Demos für Geisel-Freilassung: Gegen das Verdrängen der Schicksale
100 Tage nach dem Hamas-Überfall sind in Tel Aviv und Berlin Hunderte auf die Straße gegangen. Ihr Ziel: die Freilassung der übrigen Geiseln.
Unweit des – trotz Regens – am Sonntagmittag mit mehreren hundert Menschen gefüllten Platzes weist am Bahnhof Ashalom ein Plakat die Passanten auf die Entführten hin. „Viele Israelis sind wieder in ihren Alltag zurückgekehrt“, sagt Daniela, eine 45-jährige Mutter, und schaut auf die Bilder der Entführten. Soldaten mit umgehängten Maschinengewehren steigen aus den Zügen und werfen nur einen flüchtigen Blick auf die Fotos. Die Soldaten sehen erschöpft aus, sie kommen gerade von der Front. „Der Gazastreifen liegt nur eine Stunde von hier entfernt“, sagt ein Soldat, der auf Fronturlaub in seinen Heimatort Modi ist. „Aber viele in Tel Aviv haben nicht nur die Geiseln, sondern auch uns Soldaten aus ihrem Alltag verdrängt.“
Merav Svirsky steht vor dem Museum und will die Regierung und Öffentlichkeit wieder aufrütteln. Wir Angehörigen haben alles gesagt, aber nichts hilft“, sagt sie. Svirksys Eltern wurden am 7. Oktober im Kibbuz Be’eri ermordet, ihr Bruder Itai wurde als Geisel verschleppt. Zusammen mit den Familien von anderen Entführten hat sie den Keim einer neuen Protestwelle geschaffen. Zwar sind die Teilnehmerzahlen noch wesentlich geringer als vor dem Hamas-Massaker. Doch jetzt geht es nicht – wie noch im Sommer – um die umstrittene Verfassungsreform, sondern um jüdische Opfer.
„Wie können wir hier Kinder großziehen und ihnen versprechen, dass alles gut wird, wenn wir wissen, dass wir die Geiseln dort zurückgelassen haben?“, sagt Svirsky auf der Kundgebung. „Wir wollen, dass dieser Albtraum ein gutes Ende nimmt. Meine Eltern werden nicht zurückkommen, aber ich möchte Hoffnung haben“, führt sie aus.
In Berlin ruft die Menge: „Bring them home now!“
Mit der 24-stündigen Kundgebung will die Initiative die Notstandsregierung zwingen, endlich mehr zu tun. „Die Entführten sind doch keine Kombattanten“, sagt ein Demonstrant. „Sie sollten nicht Teil eines politischen Deals sein.“ Wie ernst die Regierung die Angehörigen trotz ausbleibender Massenmobilisierung nimmt, sollen die fast wöchentlichen Treffen mit deren Vertretern zeigen. Dabei gibt sich Premier Benjamin Netanjahu nach außen kompromisslos. „Israel wird seinen Feldzug gegen die Hamas bis zu einem Sieg fortsetzen“, betont er stets.
Auch die Demonstranten vor dem Museum in Tel Aviv fühlen sich von Netanjahu missachtet. Am Samstag forderten Hunderte am Rande der Gedenkveranstaltung seinen Rücktritt. Mit einem kleinen PR-Coup gelang es den Angehörigen, großes Medieninteresse zu wecken. Der Nachbau eines Teilstückes eines Hamas-Tunnels wurde auch von entsetzten Passanten inspiziert. „In solch beengten Röhren harren unsere Kinder, Schwestern und Brüder aus“, sagte Dean, einer der vielen freiwilligen Unterstützer der Gruppe.
Auch in Berlin sind am Sonntag mehrere Hundert Menschen auf die Straße gegangen, um für die Freilassung der Hamas-Geiseln zu demonstrieren – trotz Nieselregen und vier Grad Außentemperatur. Geisel-Angehörige begleiteten auch hier den Protestzug. Sie sind nach Deutschland gekommen, um den Druck auf die deutsche Regierung zu erhöhen. Denn unter den nach Gaza verschleppten Geiseln sind auch Menschen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen – die israelische und die deutsche.
Es ist ein ruhiger Demonstrationszug, familiär. Passanten bleiben mal stehen und machen Fotos. Andere beobachten stumm von ihrem Balkon aus. Eine Frau klatscht den Demonstrierenden zu. Israelfahnen werden hochgehalten und Plakate der Geiseln: Ofer Kalderon, 57 Jahre; Uriel Baruch, 37 Jahre; Chaim Peri, 79 Jahre. Auf dem Weg vom Mauerpark in Prenzlauer Berg nach Mitte werden die Namen und das jeweilige Alter der Geiseln nacheinander verlesen. Dazwischen ruft die Menge immer wieder: „Bring them home now!“
Zwischen dem Berliner Dom und dem Alten Museum steht rund zweieinhalb Stunden später Efrat Machikawa. Sie ist die Nichte von Gadi Moses. Der 79-Jährige wurde am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt. Machikawa hat zu diesem Anlass eine Rede geschrieben und richtet ihre Worte auf Englisch an die Protestierenden: „Dass wir hier am 100. Tag stehen, ist eine Schande“, so Machikawa. Am Ende singt die Menge die israelische Nationalhymne. Ein letztes Mal rufen die Protestierenden: „Bring them home now!“
Korrektur: In einer früheren Version dieses Textes war die Zahl der Menschen, die am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt wurden, falsch angegeben. Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge