblichen ukrainischen Nazi-Kollaboration. Diese Erzählung dient dazu, die Ukraine als „inneren Feind“ darzustellen, der eine vermeintliche Einheit gefährde.
taz: Wie werden diese Erzählungen verbreitet und wie begegnet Dekoder dieser Geschichtsverzerrung?
Russische Staatsmedien und Social-Media-Kanäle verbinden gezielt aktuelle Kampforte wie Bachmut oder Donezk mit Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Dekoder setzt dieser vereinfachenden Propaganda eine differenzierte Betrachtung entgegen. Wir bewahren die Komplexität des historischen Diskurses und bieten eine wissenschaftlich fundierte Tiefenanalyse, die hilft, aktuelle Entwicklungen besser einzuordnen.
Texte aus der Dekoder-Sonderbeilage „Östlich der Erinnerung“, die am 24. Januar 2025 erschienen ist, könnten unter dem Osteuropa-Schwerpunkt der taz Panter Stiftung gelesen werden.
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