Demonstrationen in Europa: Protest? Protest!
In Frankreich und Ungarn rebellieren Bewegungen gegen die Mixtur aus Neoliberalismus und autoritären Posen – und spiegeln die Herrschenden.
Hunderttausende in Frankreich, Zehntausende in Ungarn, Zehntausende in Österreich. Ist es Zufall, dass in Europa Regierungen massenhaft auf der Straße kritisiert werden? Gibt es bei den Protesten sogar eine gemeinsame Agenda?
Auffällig ist, dass die Proteste kaum jemand hat kommen sehen, schon gar nicht die Spin-Doctors und Mächtigen in Budapest und Paris. Die Proteste waren nicht vorgesehen. Sie werden nicht, wie das Orbán-Regime kläglicherweise behauptet, in Ungarn von dem US-Milliardär George Soros gesteuert: Sie sind nicht zentral organisiert, nicht von Gewerkschaften, Parteien, NGOs, sondern spontan über Facebook vernetzt. Sie sind diffus, offen, anarchisch, wütend. In ihren Reihen finden sich Rechte, Linke, Unpolitische, Basisaktivisten.
Es gibt Unterschiede: In Ungarn protestieren vergleichsweise wenige, in Frankreich viele. In Frankreich rebelliert die Provinz gegen die Metropole, in Ungarn strahlt die Bewegung zaghaft über die Hauptstadt hinaus. In Budapest richtet sich der Unmut gegen Korruption und Nepotismus des Orbán-Regimes und die dreiste Gleichschaltung der Medien. In Budapest tragen die Demonstranten Europafahnen als Symbol der Demokratie, die Gelbwesten erwarten von Brüssel hingegen eher Ungutes und misstrauen Macrons Europapathos.
Aber: Wie in Wien, wo die Opposition im Sommer gegen verlängerte Arbeitszeiten massenhaft mobilisierte und trommelte, steht das Soziale im Zentrum. Die Gelbwesten haben Macron, der – typisch für abgeschottete Regenten – viel zu spät reagierte, genötigt, Steuererhöhungen für Normalverdiener rückgängig zu machen und den Mindestlohn zu erhöhen. Damit haben sie für einen Moment die Rolle der demolierten Gewerkschaften übernommen.
Deutsche Werkbank Ungarn
In Ungarn richtet sich der Widerstand gegen ein Gesetz, das 400 Überstunden im Jahr ermöglicht, die erst drei Jahre später bezahlt werden müssen. Damit betätigt sich die Orbán-Regierung de facto als Lohndrücker. Ungarn ist die schlecht bezahlte Werkbank vor allem der deutschen Autoindustrie. Dort verdient man ein Drittel von dem, was in deutschen Fabriken bezahlt wird.
Das Problem der ungarischen Regierung ist: Die Arbeitslosigkeit liegt unter vier Prozent. Hungerlöhne plus fast keine Arbeitslosigkeit bedeutet: Die ArbeiterInnen können höhere Löhne verlangen. Das will Orbán verhindern – Ungarn soll als Niedriglohnland attraktiv bleiben. ArbeitsmigrantInnen ins Land zu holen, kommt für das xenophobe Regime nicht in Frage.
Die Bewegungen in Frankreich und Budapest entzünden sich an Orbáns diktatorischem Gestus, und an Macrons präsidialer Eitelkeit. Die sticht besonders ins Auge, weil Macron vor Kurzem noch Kopf der Basisbewegung En marche war. Die Gelbwesten sind das auf den Kopf gestellte Spiegelbild von En marche. Beide sind nicht rechts, nicht links. Beide sind Pflanzen, die auf dem Trümmerhaufen des alten Parteiensystems wuchsen. Die Gelbwesten und Macron kamen wie aus dem Nichts, sie sind Produkte des Ruins klassischer politischer Repräsentationen.
Anarchos wie David Graeber feiern die Gelbwesten als vorbildliche, basisdemokratische Bewegung. Das ist wishful thinking. Was schnell wuchs, kann schnell wieder zerfallen. Aber es sind Suchbewegungen, tastend, irrend, mal hässlich, immer fragil. Ihre Wut gilt nicht (oder nur am Rand) dem Flüchtling als Verkörperung der Globalisierung, die Wut richtet sich gegen die Zumutungen des Neoliberalismus. Das ist keine schlechte Nachricht.
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