Debatte um rassistische Sprache: Höllen der Väter
Wolfang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ ist eine Zumutung. Aber mit semantischen Schonzonen lassen sich andere Realitäten nicht durchdringen.
Tauben im Gras“ – Wolfgang Koeppens Buch aus dem Jahr 1951 ist eine Zumutung. Ein düsteres Panorama aus dem München der Aufbaujahre. Im Zentrum zwei Paare: ein antriebsloser Schriftsteller und seine alkoholsüchtige Frau aus zerbombtem guten Haus, die vom Verkauf der geerbten Antiquitäten leben. Eine alleinerziehende Kriegswitwe, die vom Wehrmachtsbüro zur US-Transporttruppe gewechselt ist und – in einer unklärbaren Mischung aus Not und Zuneigung – mit dem schwarzen Sergeant Washington Price zusammenlebt.
Um sie herum ein paar Dutzend weitere Akteure: ein Obermusikdirektor, der in Kaschemmen Jazz versucht, Nazis, ein Abtreibungsarzt, ein bigottfrommes Kindermädchen, ein abgetakelter Filmstar, amerikanische Lehrerinnen und viele mehr. Es gibt Liebe in allen Varianten: der rührenden, der unschuldigen, der berechnenden, der schmutzigen; es gibt Gemeinheit aus Not oder aus Neid, einen Weltstar des europäischen Geistes und mordlustige Kinderbanden. Sie alle kämpfen ums Überleben, für ein wenig Brot, für eine kleine Lust, schleppen Vergangenheit in sich herum in einer „Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld“.
Und da ist der Koeppen-Sound, die gehetzte Fahrt von Schauplatz zu Schauplatz, von den Ruinen ins verpisste Brauhaus, die Kasernen, die Kuchencafés, das Amerikahaus, dazu die O-Töne: verblasene Geistigkeit, kalkulierende Bosheit, verdeckte Geilheit, Nazisprüche, Radionachrichten, Gossensprache, alles vermengt mit dem Assoziationsschatz eines mit allen Motiven der europäischen Geistesgeschichte ausgestatteten Autors und seinem an Sinn und Moral verzweifelten Blick.
Am Ende schmeißt der Mob mit Steinen, es gibt Tote und es bleibt der Traum des „positiven Helden“ Washington Price von einer „Welt, in der niemand unerwünscht ist“. Der Roman ist eine atemlose wie präzise Verdichtung einer Epoche auf einen Tag, ein existentialistisches Welttheater.
Eine Zumutung, dieser Roman, mit seinem nur mit Spurenelementen von Positivem durchsetzten, präzisen Blick auf Elend – selbstverschuldetes und zugefügtes. Und mit seiner aus der Wirklichkeit jener Jahre destillierten und deshalb mit antisemitischen Klischees und jeder Menge N-Wörtern durchsetzten Sprache. Wegen dieser Wörter kämpft eine Ulmer Lehrerin mit einer Petition dafür, „Tauben im Gras“ vom Lektüreplan der Gymnasien in Baden-Württemberg zu streichen. Auf den 230 Seiten des Buches komme das abwertende N-Wort etwa hundert Mal vor, dies sei ein „brutaler Angriff“ auf ihre Menschenwürde und die ihrer Schüler, die ein Recht auf eine diskriminierungsfreie Lernatmosphäre hätten. Während sich mehrere Hochschuldidaktiker dieser Sichtweise anschlossen, will die Kultusministerin, Theresa Schopper, am Status der Pflichtlektüre des Romans festhalten. Die Feuilletons verteidigten das Buch mehrheitlich, aber es gab auch Stimmen, vor allem aus der Pädagogik, die sich die Petition zu eigen machten.
Als Mitglied der Wolfgang-Koeppen-Stiftung, die von Günter Grass und Peter Rühmkorff gegründet wurde, bin ich Partei. Aber die Frage, wie umzugehen ist mit der durch Literatur vermittelten Vergegenwärtigung von Ideologien, Sprechweisen, Unmoral – ist komplizierter. Der Streit wird bleiben. Selbst im Vorstand der Koeppen-Stiftung konnten wir uns nicht auf eine Presserklärung einigen. Wie kommt es, dass der Streit so oft – wie der in der Genderfrage – unversöhnlich wird? Dass das bloße Auftauchen des diskriminierenden Wortes, auch als Zitat, als realer Angriff empfunden wird, dass selbst die unbezweifelbare Integrität des Autors nicht als Argument zählt?
Ich kann schlecht argumentieren gegen jemanden, der verletzt ist. Ich muss das respektieren. Aber ich frage mich, ob diese Sensibilität nicht auch eine Verarmung nach sich zieht: den Verzicht auch der Verletzten, sich über die Empfindung hinaus auf eine durchwachsene Realität einzulassen und die Gründe für unakzeptable Haltungen zu durchdringen. Rassismus, Antisemitismus, Diskriminierung dürfen nicht geduldet werden – aber wie soll das gelingen, wenn schon ihre Darstellungen tabuisiert werden. Müssen wir uns nicht an die „Höllen der Väter“ (Graham Nash, „Teach your Children“) erinnern, um zu wissen und zu fühlen, auf welchem Weg wir sind und immer noch nicht angekommen sind? Machen semantische Schonzonen nicht wehrloser?
Buch aus einer anderen Zeit
Wir leben in einer anderen Zeit, sagen die Sprachreformer. Das stimmt, aber es geht nicht um die Frage, ob man noch „Lustig ist das Zigeunerleben“ oder „Negeraufstand ist in Kuba“ in Jugendgruppen singen soll. Es geht in der Auseinandersetzung mit dem Koeppen-Buch um Literatur als Form der Erkenntnis. Und unter diesem Aspekt sind die „Tauben im Gras“ vielleicht wirklich ein Buch aus einer anderen Zeit, nicht geeignet für Abiturklausuren. Nicht wegen des N-Wortes, sondern weil der mit literarischen, mythischen und historischen Bezügen gesprenkelte und durchsetzte Text für heutige Abiturienten einfach zu komplex ist, weil auf jeder Seite ein paar Fußnoten stehen müssten.
Und weiter: Weil wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben, in der ein gutes Viertel (Tendenz zunehmend) der Jugendlichen nicht mehr über Eltern, Großeltern, Familiengeschichten mit der deutschen Geschichte verbunden ist. Und weil deren Traditionen und der mit ihnen verbundene Wissenskanon mit dem Schrumpfen der alten Bildungsschichten verblasst sind – auch für die Kinder der lange Ansässigen.
„Tauben im Gras“ ist ein großartiges Buch, es gehört in jedes Universitätsseminar zur deutschen Literatur. Und der kleine Skandal führt ihm hoffentlich ein paar Tausend neue Leser zu, aber die Frage, was in Schulen gelesen werden sollte, nachdem wir die „Leitkultur“ freudig verabschiedet haben, verdient ein publizistisches Dauergespräch und viele mutige Experimente.
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