Debatte um Wehrpflicht und Abhörskandal: Demokratische Abwehrbereitschaft
Deutschland mangelt es an Abwehrbereitschaft, dafür muss Personal her. Aber auch Diplomatie und Desinformation im Netz müssen mitgedacht werden.
E s sind harte Zeiten für die deutsche Außenpolitik. Das Taurus-Debakel und die unklaren Aussagen von Bundeskanzler Olaf Scholz, warum eine Lieferung des Marschflugkörpers an die Ukraine nicht machbar sei, läuteten ein Kommunikationsdesaster ein. Hinzu kam die peinliche Abhöraffäre. Bundeswehrspitzen sind offenbar nicht in der Lage, ihre digitale Kommunikation so zu organisieren, dass der Feind nicht mithören kann.
Da helfen die markigen Ansagen von Verteidigungsminister Boris Pistorius wenig, wenn er den Fall einerseits als schwerwiegend bezeichnet und sich andererseits bei der Ursachenforschung relativ bedeckt hält. Deutschland wirkt mehr als anfällig gegen die Nadelstiche aus dem Kreml.
Die Konsequenz war dieser Tage intensive Krisendiplomatie, um den Schaden bei den Verbündeten in Europa und in den USA zu begrenzen. Fatal sind etwa Aussagen aus Großbritannien, die dem Kanzler und der Regierung bescheinigen, eine Gefahr für die internationale Sicherheit zu sein. Erneut wird sichtbar, dass sich Kanzleramt und Außenministerium, konkret Scholz und Annalena Baerbock, wenig einig sind, weder bei der Taurus-Lieferung noch bei einer gemeinsamen Strategie, um sich gegen Attacken russischer Propaganda zu wappnen.
In dieser allgemeinen Hilflosigkeit treibt Pistorius seine Pläne für die Wiedereinführung einer Wehrpflicht voran, wie auch immer diese aussehen wird. Auf seinem Trip nach Skandinavien begutachtete er Modelle wie das schwedische, das vorsieht, dass zwar alle jungen Frauen und Männer eines Jahrgangs gemustert werden, aber nur ein ausgewählter Teil tatsächlich den Grundwehrdienst leistet. Daraus speist sich dann eine Reserve, die im Ernstfall einsetzbar ist.
Dass dieser Ernstfall durchaus kommen kann, ist spätestens seit Februar 2022 klar. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erhöht sich die Bedrohungslage in Europa, auch in Deutschland. Zuvor wurde die Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht zuletzt vor allem diskutiert, weil Krankenhäusern, Seniorenheimen und sozialen Einrichtungen die Zivildienstleistenden abhandengekommen waren. Die Rückkehr eines klassischen Landkrieges nach Europa hat jedoch die Frage nach soldatischem Menschenmaterial wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Doch anstatt diesen Aspekt klar zu benennen und Konditionen wie Folgen zu diskutieren, wenn kommende Generationen deutscher Staatsangehöriger eingezogen werden könnten, flüchtet sich der Minister in schwammige Aussagen nach dem Motto „Lieber alles offen lassen als Klartext sprechen“. Fakt ist: Es fehlt an Nachwuchs in der Bundeswehr. Rekrutierungsversuche fruchteten wenig in den vergangenen Jahren. Das Armeepersonal in den kommenden Jahren auf über 200.000 Menschen anwachsen zu lassen wird wohl scheitern.
Also muss die Bevölkerung ran. Manche hoffen darauf, mit der Wehrpflicht würde die Bundeswehr demokratischer und diverser, andere befürchten, die Gesellschaft werde militarisierter. Vermutlich kann das ausgestaltet werden – aber nur, wenn nicht plötzlich aus der früheren Vernachlässigung des Militärischen ein panisches Primat desselben entsteht. Die derzeitige Konjunktur immer neuer Finanzierungs- und Aufrüstungsbegehren lässt daran aber zweifeln.
Vollmundig hatte die Bundesregierung im Sommer 2023 über ihre Nationale Sicherheitsstrategie angekündigt, den Begriff und die Bedeutung von Sicherheit für die Bevölkerung neu zu gestalten. Von einer integrierten Sicherheit ist dort die Rede, von einem Zusammenspiel militärischer Verteidigung, Cyberabwehr, Strategien gegen Desinformation, Bevölkerungsschutz, humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und diplomatischen Anstrengungen. Von diesen Zusammenhängen ist in diesen Tagen wenig bis gar nichts zu hören. Nicht einmal von einer in sich zusammengeschrumpften Linken, die sich lieber mit sich selbst beschäftigt, als genau auf dieses Defizit hinzuweisen.
Wir leben in Zeiten, in denen der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist. Offenbar ist es notwendig, dies immer und immer wieder zu betonen. Diese Zeiten fordern einen hohen Preis, von jedem Einzelnen. Dazu braucht es aber ein starkes Plädoyer für mehr als Militärdienste und Beschaffung von Kriegsgerät. Demokratie ist nur dann wirklich krisenfest und abwehrbereit, wenn es um mehr als Verteidigung im klassisch-kriegerischen Sinne geht. Die bittere Erkenntnis: In der Putin’schen Logik ist dies längst angekommen. Jüngstes Beispiel sind die diplomatischen Verstimmungen, die die Taurus-Debatte und der Abhörfall in der Luftwaffe – der eigentlich nur ein Skandälchen ist – ausgelöst haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen