Demonstrationen in Syrien: Zweiter Frühling für Proteste
Nach zwölf Jahren Krieg ist Syrien wirtschaftlich am Ende. Das Leid der Bevölkerung entlädt sich in Demonstrationen gegen das Assad-Regime.
Aus Protest gegen die schlechte wirtschaftliche Lage gehen in Syrien erneut Menschen auf die Straße, um einen Sturz des Regimes von Präsident Baschar al-Assad zu fordern. Vor allem im Süden des Landes, der seit Jahren wieder komplett von Damaskus kontrolliert wird, regt sich Protest. Mit rund 2.000 Teilnehmer*innen erlebte die Stadt Suwaida vergangenen Freitag die größte Demonstration seit Beginn der Proteste vor rund zwei Wochen. Aber auch in der einstigen Protesthochburg Daraa, in Aleppo, im von Aufständischen kontrollierten Nordwesten Syriens sowie in der von Kurden kontrollierten Region Hasakeh wurde demonstriert.
Die Proteste begannen, nachdem die Regierung Subventionen für Benzin aufgehoben hatte. Der Schritt verschärfte für viele Menschen die Situation, zumal die wirtschaftliche Lage nach zwölf Jahren Krieg ohnehin verheerend ist. Treibstoff ist knapp, Menschen leiden unter Hunger, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch und die Preise sind durch die Decke geschossen. Nach UN-Angaben leben 90 Prozent der Syrer*innen in Armut.
Stromausfälle in Suwaida dauerten derzeit bis zu 22 Stunden am Tag, berichtet Ahmed Mustafa gegenüber der taz, der aus Angst vor Repressalien nicht mit seinem echten Namen genannt werden will. Die Menschen in der Stadt, aber auch in anderen Landesteilen seien mit den schlimmsten Auswirkungen auf ihre Lebensbedingungen seit Ausbruch des Konflikts 2011 konfrontiert. Viele redeten heute davon, Syrien zu verlassen, da es zu einem unbewohnbaren Land geworden sei.
Demonstrierende trugen in den letzten Wochen Transparente, auf denen sie forderten, die UN-Resolution 2254 aus dem Jahr 2015 umzusetzen. Diese hatte ein Ende der Gewalt vorgesehen und einen Fahrplan vorgelegt, der das Land mit Verhandlungen, einer Übergangsregierung, einer neuen Verfassung und Wahlen aus der Krise führen sollte. Der Plan wurde nie umgesetzt, stattdessen eroberte das Regime mit russischer und iranischer Unterstützung weite Teile des Landes zurück. Im Nordwesten herrschen jedoch noch Milizen, die unter türkischem Einfluss stehen; im Nordosten haben kurdische Kräfte das Sagen, die von den USA unterstützt werden.
Wenn sie hungrig sind, verspeisen sie ihren Präsidenten
Rami Abdullah aus Suwaida, der ebenfalls nicht unter Klarnamen auftreten will, berichtet, dass die Zahl der Demonstrierenden in den vergangenen Wochen stark gestiegen sei. Vor allem Menschen aus der Umgebung von Suwaida seien in die Stadt gekommen. Nachdem Protestierende die Flagge der syrischen Revolution auf dem zentraen Al-Sir-Platz in Suwaida sowie in der nahe gelegenen Stadt Kurejah gehisst hätten, hätten viele ihre Angst verloren. Auch verbrannten Demonstrierende ein großes Plakat Assads, das im Stadtzentrum von Suwaida hing.
Wenn sie hungrig sind, würden die Menschen in Syrien ihren Präsidenten verspeisen, sagt Abdullah. „Wir wollen essen, Baschar“, habe einer der Slogans auf den Demonstrationen gelautet, aber auch: „Geh, geh, Baschar!“ Die Demonstrierenden hätten beschlossen, so lange weiter zu protestieren, bis ihre Forderungen erfüllt sind.
Rajan Maarouf, Direktor des lokalen Nachrichtenportals Suwayda 24, sagte der taz, Suwaida habe seit Beginn der Syrienkrise keine derartigen Proteste erlebt. Ihm zufolge haben die meisten öffentlichen Einrichtungen in der Stadt weiterhin geschlossen. Der öffentliche Nahverkehr befinde sich im Streik.
In der ehemaligen Protesthochburg Daraa sei ebenfalls erneut zum Sturz des Regimes aufgefordert worden. Dort seien viele Einwohner festgenommen worden. Nachdem das syrische Regime im Sommer 2018 die Kontrolle über Daraa wiedererlangt hatte, bemühte sich die Regierung, oppositionelle Männer wieder zu integrieren. Teil dieser oft von Russland vermittelten lokalen Versöhnungsdeals war etwa die Abgabe von Waffen im Gegenzug für Pässe.
Noch nicht mit voller Härte gegen Demonstrierende
Was Maaruf und Abdullah auffällt, ist die Heterogenität der jüngsten Proteste. Die Bewegung würde breite gesellschaftliche Unterstützung genießen. Das Bemerkenswerte sei die Teilnahme von Geistlichen, Intellektuellen, politische Aktivisten und Aktivistinnen sowie von Vertretern von Beduinenstämmen, sagt Abdullah. Offenbar nimmt auch ein großer Teil der drusischen Gemeinschaft und ihrer religiösen Führer teil. Die Region Suweida ist eine Hochburg der religiösen Minderheit der Drusen, die vor allem in Syrien, Libanon und Israel lebt.
Das Regime geht bislang offenbar nicht mit voller Härte gegen die Demonstrierenden vor, was Beobachter auf die Tatsache zurückgeführt haben, dass auch religiöse Führer der Drusen die Proteste unterstützen. Die Proteste finden zudem wenige Monate nach der Rückkehr Syriens in die Arabische Liga statt – zu einer Zeit also, in der mehrere arabische Länder versuchen, ihre Beziehungen zum Assad-Regime zu normalisieren. Nachdem die Liga Syrien 2011 wegen des brutalen Umgangs mit Demonstrierenden im Zuge des Arabischen Frühlings suspendiert hatte, war Syrien im Mai wieder in die Organisation aufgenommen worden.
„Wenn das Regime sich für Blutvergießen entscheidet, wird es einen Krieg geben, der größer ist als der, den wir bereits erlebt haben“, ist sich Maaruf sicher. Das sieht Mustafa ähnlich: Die Menschen in Suwaida seien zu der Gewissheit gelangt, dass es keine Lösung der Wirtschaftskrise geben werde ohne eine politische Lösung. Dies setze den Abgang des Regimes voraus, das zwar siegreich aus dem Krieg mit der Opposition hervorgegangen sei, aber nicht mehr in der Lage sei, das Land zu regieren.
Proteste auch in Aleppo
Kleinere Proteste gab es auch in Aleppo, der zweitgrößten Stadt des Landes, sowie in den Küstengebieten rund um Latakia, die als besonders loyal Assad gegenüber gelten. Auch in den Rebellengebieten im Nordwesten kam es zu Protesten.
Der Aktivist Akram al-Idlibi berichtete der taz, dass es dort in den vergangenen Tagen unter dem Titel „Revolution für alle Syrer“ zu Demonstrationen gekommen sei. Mehrere tausend Menschen seien auf die Straße gegangen und hätten ihre uneingeschränkte Unterstützung für die Volksbewegung in Suwaida und Daraa zum Ausdruck gebracht. „Suweida, wir sind bei dir bis zum Tod“, sei einer der Slogans gewesen.
Der bis heute andauernde Syrienkrieg hatte 2011 begonnen, als das Regime Massenproteste im Süden des Landes brutal niederschlagen ließ. Die Intensität der Kampfhandlungen hat mittlerweile stark nachgelassen, doch eine politische Lösung ist nicht in Sicht. Mindestens 300.000 Zivilist*innen wurden in dem Konflikt getötet, die Hälfte der einst 23 Millionen Einwohner*innen des Landes wurde vertrieben.
Aus dem Arabischen Jannis Hagmann
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