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Debatte um ZwangsmaßnahmenWohlverhalten oder Kindeswohl

Kommentar von Holger Ziegler

Die Bundesregierung plant ein Gesetz, das die Messlatte für Zwangsmaßnahmen bei Kindern und Jugendlichen senkt. Gute Gründe dafür gibt es nicht.

Kinder fesseln hilft vor allem den Erwachsenen Foto: dpa

J unge Menschen und ihre Familien haben bisweilen Bedürfnisse nach Unterstützung, die sich vernünftigerweise nicht wegdefinieren lassen. Auch dass es relativ zu solchen Bedürfnissen insgesamt nicht zu viel, sondern zu wenig öffentliche Unterstützung gibt, ist eine Tatsache. Dabei kann es auch um Maßnahmen gehen, die von den Betroffenen nicht aktiv erbeten werden. Ein solcher Paternalismus, der sich gegebenenfalls rechtfertigen lässt, beschreibt über weite Strecken die Realität der Kinder- und Jugendhilfe.

Die Frage, um welche Art der Unterstützung es dabei geht, stellt sich trotzdem. Wenn Unterstützung darin besteht, Minderjährige einzusperren oder zu fesseln, löst dies in der Regel selbst bei nur mäßig liberalen ­Bür­ge­r*innen Unbehagen aus. Zu Recht.

In einer offenen Heimeinrichtung wurde ein autistisches Kind regelmäßig gefesselt. Die Eltern waren mit dieser in der Fachsprache Fixierung genannten Fesselung einverstanden. Nach derzeitigem Recht genügt das. Akzeptabel ist es deswegen noch lange nicht. Die Bundesregierung und die Grünen haben nun zwei ähnliche Gesetzentwürfe vorgelegt: Freiheitsentziehungen sollen nun auch bei Minderjährigen generell einem richterlichen Genehmigungsvorbehalt unterliegen.

Zwangsmaßnahmen „unterhalb“ geschlossener Heime, wie etwa Einschließungen in sogenannte Time- out-Räume oder Fixierungen, sollen in der Jugendhilfe keine Strafen darstellen, sondern, so ein Hamburger Eckpunktepapier, der erzieherischen Neutralisierung von Fehlverhalten dienen. Trotzdem wird im Kontext solcher Maßnahmen bisweilen bestraft, dass es kracht. Zum Teil werden in der Praxis Programme angewendet, die von Bootcamps kopiert sind. Das Leben der jungen Menschen wird dabei in einem Ausmaß und einer Kleinteiligkeit durch Regel- und Strafkataloge reglementiert, die sich in typischen Familien kaum finden dürften.

Vom Bootcamp abgeguckt

Freiheitsentziehende (Zwangs-)Maßnahmen der öffentlichen Pädagogik sollen dem Kindeswohl dienen. Dieses Ziel gilt aber für alle Leistungen und Angebote der Jugendhilfe: Der deutungsoffene Kindeswohlbegriff steht daher hinter Versuchen, junge Menschen zu befähigen und zu „empowern“, hinter Forderungen nach Partizipation und Mitbestimmung – aber eben auch hinter Fesseln und Einsperren. Kindeswohl ist die fundamentale Kategorie für eine öffentlich verantwortete Erziehung, schon allein, weil die Erziehungsrechte bei den Eltern liegen und der Staat nur zur Sicherstellung des Wohls der Kinder eingreifen darf. Das sehen unter anderem das Grundgesetz, das Bürgerliche Gesetzbuch und die UN-Kinderrechtskonvention so vor.

Für freiheitsentziehende Maßnahmen lag die Messlatte aber lange Zeit höher. Als zulässig galten sie nur für die je kürzestmögliche Dauer zur Abwendung von konkreten erheblichen Selbst- und Fremdgefährdungen, das heißt Gefährdung von Leib und Leben. 2008 wurde der entsprechende Gesetzestext Paragraf 1631b BGB aber verändert: Die „erhebliche Selbstgefährdung“ ist nicht mehr das entscheidende Kriterium, sondern wird nur noch beispielhaft genannt. Wie der Bundesgerichtshof ausführt, hat der Gesetzgeber „davon abgesehen, Gründe für eine geschlossene Unterbringung abschließend aufzuzählen, da diese Gründe zu vielschichtig sind“.

Die erhebliche ­Selbst­gefährdung ist nicht mehr das entscheidende Kriterium

Hier lauert nun eine Gefahr. Die Gründe der erzieherisch begründeten geschlossenen Unterbringung sind in der Tat vielschichtig und oft weit entfernt von erheblicher Selbstgefährdung. Bisherige Forschungen haben nicht ausmachen können, für welche jungen Menschen Zwangsmaßnahmen und geschlossene Heime eingesetzt werden und für welche nicht. Kriminalität, Schulverweigerung und die Tatsache, dass andere Einrichtungen mit den jungen Menschen nicht zurechtkommen, sind die häufigsten Gründe. Diese Kinder sollen gebessert werden. Sie sollen, wie das Landesjugendamt Rheinland ausführt, „durch strenge Regeln und begrenzte Freiräume [. . .] ihr Verhalten neu orientieren und sozial akzeptableres Verhalten lernen“. Durch Einsicht und Kooperation sollen sie „sich die Freiheit schrittweise zurück [. . .] erobern“ und die „Bereitschaft entwickeln“, das Angebot „quasi als eine Bewährungsprobe anzunehmen“. Dieses freiheitsentziehende „Angebot“ anzunehmen, kann aber dauern: Auf etwa 18 Monate sind geschlossene Heime ausgerichtet. Bereits daran wird deutlich, dass es um erzieherische Programme und nicht um die Abwehr akuter Gefährdungen geht.

Zurück zur Heimkampagne

Statt dies wieder zurückzunehmen, beschränkt sich die Bundesregierung auf einen gerichtlichen Genehmigungsvorbehalt pädagogisch durchtränkter, durch Kindeswohlfunktio­nalität begründeter geschlossener Heime und anderer Formen der Freiheitsentziehungen. Sie unterstreicht damit, dass solche Maßnahmen genehmigungsfähig sind.

Für pädagogische Maßnahmen dieser Art gibt es aber auch jenseits ethischer Einwände keinen Grund. Es gibt Alternativen, die in der Wirkungsforschung auch dann als effektiver gelten, wenn man Wohlverhalten mit Kindeswohl verwechselt. Teilt man die Perspektive, das Wohl von Kindern hänge damit zusammen, sie in die Lage zu versetzen, Zustände und Praktiken zu realisieren, die sie selbst für ihr eigenes Leben begründet wertschätzen können, erschließt sich der Sinn solcher Zwangsmaßnahmen noch weniger.

taz-Leser*innen dürfte die Haasen­burg GmbH ein Begriff sein. Die Kommission zu deren Untersuchung stellte in ihrem Abschlussbericht fest, dass sich die „Pädagogik in der Haasen­burg [. . .] im Angebotskern, in Verfahrensweisen und auch in den fachtheoretischen Grundlagen nur gering und partiell“ von anderen geschlossenen Einrichtungen unterscheide. Daraus kann es nur eine Folgerung geben: diese Praktiken zu unterbinden und entsprechende Einrichtungen zu schließen.

Da solche Praktiken nicht auf geschlossene Heime beschränkt bleiben, sondern auch in die „normale“ offene Heimerziehung durchsickern, spricht viel dafür, den Faden der Heimkampagne der 1970er Jahre wieder aufzunehmen. Der Verweis auf Kinderrechte sollte einem Zivilisierungsschub dienen, nicht seinem Gegenteil.

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8 Kommentare

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  • Kaija Kutter , Autorin , Redakteurin taz-Hamburg

    Das Problem ist folgendes, wie es auch die Tübinger Rechtswissenschaftlerin Hannelore Häbel in einer Stellungnahme vom 26.4.17 beschreibt: "Die Gesetzentwürfe ziehen als materiellrechtliche Voraussetzungen die Voraussetzungen für die Genehmigung der bisher schon genehmigungspflichtigen mit Freiheitsentziehung verbundenen Unterbringung heran. In § 1631 b Satz 2 BGB bisherige Fassung heißt es: ,Die Unterbringung ist zulässig, wenn sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- und Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfe begegnet werden kann.' Der Begriff des Kindeswohls – als unbestimmter Rechtsbegriff in der Rechtanwendung bezogen auf den Einzelfall zu konkretisieren – umfasst eine unvorhersehbare Vielzahl von Fallkonstellationen, die sich auf Erziehung und Entwicklung des Kindes beziehen. Der Gesetzeshinweis ,insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- und Fremdgefährdung' ändert nichts an dieser Einschätzung. Es handelt sich hier um die Hervorhebung besonders prägnanter Beispiele, die „insbesondere“ angesprochen sind, aber nicht ausschließlich. Zur Vielfalt der Indikationen bzw. Indikationsstellungen für mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringungen in der Praxis vgl z. B. Hoops/Permien 2006. Mit den Gesetzentwürfen wird der Eindruck erweckt, freiheitsentziehende Maßnahmen könnten pädagogisch sinnvoll und positiv für das Kindeswohl sein. Die Gesetzentwürfe blenden hier die in Jugendhilfepraxis und Fachliteratur heftig umstrittene Frage der Sinnhaftigkeit und Zulässigkeit von Zwang in der Pädagogik aus."

  • Es geht doch wohl um diesen Gesetzentwurf:

    http://dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2016/0793-16.pdf

     

    Sollte ich den Entwurf richtig versanden haben, dann werden doch die Hürden für alle Massnahmen höher gelegt, da ein Familiengericht die Massnahmen genehmigen muss und die Höchstdauer von freiheitsentziehenden Unterbringungen wird verkürzt:

     

    (...)" 1. Durch die Erweiterung des §1631b BGB um einen Absatz 2 wird ein

    familiengerichtliches Genehmigungserfordernis für freiheitsentziehende Maßnahmen

    vorgeschlagen. Auf diese Weise soll auch die elterliche Entscheidung für ein Kind,

    das sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält

    und dem durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise

    über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig in nicht altersgerechter Weise die

    Freiheit entzogen werden soll, unter den Vorbehalt der Genehmigung durch das Familiengericht gestellt werden. Der Entscheidungsprimat der Eltern in Bezug auf die

    grundsätzliche Anwendung und die Art und Weise von freiheitsentziehenden

    Maßnahmen bleibt dabei in vollem Umfang erhalten.

     

    2. Die Höchstdauer von freiheitsentziehenden Unterbringungen und freiheits-

    entziehenden Maßnahmen bei Minderjährigen wird auf sechs Monate, bei

    offensichtlich langer Sicherungsbedürftigkeit auf ein Jahr verkürzt. Für beide

    Genehmigungsverfahren nach § 1631b BGB wird ferner die obligatorische Bestellung

    eines Verfahrensbeistands für das Kind vorgesehen. "(...)

  • Und dann wundern sie sich noch, dass sich die Bildung im internationalen Schnitt eher verschlechtert. Hauptsache wir stecken das Geld in die Digitalisierung, vielleicht haben wir dann in naher Zukunft Ruten aus Laser. Vorwärts in die Vergangenheit!

  • Diese Leute verwechseln nicht nur Kindeswohl und Wohlverhalten. Sie können vor allem ihr eigenes Wohl nicht vom Wohl anderer unterscheiden – weil sie das Wohl der anderen nicht einmal wahrnehmen vor lauter Selbstbezogenheit.

     

    Einen Willen zu brechen, kann dauern. Auch wenn es sich dabei um den Willen eines Minderjährigen handelt. In manchen Fällen ist es in 18 Monaten zu schaffen. In anderen reicht nicht einmal ein ganzes Leben. Vor allem dann nicht, wenn dieses Leben kürzer ist als ein normales, weil der Lebenswille zu Bruch gegangen ist, bevor das „Angebot“ der Erziehungsberechtigten als solches empfunden werden konnte.

     

    In fünfzig Jahren werden sich die Leute, die heute für die Verschärfung der Regeln in den Heimen sorgen, womöglich schämen. Heute tun sie es noch nicht. Es ist noch viel zu üblich und normal, Wohlverhalten mit Gewalt zu erzwingen. Nicht nur in Heimen. Da aber eben auch. Gewalt aber schafft immer Hass. Hass, der sich (auch) in "Heimen" fokussieren wird.

     

    Leider scheinen die (Volks-)Erzieher trotzdem sicher zu sein, dass sie sich wohl verhalten, wenn sie Kinder quälen (lassen). Wieso? Vermutlich weil sie niemand straft. Sie glauben wohl, es wäre schon ein „weiter so!“, wenn niemand ihnen Angst zu machen sucht, auf dass sie sich am sogenannten Riemen reißen: Die Kinder, die die Regeln nicht beherrschen (wollen), schon einmal nicht. Die Eltern, die sich überfordert fühlen, weil sie von Pädagogik keine Ahnung haben, auch nicht. Schon zweimal nicht, wenn sie sich mit den Schwarzen Pädagogen einig sind. Und Vater Staat? Der gibt den letzteren gerade wieder freie(re) Hand. Er mag den Untertanen wohl nicht drohen. Er lässt sie einfach machen, was sich machen lässt im Konsens mit den Eltern, die erkennbar schon versagt haben.

     

    Er ist wirklich zum Kotzen, dieser Rollback überall!

    • @mowgli:

      Jetzt, liebe @Mowgli, haben Sie uns ausführlich und eindringlich dargelegt, was alles NICHT geht, NICHT sein darf in der Heimerziehung. Vielen Dank.

       

      Sie werden uns doch aber sicher auch noch wissen lassen, wie z.B. mit einem/r kräftigen, gewaltfixierten 16-jährigen umzugehen ist, der/die erfolgreich Vasallen um sich schart, durch Androhung oder Ausübung von Gewalt seine/ihre Machtgelüste realisiert und den Erziehungserfolg ALLER Heiminsassen zu konterkarieren droht?

       

      Ich bin sehr gespannt auf Ihre Rezepte (zumal ich dies oder jenes schon vorausahne).

      • @Bitbändiger:

        Wie die Meisten , hat er kein Rezept, nur diffuse Vorstellungen was nicht sein darf.

      • @Bitbändiger:

        Vll ist es auch gänzlich unmöglich, an einem solchen Jugendlichen irgendeinen effektiven Hebel anzusetzen, wenn gleich schon klar sein dürfte, dass das was man jetzt mit ihm anstellt, alles noch schlimmer macht. Schwer scheint allerdings die Akzeptanz zu sein, vor solchem Menschen in erzieherischer Sicht und mit heutigem pädagogischen Horizonts zu kapitulieren; Doch darin könnte auch die Chance liegen, den geringsten Schaden für alle gewählt zu haben. Ein Angebot des Unterschlupfs, ein Ort des immer wieder geschenkten Vertrauens und der Rückkehr, wäre auf jeden Fall besser, als das was man heute als Erziehung in diesem Kontext begreift.

        Doch erstes Mittel muss die Prävention sein. Enges Betreuernetz um potentielle Problemfamilien, die als Freund derer daherkommen, und nicht als Vollstrecker. Da ist der Staat gefragt und was dieser dafür für Mittel bereitzustellen gewillt ist. Jugendamtsmitarbeiter sind in diesbezüglichem Habitus eher radikale Brandbekämpfer, als mildes Korrektiv. Da ist der Hase im Pfeffer.

  • Eltern dürfen in Deutschland noch sehr viel mehr Zwang (egal ob pädagogisch oder nicht) gegenüber ihren Kindern ausüben, als in diesem Artikel auch nur angedeutet. Dass jetzt Eltern und andere Erziehungsberechtigte aber auch die betroffenen Nicht-Volljährigen die Möglichkeit bekommen solche Maßnahmen von Gerichten überprüfen zu lassen, ist ein Fortschritt.