Denkmal in Riga: Krieg und Gedächtnis
Wie man einen Krieg nennt, liegt in den Händen der Betrachter und an ihren politischen Absichten. Der aktuellen Debatte täte mehr Rationalität gut.
E s war windig auf dem Rigaer Siegesplatz, vermutlich weil das hoch aufschießende sowjetische Ehrenmal die Luftströmungen teilte. Es zerteilte auch anderes, Erinnerungen, Gefühle, Geschichtspolitik, alles, was sich hinter der schlichten Aufschrift „1941 * 1945“ verbarg; nur die russische Minderheit feierte hier am 9. Mai.
Nun wurde das Denkmal in Riga gestürzt, und während ich mich frage, was diese hochsymbolische Geste für die Zukunft des Erinnerns in Europa bedeutet, bin ich in Gedanken noch einmal auf dem Platz, wo ich den Obelisken vor einem Jahr sah. Vom Podest fielen die Platten ab, auf den Fahnenmasten trat Rost zutage. Verfall, schlechtes Material, kein Vergleich mit den pompösen gepflegten sowjetischen Ehrenmalen in Berlin. Aber wie haltbar ist dieser Unterschied? Und wie haltbar soll er sein?
Wo beginnt Revisionismus und wo ein anderes historisches Begreifen? Der Begriff Vernichtungskrieg ist für diese Erörterung besonders geeignet. Unter Politikern ist es mittlerweile gängig, den russischen Krieg mit einem Wort zu bezeichnen, das in Deutschland bisher für die Verbrechen der Wehrmacht reserviert war. Zugleich ist in der Bevölkerung das Wissen über die immensen Zahlen der im Osten ermordeten nichtjüdischen Zivilisten immer gering geblieben.
Die Bundeszentrale für politische Bildung sah sich bereits im April veranlasst, eine Erinnerung an das Vorgehen der Wehrmacht in der Ukraine unter die Überschrift „Schon einmal Vernichtungskrieg“ zu stellen. Auf der anderen Seite ist es keine russische Erfindung, einen Krieg, der auf die Zivilbevölkerung zielt, mit einer verharmlosenden Bezeichnung zu belegen.
„Aufrechterhaltung der Ordnung“
Frankreich bezeichnete seinen äußerst blutigen Algerienkrieg, dem Hunderttausende Einheimische zum Opfer fielen, noch drei Jahrzehnte nach dessen Ende als „Operation zur Aufrechterhaltung der Ordnung“. Dass es sich um einen Krieg handelte, erkannte der französische Staat erst 1999 an, und es brauchte noch einmal zwei Jahrzehnte, um den systematischen Einsatz von Folter einzuräumen.
Dem kolonial-deutschen Maji-Maji-Krieg in Tansania fielen zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 200.000 Afrikaner zum Opfer, erschossen oder verhungert, nachdem die Kolonialtruppe Dörfer, Ernten und Saatgut niederbrannte. Genozidale Tendenzen? Vernichtungskrieg? Dazu gibt es keine Debatte, weil dieser Unrechtskomplex das deutsche Bewusstsein ohnehin noch kaum erreicht hat.
Benennungen sind also nie voraussetzungslos, genauso wenig wie das geschichtliche Ereignis. Das Wort Vernichtungskrieg war für die nachdenklichen Angehörigen meiner Generation so bedeutend, weil es dem Nationalsozialismus einen neuen dunklen Bezugspunkt gab: die massenhafte Schuld unserer Väter. Viele hatten Angst, den eigenen Vater auf einem Foto jener Wanderausstellung zu entdecken, die 1995 endlich mit dem Mythos der sauberen Wehrmacht brach.
Auch wenn wir heute mehr über das Ausmaß kolonialer Gewalt gegen Zivilbevölkerungen in den letzten 500 Jahren wissen, nimmt dies dem NS-Feldzug gegen die Gesellschaften der Sowjetunion nichts von seinem Schrecken: eine weltanschaulich wie rassistisch konditionierte Kriegsmaschine, mit allein zu Beginn bereits drei Millionen Soldaten.
In Psychodynamiken gefangen
Das Problem der Abwägung gegenüber Putins Krieg wirft Fragen auf, die sich der deutschen Erinnerungspolitik insgesamt stellen: Wie kann der besonderen Dimension der NS-Verbrechen gedacht werden, ohne dabei – willentlich oder unwillentlich – andere Vergehen zu bagatellisieren, seien es frühere oder heutige? Wie wird die deutsche Vergangenheit produktiv mit einer an Menschenrechten orientierten Politik der Gegenwart in Beziehung gesetzt?
Sie befasst sich als Auslandsreporterin und Buchautorin mit Gesellschaften außerhalb Europas und deren Auseinandersetzungen mit dem Westen. Zuletzt erschien „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ (Propyläen 2022).
Und wie kann sich die deutsche Post-Tätergesellschaft von Psychodynamiken befreien, die einen klaren Blick auf diese Aufgaben behindern? Im Verhältnis zu Israel vermag Deutschland bisher keine sinnvolle Antwort auf diese Fragen zu geben. Schuldgefühle begründen ein Loyalitätsverhältnis, das wenig geeignet ist, Menschenrechtsvergehen realistisch wahrzunehmen und darauf differenziert zu reagieren.
Das Verhältnis zum Ukrainekrieg scheint zunächst von ganz anderer Natur, doch zeigen sich verwandte Muster – wenn etwa Versuche, sich dem Krieg analytisch zu nähern, sogleich als Verharmlosung Putins geschmäht werden. Ob der Begriff Deportation für das erzwungene Verlassen ostukrainischer Gebiete passend ist, kann nur die Untersuchung der konkreten Umstände ergeben.
Wenn wir mit diesem Begriff stets einen Viehwagon Richtung Vernichtungslager verbinden, legen wir einen Maßstab an, der die Opfer heutiger Geschehnisse dazu verdammt, im Schatten unserer höchsteigenen Verbrechensgeschichte zu verharren. Es versteht sich von selbst, dass ich keine fertigen Antworten auf die von mir aufgeworfenen Fragen anbieten kann. Aber sie öffentlich zu erörtern, könnte mehr Rationalität in die gegenwärtige Debatte bringen.
Die selbstbezüglichen deutschen Scharmützel um die documenta 15 herum wirken heillos deplatziert angesichts der geschichtspolitischen Zerklüftungen, die sich mit dem Krieg und den Umwälzungen in Europa auftun. Und anders als vor einigen Jahren scheint mir die Erinnerung an den Holocaust und den gesamten NS-Verbrechenskomplex heute keineswegs gesichert.
Was tun? Die NS-Geschichte gegen Trivialisierungen und Missbrauch verteidigen, inklusive des Schutzes der Mahnmale für den militärischen Sieg über Nazideutschland. Und zugleich deutsche Befindlichkeiten nicht länger in den Mittelpunkt des Räsonierens stellen. Das ist ein kompliziertes Zweierlei, gewiss, zumal geschichtspolitischer Revisionismus heute in verschiedensten Gewändern auftritt.
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