piwik no script img

Dekolonisierung der russischen SpracheEin Imperium des Wortes

Noch immer gibt es im Russischen geografische Begriffe aus der Sowjetzeit, die heute schlicht imperialistisch sind. Und damit falsch.

Ukrainisches Rekrutierungsplakat, 2023. Der Gebrauch der ukrainischen Sprache ist auch ein politisches Statement Foto: Alina Smutko/Reuters

Der Zerfall der Sowjetunion führte zu einer ganzen Reihe von Tragödien. Eine davon sieht gerade die ganze Welt: den Krieg in der Ukraine. Das Sowjetimperium ist kollabiert, aber die Folgen davon sind bis heute schmerzhaft und zeigen sich auch immer wieder in der Sprache.

Das Beispiel Baltikum

In der russischen Sprache gibt es das Toponym „Pribaltika“ – es ist in der sowjetischen Zeit entstanden und bezeichnet eine Region, die die drei baltischen Republiken umfasst: die lettische SSR (Sozialistische Sowjetrepublik), die litauische SSR und die estnische SSR („Pribaltika“ ist nicht die wortwörtliche Entsprechung des im Deutschen gebräuchlichen Toponyms „Baltikum“, deswegen wird hier sowie bei den folgenden Beispielen das russische Wort beibehalten; Anm. der Übersetzerin).

Maria Bobyleva

ist Chef-Redakteurin beim Portal „Takie dela“ (Russland) und Autorin der Bücher „So sprechen wir. Verletzende Wörte und wie man sie vermeidet“ und „Poetik des Feminismus“ Seit März 2022 lebt sie in Riga (Lettland).

Fünfzig Jahre lang, vom Augenblick des Anschlusses dieser drei Länder an die UdSSR im Jahr 1940 bis zu ihren Unabhängigkeitserklärungen 1990, war der Begriff fest in der russischen Sprache verwurzelt und wird bis heute häufig verwendet (vor allem von der älteren Generation), wenn man von den drei Staaten spricht.

Aber allein hinter diesem einen Wort verbirgt sich ein Konflikt. Das russische „Pribaltika“ bezeichnet ein Gebiet am Rande eines Imperiums, irgendwo dort, weit weg an der Ostsee (auf Russisch: „Baltisches Meer“ – „Baltijskoje More“; die russische Vorsilbe „pri“ bedeutet „bei, in der Nähe“; Anm. der Übersetzerin).

Heute lehnen die Staaten des Baltikums – und genau so und nicht anders werden sie genannt – das Wort „Pribaltika“ prinzipiell und entschieden ab, weil durch dieses Wort der Imperialismus und Kolonialismus Russlands ausgedrückt wird, einem Land, unter dem alle drei Länder stark gelitten haben, von dem sie sich dann befreiten – und heute mit Schrecken auf den großen und furchterregenden Nachbarn im Osten schauen.

Jetzt unterstützen!

Unterstützen Sie die taz Panter Stiftung und ihre Projekte in Osteuropa mit einer Spende. Mehr erfahren

Das Beispiel südlicher Kaukasus

Fast genauso verhält es sich mit dem Toponym „Sakawkasje“. Auch dieser Begriff ist in sowjetischer Zeit entstanden und bezeichnet drei Länder: Georgien, Armenien und Aserbaidschan (alle drei sind früher als die Staaten des Baltikums Teil der Sowjetunion geworden). Der Begriff „Sakawkasje“ bedeutet: eine Region „hinter dem Kaukasus“, das heißt: irgendwo in den kaukasischen Bergen. Das Wort selber verweist uns damit also auf die Stelle, von wo aus der Sprechende auf diese Region schaut. Ganz offensichtlich von Zentralrussland, aus Moskau.

Für Moskau sind sowohl „Pribaltika“ als auch „Sakawkasje“ entlegene Gebiete eines großen Reiches, seine zweitrangigen, untergeordneten Anhängsel. Aber seit dem Zerfall der UdSSR hat sich die Welt verändert. Georgien, Armenien und Aserbaidschan sind jetzt selbständige Staaten und keine Randgebiete oder Anhängsel von irgendetwas. Für die Menschen in Georgien ist „Sakawkasje“ Woronesch, Rostow – oder sogar Moskau – nämlich etwas, was „hinter dem Kaukasus“ liegt, von ihrem geografischem Standpunkt aus gesehen. Deswegen muss diese Region heute „südlicher Kaukasus“ genannt werden. Und nicht anders.

Das Beispiel Ukraine

Nach genau dieser Logik sagen diejenigen, die gegen den Krieg in der Ukraine sind „in der Ukraine“, und nicht „auf der Ukraine“ (auf Russisch „v Ukraine“ bzw. „na Ukraine“; Anm. der Übersetzerin). Letzteres verwenden all jene, die die Ukraine nicht für einen unabhängigen Staat halten.

Wenn man auf Russisch nämlich von einem Land spricht, benutzt man die Präposition „in“: In Deutschland, in Spanien, in Brasilien. Und die Präposition „auf“ benutzt man immer dann, wenn man frei von Subjektivität über ein Gebiet spricht, von der (russischen) Region Stawropol zum Beispiel, oder vom „fernen Osten“ (gemeint ist hier die Pazifikregion der Russischen Föderation, auf Russisch „Dal’nyj Wostok“, Anm. der Übersetzerin).

Wenn man auf Russisch also „auf der Ukraine“ sagt, bedeutet das, dass man damit dem Land quasi sein Recht auf Unabhängigkeit abspricht.

Ich denke, man muss nicht erklären, wie schmerzhaft diese Frage im Jahr 2023 ist, in dem die russländische Staatspropaganda unveränderlich weiter „auf der Ukraine“ schreibt und spricht. Und das ist natürlich eine politische Frage.

Alle unabhängigen russländischen Medien (von denen sich die meisten nicht mehr auf dem Gebiet der Russländischen Föderation befinden) verwenden „in der Ukraine“, obwohl auch sie fast alle bis vor anderthalb Jahren bis Kriegsbeginn „auf der Ukraine“ genutzt haben. Denn bis zu Beginn des Großangriffs Russlands war diese Frage lange nicht so schmerzhaft wie jetzt.

Es gibt noch eine Menge weiterer russischsprachiger Toponyme, die während der Sowjetzeit entstanden sind, die heute hoffnungslos veraltet sind und politisch unkorrekt: Weißrussland (Belorussija), Moldawien (Moldawija), Kirgisien (Kirgisija), Mittelasien (Srednjaja Asija) – statt Belarus, Republik Moldau, Kirgisistan und Zentralasien.

Es ist verständlich, dass die Fragen des Wortgebrauchs umso schmerzhafter werden, je schwieriger die politische Lage in diesen Ländern ist und je angespannter ihre Beziehungen zu Russland sind.

So ist zum Beispiel der Gebrauch des Wortes „Belarus“ und sogar „belarussisch“ (statt „weißrussisch“) nach dem 2020, dem Jahr der Massenproteste, ein wichtiges Kennzeichen der Sprecher*innenposition: Denn es zeigt insbesondere, dass sie bzw. er nicht das Regime Lukaschenko unterstützt.

Bei all diesen Beispielen ist die Logik bei der Verwendung der neuen Toponyme immer die gleiche: Die alten Wörter mit kolonialem Bezug müssen verschwinden – zusammen mit dem Imperium, das sie hervorgebracht hat. Und sie müssen neuen Platz machen, um die Subjektivität und politische Realität der von Russland unabhängigen Länder widerzuspiegeln.

Maria Bobyleva ist russische Journalistin und Autorin. Sie lebt seit März 2022 im lettischen Exil.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!