Der Hausbesuch: Alles Fragen der Perspektive
Nichts und niemand hat einen „neutralen Blickwinkel“, sagt die Politologin Emilia Roig. Hautfarbe, Herkunftsfamilie und Geschlecht prägen jedes Leben.
Nicht nur das, was wir sagen, hat Bedeutung, sondern auch, wer wir sind. In Emilia Roigs Augen gibt es die Perspektive der Unterdrückten und die der Unterdrücker:innen. Zu Besuch in ihrer Wohnung in Berlin-Neukölln.
Draußen: Wer vom S-Bahnhof in Berlin-Neukölln zu Emilia Roigs Wohnhaus geht, läuft an einem Plakat vorbei, das an den rassistischen Anschlag von Hanau erinnert. Die Namen der Ermordeten werden darauf genannt. Das Papier löst sich langsam von der Wand. Darunter sucht jemand auf einem neueren Zettel nach einem verlorengegangenen Hund.
Drinnen: Überall positive Farben, die Räume sind hell. „Amour“ steht in Schreibschrift neben der Eingangstür an der Wand, darunter hängt ein Spiegel. Ein Kaktus wächst in einer Dose, die früher mit französischer Maronencreme gefüllt war. Neben dem Esstisch stehen aufgereiht bunte Tagebücher.
Perspektiven: Roigs 7-jähriger Sohn kommt während des Gesprächs mit einer Kamera um die Ecke, filmt, fotografiert. Er wolle der Fotografin helfen, sagt Roig. Später fotografiert sie selbst mit dem Handy. Die Fotos seien „fürs Familienalbum“, sagt die 39-Jährige. Diese freundliche Irritation verdeutlicht die Situation – das Ungleichgewicht jenes Augenblicks: der journalistische Blick, der in eine private Wohnung eindringt.
Aufwachsen: 1983 wird Emilia Roig in einem Pariser Vorort geboren. „Meine Schwester war ein sehr großer Teil meiner Welt“, sagt sie. Gemeinsam lernten die Mädchen, was es heißt zusammenzuhalten. Ihre Schule „war mehrheitlich weiß“. Roigs Mutter stammt von der karibischen Insel Martinique. Schon häufig waren Mutter und Töchter gemeinsam dort zu Besuch.
Die Mutter: Die Frohnatur ihrer Mutter habe sie geprägt, sagt Roig. Ihre Mutter sei „extrem positiv“, „beschwert sich nie“. Wenn sie Roig in Berlin besuchen komme, habe sie auf den Lippen ein großes Lächeln, und sie sage allen Menschen „Hallo“.
Patriarchat: Dabei hatte ihre Mutter es nicht leicht. Roig spricht von emotionalem Missbrauch in der Beziehung ihrer Eltern, von der Unterdrückung der Mutter durch den Vater. Die Mutter habe sich um den Haushalt gekümmert und wenig Dankbarkeit dafür erfahren. „Die Ausbeutung von Frauen in heterosexuellen Kernfamilien wird normalisiert als die,normale' Arbeit, die mit Muttersein und mit Frausein einhergeht“, sagt Roig.
Queer: Eine heterosexuelle Beziehung kommt für Roig heute nicht mehr infrage, auch wenn sie sich nach wie vor auch zu Männern hingezogen fühle. In queeren Beziehungen könne sie sich jedoch freier entfalten. „Die Verhaltensweisen, die Männer anerzogen wurden, wirken auf mich sehr unattraktiv.“
Wissen: Männer würden oft als „die Wissenden“ gelten oder sich selbst dafür halten. Während Frauen beigebracht werde, sich voller Bewunderung im Hintergrund zu halten, sagt die studierte Politologin. Das habe sie in ihrer eigenen Ehe auch selbst so erlebt. Um für Harmonie zu sorgen, habe sie sich gelegentlich „dumm gestellt“. Zu selten würden Paarbeziehungen machtkritisch betrachtet, stattdessen würden Streits und Probleme und meist individualisiert, nach dem Prinzip „euer persönliches Problem“.
Aktivismus: Patriarchale Mechanismen waren nicht die einzige Form der Unterdrückung, die Roig erlebte und der sie heute als Autorin und Aktivistin entgegentritt. In ihrem Buch „Why we matter. Das Ende der Unterdrückung“ beschreibt sie, wie Sexismus, Homophobie und Rassismus in ihrer Familie aufeinandertreffen. „Die Tatsache, dass mein Vater ein weißer Mann und meine Mutter eine Schwarze Frau ist, hat natürlich eine Rolle gespielt.“
Beziehungen: Sie selbst hat sich wenig angepasst an das Bild eines gehorchenden Mädchens, das ihr Vater gern von ihr gezeichnet habe. „Er hat bemerkt, dass ich seine Autorität nicht einfach annehme.“ Dass sie rebelliert. „Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter – und ein sehr schwieriges Verhältnis zu meinem Vater“, sagt Roig.
Holocaust: Doch sie spricht auch davon, wie die Familie ihres Vaters sie geprägt habe. Ihre Großmutter väterlicherseits ist jüdisch. Roig erzählt von Bar Mizwas, die sie als Kind besuchte. Und von der ständigen Beschäftigung mit dem Holocaust in der Familie ihres Vaters. „Ich habe das Gefühl, alle Bücher über die Shoa gelesen zu haben, schon ab dem Alter von neun oder zehn Jahren.“ Heute kritisiert sie, dass „antiimperialistische Stimmen“ hierzulande zu wenig gehört würden. Die deutsche „Erinnerungskultur“, betrachte sie durchaus skeptisch.
Kritik: Für ihre Positionen zum Umgang mit dem Holocaust wird Roig oft und scharf kritisiert. Sie selbst sieht sich missverstanden. Die Heraushebung der NS-Zeit als einen historischen Sonderfall verhindert in ihren Augen „eine tiefe Auseinandersetzung mit Rassismus“, wie sie in ihrem Buch schreibt. Aus Roigs Sicht ist die Shoah eng mit dem europäischen Kolonialismus verbunden. Erbost erzählt sie, dass einige sie deshalb als antisemitisch bezeichneten: „Es ist auch ein Versuch, mich als Jüdin zu diskreditieren und mir meine Identität als Jüdin abzusprechen.“ Bei kritischen Fragen zu ihrer Auseinandersetzung mit Antisemitismus wird ihr Ton streng. „Sind Sie selbst jüdisch?“, fragt sie später.
Identitätspolitik: Emilia Roig ist eine große Verfechterin von Identitätspolitik. Entscheidend sind für sie die Blickachsen: weiß, Schwarz, jüdisch, Angehörige der NS-Täter:innenschaft. Es gebe schlicht keine Neutralität, sagt sie. Auch nicht in der Wissenschaft. „Weiß, männlich, nicht behindert und europäisch“ gelte gemeinhin noch immer als „Neutralität, Objektivität und Rationalität“.
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Postkolonialismus: Roig hat in Berlin und Lyon Jura und Politikwissenschaft studiert. Danach arbeitete sie bei internationalen Organisationen im Bereich der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit. Dann: der Ausstieg. „Ich habe gemerkt: Die Organisationen sind so tief im Kolonialismus verankert“, sagt sie.
Trennlinien: Es habe eine klare Trennung gegeben: Da waren die „Expert:innen“, die aus Frankreich, England oder den USA kamen. Und dann gab es die Einheimischen, „lokale Fachkräfte, die viel weniger bezahlt bekamen und nicht ernst genommen wurden“. Roig wollte dieses Machtgefälle nicht länger unterstützen.
Intersektionalität: Heute beschäftigt sie sich vor allem mit dem Konzept der Intersektionalität – mit Strukturen der Mehrfachdiskriminierung. Roig spricht von „unterschiedlichen Stufen und unterschiedlichen Achsen“, auf denen Diskriminierte je nach Kontext gesellschaftlich stünden. Dabei zeigt sie auch Hierarchien innerhalb von Minderheiten auf. Bisexualität sei „eine der am meisten stigmatisierten sexuellen Orientierungen, die regelmäßig ausradiert wird – auch innerhalb der LGBTQI+-Community“, schreibt sie etwa in ihrem Buch.
Bahai: Auf die Frage, warum sie sich dem Thema Intersektionalität so stark widmet, erklärt Roig: „Wenn ich eine Religion hätte, dann würde ich Bahai sein.“ Denn jene Glaubensschule sehe überall dieselbe Göttin oder denselben Gott, „dieselbe Kraft“. Die gleiche Botschaft sei „durch unterschiedliche Messiasse gekommen.“ Das Konzept der Intersektionalität ähnele der Bahai-Religion. Denn dabei gehe es um die Gemeinsamkeit von verschiedenen Diskriminierungsformen, sagt Roig. „Es ist die gleiche Kraft, die gleiche Unterdrückung, nur materialisiert sie sich auf unterschiedlichen Achsen.“
Spiritualität: Auch wenn sie sich keiner Religionsgemeinschaft anschließt, spielt Spiritualität in Roigs Leben eine große Rolle. Sie sehe sich „als Teil eines Ganzen“, sagt sie. Der Glaube an die nichtmaterielle Welt sei auch ein wichtiger Teil der karibischen Kultur. Ihr Onkel habe Tarot-Karten gelesen, ihre Urgroßmutter könne in die Zukunft schauen. „Sachen, die herabgewürdigt und lächerlich gemacht werden in weißen Kreisen.“
Träume: Auch ihrem Sohn will sie zeigen, dass es noch „eine andere Dimension gibt, als das, was wir sehen, was wir anfassen können“. Sie rede mit ihm über seine Träume. Gemeinsam sammeln sie Gegenstände, die für die beiden Bedeutungen haben, auf einem Altar.
Bewältigung: Ihr zweites Kind starb kurz nach der Geburt. Auf einer Tafel steht der Name des Jungen geschrieben: Ayélé. Im Wohnzimmer hängen die Blumen von seiner Beerdigung. Der Tod des Kindes sei bisher ihre größte Lebenskrise gewesen. Auch hierbei habe ihr ihre Spiritualität geholfen, sagt Emilia Roig – außerdem ihr Sohn, die Arbeit und ihre Freunde. „Zeit hilft auch.“
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